Der Tänzer im Rollstuhl

Themenbild
Themenbild(c) Die Presse (Clemens Fabry)
  • Drucken

Ich lehne mich weit hinaus aus meinem Fenster in Schönbrunn. Zu Hause in Wien – was heißt das? Selbst wenn man sich in das Herz der Stadt eingeschlichen hat und dort wohnt, wo der Kaiser lebte – fühlt man sich deshalb zu Hause in Wien? Eine Mauerschau.

Zu Hause in Wien – was heißt das? Selbst wenn man sich in das Herz der Stadt eingeschlichen hat, selbst wenn man dort wohnt, wo der Kaiser zu Hause gewesen ist – fühlt man sich deshalb zu Hause in Wien? Zunächst einmal kann es in diesem Fall nur heißen: zu Hause in Schönbrunn. Nur? Das Wohnen im Schloss ist ja viel mehr als der Besitz einer werbewirksamen Anschrift, die sich so mancher Geschäftsmann zunutze macht. Es ist aber auch mehr als die wehmutgetränkte Vergangenheitsverklärung, wiesie die Nachkommen einstiger Hofbediensteter, die hier in vierter und fünfter Generation leben, gelegentlich betreiben. Es ist vielmehr eine enorme Herausforderung, sich der Gegenwart der Vergangenheit zu stellen, eine, die – wie ich vermute – so lange dauern wird, wie Menschen hier wohnen, hier ihren Alltag verbringen.

Der einzelne Bewohner wird, ob er will oder nicht, zum Schnittpunkt zwischen dem Einst und dem Heute. Indem er das alte traditionsreiche Gemäuer mitseinem alltäglichen Leben füllt, testet er das Vergangene auf seine Tauglichkeit in der Gegenwart. Undwird mit seiner Personund seiner Existenz selbst zum Testfall: Wie besteht er vor der imperialenPracht, die ihn täglich umgibt; was hat es auf sich mit seinem Verständnis von Glanz und Untergangdes Reiches, das sich hier symbolisiert; was zeigt ihm der Blick von hier aus auf die Stadt als Mittelpunkt?

Ich lehne mich weit hinaus aus meinem Fenster in Schönbrunn. Alle Lichter sind an. Der berühmte Platz, der Ehrenhof vor dem Schloss, leuchtet in dem ihm gebührenden Glanz. Strahlend erhebt sich das Schloss aus dem Dunkel, wie ein erleuchtetes Schiff auf dem nächtlichen Meer durchschneidet es die tiefe Schwärze des Parks. Dahinter, von oben wie ein ferner Abglanz am Himmel, ahnt man die Gloriette. Das ist Schönbrunn bei Nacht.

Ich habe so viel nachgedacht über den Tod, sagt die alte Frau im Park, und ich habe ihn noch immer nicht begriffen. Ich bin bescheidener. Ich habe so viel nachgedacht über Wien, und ich habe die Stadt noch immer nicht begriffen. Ein Trost: Andere haben es auch nicht. Zwei große Unverstandene also: Wien und der Tod. Wenn man dem Mythos über Wien glaubt, gehören beide zusammen. Wieso nur? Gestorben wird auch in Ulm. Liegt es daran, dass Wien ständig in Agonie liegt – oder der Tod hier hineingeredet oder hineingeschrieben wird?

Die Vergangenheit zum Beispiel. Über die ein intimer Kenner, der Dichter Alexander Lernet-Holenia, der überdies eine Wohnung in der Hofburg hatte, sagt, dass es zum Wesen des „k. u. k.“ in Österreich gehöre,bereits tot zu sein, ohne es zu wissen. Wann aber hat sie je gelebt? Wann hat die Vergangenheit begonnen, war sie überhaupt je Gegenwart? Einfacher zu beantworten: Wann hat sie aufgehört zu existieren? Auf keinen Fall nämlich 1918, an ihrem offiziellen Ende. „Vielmehr lebt sie heute noch in jedem österreichischen Beamten, in jedem Briefträger und Rekruten, in der Inappellabilität der Koalition, in den weltweiten Zielsetzungen des Industriellenverbandes und in dem ebenso weltweitenRuf von Gemütlichkeit, in den sich das manchmal sehr ungemütliche Wienzu setzen gewusst hat.“ So Lernet-Holenia vor mehr als 50 Jahren. Seine Worte gelten noch. Ein Totes, das immer schon da war und bis heute weiterexistiert – kann man darin zu Hause sein? Eine eindeutige Antwort darauf gibt es nicht, das sagt mir ein Blick aus dem Fenster. Ist das vielleicht die Wirklichkeit, in der man sich sein Leben einrichten kann, oder ist es nicht vielmehr eine Filmkulisse, aufgebaut vor langer Zeit und stehen geblieben, um zu jeder Gelegenheit die publikumswirksamen Spektakel abzuspielen? Und bin ich vielleicht, hinter meiner Fensterscheibe, auch nur ein Komparse in dem alten Spiel?

Angst vor der Zukunft? Ich glaube nicht, dass die Angst hier größer ist als anderswo, aber die Vielfalt der Mittel, sie zu verdrängen, ist es zweifellos. Was bringt schon die Zukunft? Den Tod bringt sie. Und was das Schlimmste dabei ist: Ich muss gehen, und der Wein wächst weiter, das heißt, für die anderen wächst er. Das ist schon der ärgste Graus. Man würde viel leichter Abschied nehmen vom Leben, wenn damit auch die ganze Pracht ein Ende hätte. Aber so? Die Hoffnung auf eine Wiedergeburt als Reblaus ist da doch ein wahrhaftig lausiger Trost. Nein, „der Wiener“ ist kein Zukunftsmensch. Das freilich ist auch der Grund, warum er mit der Gegenwart so seine Schwierigkeiten hat. Der Gedanke, dass sie jeden Augenblick vorbei sein kann, der lässt ihn nie los.


Mit der Vergangenheit ist es da schon anders, die ist ihm sicher, an der lässt sich nicht mehr rütteln, vorbei ist vorbei, alles ist hin, der Wiener macht ein Lied draus, ein lustiges, denn er weiß, was hin ist, „hinig“. Das hat er schon gehabt. Es ist vergangen, und ich hab's überlebt. Das zeigt ihm der Blick zurück. Wenn er sich dagegen hier und jetzt umschaut, da ist nicht ausgemacht, wer überlebt. Der nächste Augenblick schon kann mich hinwegnehmen, und das, was meine Welt war, wird bleiben, obwohl es nicht mehr meine Welt ist.

Nun muss man sagen, der Wiener hat auch gut leben mit der Vergangenheit, die ihm schließlich ein Erbe hinterlassen hat, das seinesgleichen sucht. Zwar werden viele der Prachtbauten und Paläste in Wien noch genutzt, weniger privat als von Wirtschaftsunternehmen, von der Stadt und dem Bund selbst, ein großer Teil aber dient dem Tourismus und schleust unaufhörlich besichtigungswillige Reisende aus der ganzen Welt durch die Räume, ein anderer Teil der pompösen Gebäude ist allerdings dem Untergang preisgegeben und verfällt.

Doch es sind nicht nur diese sterbenden Gemäuer, die dem Wiener als sichtbares Zeichen seiner Lebensphilosophie dienen. Theatrum mundi, zur Schau gestellte Vergangenheit, der passende barocke Rahmen – das alles eröffnet mir auch der Blick durch mein Fenster. Am Tag gleicht keine Minute der anderen. Ich brauche keine Menschen im Bild, nicht einmal Vögel, nicht einmal denWind, um die Veränderung wahrzunehmen. Das Licht macht's, hier kann man begreifen lernen, wie wichtig die Kunst des richtigen Beleuchtens auf der Bühne ist. Wie eine winzige Nuance heller oder dunkler Erschaffung oder Zerstörung einer Welt bedeutet.

Der Platz vor meinem Fenster ist niemals wirklich dunkel. Die großen vierarmigen Kandelaber, die beleuchteten Brunnen, die angestrahlte Schlossfassade machen ihn, sobald es Abend wird, zur Kulisse. Wenn ein Mensch durchs Bild geht oder ein Auto über den Platz fährt, bewegen sie sich auf einer Bühne. Das ändert sich mit dem ersten Lichtstrahl, der am Morgen den Platz trifft. Da gibt es diesen einen Moment zwischen Nacht und Tag, es ist nur eine Sekunde, der Platz schlägt die Augen auf und ist lebendig. Kein Vogel bewegt sich noch durchs Bild, kein Mensch lässt sich blicken – und doch ist der Platz zum Leben erwacht.

Jetzt wird es spannend. Das ist der Moment, wo ich an meinem einsamen Beobachterposten Wetten mit mir abschließe: Wer kommt zuerst? Wird die grellfarbene Mütze eines frühen Joggers vorbeiflitzen, oder ist es der gemessene Gang einer zur Frühmesse gehenden Nonne, der mein Blick folgt? Jogger und Nonnen, sie gehören zur Stammkomparserie dieses täglichen Spektakels ohne Töne. Die beiden Enden einer Kette, die sich jeden Tag neu fädelt, verschlingt, löst und mit immer neuen Formen überrascht. Zwei Gegensätze: das eine Ende bunt bis grellpoppig, beweglich, ungeduldig, fortstrebend, wild entschlossen, mit starrem Blick das Soll des Tages zu erfüllen; am anderen Ende die schwarz-weiße Behäbigkeit in gelassenen, ruhigen Bewegungen, die strengen Augen zu milden Blicken zwingend, mit festem Schritt auf vorgeschriebenem Weg.

Zwei Jogger sind es heute, ein Mann und eine Frau, eine rote und eine gelbe Mütze wischen vorbei, sind im Nu wieder aus meinem Blick. Danach ist der Platz leer. Keine Nonne heute. Einsam und unverdrossen streckt der Brunnenheilige seinen Fuß ins Dämmerlicht. An den Rändern wird es hell. Irgendwann beginnt das Gelb der Gebäude zu leuchten. Das Kaisergelb. Längst ist die Sonne des Reichs erloschen, scheinbar unvergänglich liegt ihr Abglanz auf den Gebäuden. Da schaut der Wiener gut hin. Es darf nicht jedes Haus im Schönbrunnergelb erstrahlen. Das bleibt dem Kaiser und seinem Umkreis vorbehalten. Auch wenn es sie alle lange nicht mehr gibt.

Sobald das Gelb zu leuchten beginnt, wird auch das dunkle Grün der Fensterläden sichtbar. Unfassbar, dass die Kaiserin Maria Theresia, unter deren Herrschaft der Bau des Schlosses fertiggestellt respektive erweitert worden ist, ihre Sommerresidenz rosafarben anstreichen ließ. Ein Zuckerbäckerschloss. Ich bin froh über das Gelb. Denn welche Farbe könnte die Grazie und die Heiterkeit dieses Baues besser zur Geltung bringen!


Apropos Maria Theresia. Mit ihrer Gestalt belebe ich in meiner Vorstellung den Schlosshof. An Behäbigkeit nicht hinter den Nonnen zurückstehend, an Beweglichkeit sie aber weit übertreffend. Ich stelle sie mir vor, wie sie, ihr Schreibpult wie einen Bauchladen umgeschnallt, im Schatten der Bäume auf und ab ging, Notizen machend, dem Schreiber neben ihr diktierend oder eines ihrer vielen Kinder, die über den Platz tollten, zur Ordnung rufend. Für ihre große Familie hatte sie im Hauptgebäude einen Zwischenstock einziehen lassen – 16 Kinder und drei eigene Zimmer für jedes –, über den Prunkräumen, weshalb dieser Stock nicht vermietet wird: Ein Wasserschaden in einem der Zimmer wäre eine zu große Gefahr für die darunterliegenden prachtvollen Säle.

Ja, die Kinder. Sie gehören zum Herzstück der alltäglichen Choreografie des Ehrenhofes. Im vorderen Teil des Eingangsbereiches ist ein öffentlicher Kindergarten untergebracht. Wenn am späteren Vormittag die lange Reihe roter Zipfelmützenzwerge den Platz in Richtung Park überquert, so gehört das zu den bezauberndsten Eindrücken meines am Fenster zugebrachten Morgens.

Theatrum mundi: Lange bevor die Kinder kommen, setzt es ein – i turistici. Den Anfang machen stets die Japaner. Sind Japaner Frühaufsteher, oder sind es einfach so viele? Jedenfalls verdanke ich ihnen, zumal im Sommer, Bilder von impressionistischem Charme, die sich reizvoll in den barocken Rahmen einfügen. Die Japanerinnen, meist ältere Frauen, haben Sonnenschirmchen aufgespannt und trippeln, einander zulächelnd und nickend, fröhlich durchs Bild. Die dazugehörigen Männer durchweg graue Beigabe, stummer Hintergrund für das aufgeregte Gezwitscher. Wie anders dagegen die Jungen! Hier herrscht amerikanisches Gleichmaß. Plastik von oben bis unten, einwärts gedrehte Füße in Turnschuhen, nichts mehr von Grazie, nur das Kichern ist das gleiche.

Theatrum mundi. Schönbrunn gehört zu den meistbesuchten Sehenswürdigkeiten der Welt. Also kommt die Welt täglich hierher. Hier in „seinem“ Schloss, auf den vorgeschriebenen Wegen, an fast jedem Tor abkassiert – so ist dem Wiener jeder Fremde willkommen. Hier ist k. u. k., was es nie so war, wie man das heute sehen möchte: friedliches Miteinander aller Nationen.


„Du hast sicher einen Euro.“ Der vielleicht 18-Jährige setzt sich mit breitem Grinsen neben einen älteren Mann. Es ist 23 Uhr, der Waggon der U4 rollt zwischen den Stationen Meidlinger Hauptstraße und Schönbrunn. „Zwei Euro für ein Bier!“ DerTon stellt klar, das ist eine Forderung. Die anderen Passagiere sehen zu Boden oder aus dem Fenster. Das wird ungemütlich, und ich versuche, mit ein paar beruhigenden Worten zu vermitteln – was mirein „Schleich di, du oida Hurna!“ einträgt. Nun erklärt der Angegriffene, dass er für den Bierkonsum des Jungen nicht zuständig sei. Zack! Als Antwort bekommt er einen Schlag von hinten mit der Faust auf den Kopf.

Als er nun doch seine Brieftasche öffnet, greift der Junge nach den Geldscheinen. Reflexartig zieht der Mann die Geldbörse zurück. Diese Aktion quittiert der Jugendliche mit einem Faustschlag mitten ins Gesicht. Die U-Bahn hält in Schönbrunn, der Mann taumelt mit blutender Nase auf den Bahnsteig und schreit: „Polizei!“ Das wird von den Fahrgästen mit einer Mischung aus Neugier und Faszination bedacht.


In Schönbrunn wurde der Kaiser geboren, in Schönbrunn starb er. Je älter Franz Joseph wurde, desto häufiger verlegte er das Zentrum seines Regierens von der Hofburg hierher. Wirkennen die Bilder seiner Ankunft aus Ischl, der immer in Uniform Gekleidete der Kutscheentsteigend, manchmal den Kronprinzen neben sich. Die Kaiserin erscheint in diesem Bild viel seltener, als es die sisisüchtige Nachwelt haben will. Elisabeth mag das alles hier nicht, nur die Hofburg ist ihr noch verhasster. Und mit der Katharina Schratt in nächster Nähe hat sie dem Kaiser ja auch einen guten Ersatz geschaffen. Ja, man braucht nicht besonders viel Fantasie, um sich den Kaiser hierher zu imaginieren.

Ich muss mich auf meinem Stuhl nur umdrehen und aus dem gegenüberliegenden Fenster blicken, dann habe ich die Wagenburg im Bild, in der die kaiserlichen Gefährte zu all den verschiedenen Anlässen ausgestellt sind – Krönungs-, Hochzeits- und Begräbniskarossen, prachtvolle Sänften und Schlitten aus mehr als zwei Jahrhunderten. Dagegen nehmen sich die Kutschen, die heute den Ehrenhof vor dem Schloss und den Park durchqueren, sehr bescheiden aus. Aber es gibt sie. Einmal wie der Kaiser in den Schlosshof einfahren, das ist schon was.

Wien und seine Fiaker. Ach, ausschauen tun sie ja, als seien sie gerade aus einem der alten Hans-Moser-Filme herausgetreten. Tatsächlich aber sind sie alle in der Taxi-Innung organisiert, sie müssen eine Fuhrwerkkonzession besitzen und seit einigerZeit auch Absolvent einer speziellen Fiakerschule sein.

Natürlich wissen sie ganz genau und können es zweifellos auch präzise mit Zahlen belegen, welch wichtigen wirtschaftlichen Faktor sie in der österreichischen Tourismusbranche darstellen. Doch ich bin sicher, die zur Schau gestellte Überlegenheit ihres Auftretens hat noch eine andere Wurzel. Sie verkörpern, wie vielleicht nur noch einige wenige Kaffeehauskellner, die ganze Widersprüchlichkeit der Wiener Seele. Die es nämlich fertigbringt, sehr ordentlich und profitlich „am Rande des Nichts“ zu leben. Das ist die alles überragende Fähigkeit des Wieners: sich in einer nicht (mehr) vorhandenen Welt sehr kommod nach seinen Bedürfnissen einzurichten.

Nur am Rande des Nichts kann er das, so möchte man hinzufügen, und er tut es mit einem durchaus realistischen Sinn für seine Vorteile. Der Wiener ist das Gegenteil eines nostalgischen Romantikers. Mit seiner Widersprüchlichkeit ist er ein äußerst geschickter Verwalter seines großen Erbes. Indem er es ökonomisch ausschlachtet, gibt er ihm eine zwar banale, aber sehr wirkungsvolle Legitimation für die Gegenwart. Genau genommen interessiert ihn nur zweierlei. Zum einendie Geschichte, weil sie der sicherste Ort ist, den es gibt auf dieser unsicheren Welt. Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, was geschehen ist. Wichtig ist, dass es vergangen ist, denn nur die Vergangenheit entzieht sich der Vergänglichkeit. Das istdas eine. Das andere, nichtminder Großartige, ist die Tatsache, dassdiese Vergangenheit Zeugen und Zeugnisse hinterlassen hat, aus denen sich Geld machen lässt. Dass diese Haltung nicht eben einen respektvollen Umgang mit der Geschichte fördert, davon kann sich jeder Wien-Besucher überzeugen.

Ein Chronist unserer Tage, Nicht-Wiener, aber Wien-Kenner, der Schweizer Christoph Braendle, sieht es wie folgt. Er ist mit Freunden, Wien-Besuchern, unterwegs auf einer Sightseeingtour. „Bildung, weiß man, hebt den Menschen übers Vieh. Der Kutscher saß denn auch deutlich über den Kruppen der zwei Gäule, die den Wagen zogen, in dem wir gemütlich saßen. Die schwarze Melone und die lange Peitsche verliehen dem Kutscher Würde und Überlegenheit. Er wies mit großer Geste auf die Sehenswürdigkeiten hin: Dieses Denkmal erinnert, so belehrte er auf dem Hohen Markt, an die Hochzeit der Kaiserin Maria Theresia mit Kaiser Franz Joseph! Den Einwand, dass die eine im 18. Jahrhundert, der andere von 1830 bis 1916 gelebt habe, vertrieb der Kutscher mit einem Zungenschnalzen, das alle Herablassung der Welt in sich barg. Der Beruf des Fiakers, dozierte er, ist über jeden Zweifel erhaben, man muss nicht nur die Pferde durch den dichten Verkehr der Ringstraßen führen, man muss auch die dämlichen Fragen von Touristen erdulden, die eh alles Ausländer san.“


Es wird Abend. Ganz schräg fallen die letzten Sonnenstrahlen über den Platz. Ihr Licht reicht nur noch für ein kleines Geviert direkt vor der Schlosstreppe. Der übrige Raum ist schon vom Dämmer erfasst. Der Platz ist leer, es ist die Zeit des Nachtmahls, bald werden die Tore geschlossen. Da nehme ich eine Bewegung wahr. Ich kann nicht erkennen, woher sie kommt, bis sie sich zum Licht fortgesetzt hat. Es ist ein junger Mann, der, sobald er den Platz vor der Treppe erreicht hat, sich im Licht zu drehen beginnt. Es ist nicht der erste Tanzende, den ich auf dem Schlosshof beobachte. Ich habe gesehen, wie sich bei den sonntäglichen Schlosskonzerten,bei zündenden Märschen oder schwingenden Walzern, ganze Gruppen in Bewegung setzten, wie junge Leute, die Stöpseln ihres iPod im Ohr, die Weite des Raums nutzten und mit zuckenden Bewegungen kreuz und quer schossen und wie ein junges Liebespaar seine graziösen Bahnen zog, locker und leicht, wie über Eis, nicht über Kies.

Der junge Mann hier sitzt im Rollstuhl, und einen tanzenden Rollstuhlfahrer sehe ich zum ersten Mal. Ein junger Mann in einem jener leichten Stühle, die fast nur aus Rädern bestehen und unglaublich wendig sind. Richtige Kunststücke vollbringt er damit, balanciert, indem er das Vorderteil hochreißt und sich um sich selbst dreht, weiterrollt, wieder eine Volte schlägt, den Rollstuhl kippt und sekundenlang halb in der Luft stehen lässt. Dann fährt er wieder Schlangenlinien, in steigender Geschwindigkeit, dreht eine letzte Pirouette und verschwindet im Dunkel.

Erst jetzt merke ich, dass die Sonne verschwunden ist, bald wird es Zeit sein, das Licht einzuschalten, zu Hause in Schönbrunn. ■

Geboren 1943 in Frankfurt am Main. Studium der Literatur- und Theaterwissenschaft. Dr. phil. Promotion über Illusion und Wirklichkeit im dramatischen Werk Arthur Schnitzlers. In der Reihe „Friedrich Dramatiker des Welttheaters“: „Albert Camus“. Journalistin, Literaturkritikerin. Arbeitet für deutsche und österreichische Medien. Lebt in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.