Kraus 2.0

Karl Kraus
Karl Kraus (c) Anonym / Imagno / picturedesk.co (Anonym)
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#kraus #sprachkritik #jaund? Wäre er heute wirklich Blogger? Schaute er auf Selfies streng? Und würde er auf Facebook wegen Hasspostings gesperrt? Zum 80. Todestag von Karl Kraus.

Was der selige Karl Kraus wohl dazu gesagt hätte – bei diesem Lieblingsratespiel der auch hundert Jahre später unverdrossen vor sich hinfeuilletonierenden Meinungswurlitzer istKraus dankenswerterweise von ThomasBernhard abgelöst worden, über den jener vermutlich nichts, und wenn doch, dann nichts Gutes, dies aber so gut gesagt hätte, dass er sich der Verachtung durch die Gemeinschaft der Gläubigen sicher wäre. Somit wandert der unangeforderte Scheinheiligenschein der Erhabenheit auf eine Glatze, die esverdient, und Kraus kann auf ehrliche Weise vergessen werden, oder aber verabscheut wie eh und je. Denn bei der gespreizten Bewunderung für den grrrooßen Krrraus durch Menschen, die mit dem herkömmlichen Kulturfraß in ihre geistige Missgestalt gepäppelt wurden, kann es sich nur um einen Irrtum handeln.

Karl Kraus, verkünden Online-Redakteure feierlich, wäre heute mit Bestimmtheit Blogger. Mit derselben Bestimmtheit, ließe sich mutmaßen, mit der Jesse James Hacker und Hemingway Hipster wäre. Ein Volltreffer in eine Zielscheibe, so groß wie die Verantwortung eines Chefredakteurs, nie den Gott der Aktualität zu erzürnen. Und wollte man beim Spiel der Mutmaßungen mitmachen und glaubte man nicht, dass die Kulturkritikschon alles über die regressive Schnitzeljagd nach Trends und Up-to-Dateness gesagt hat, die vor allem alternde Jugendliche schnell alt aussehen lässt, weil was am Morgen Mustwar, abends schon No-Go sein wird und nichts spießiger ist als Oldies, deren Adidasstreifen aus den Nineties so morsch sind wie Rokoko-Kostüme aus der Kapuzinergruft – dann könnte ein wiedererstandener Kraus noch einige Erkenntnisse dazu beisteuern.

Kraus wäre Blogger, aber kein Blogger ist Kraus. Da dieser fiktive Kraus 2.0 ohnehin eine Wunschvorstellung ist, ließe sich von ihm wünschen, dass er nicht mit Kulturpessimisten und Maschinenstürmern heulte, sondern mit didaktischem Gleichmut versuchte, die geistigen Sauereien, die Neue Medien und soziale Netzwerke angerichtet haben, zugunsten von deren Möglichkeiten auszubügeln. Und es ist gar nicht schwierig zu erahnen, was ein Kraus-Wiedergänger kritikwürdig fände: das Prätentiöse all der Faktenchecks, die witzlose Meinungs- und Bekenntnisprosa, den vorherrschenden Ton des Unverbindlich-Kommunikativen sowie ein Phrasengestrüpp, das seit Kraus' erstem Leben keine Schere gesehen hat und dessen Wuchern kein Normalsterblicher mehr beikommen kann.

Er müsste ganz von vorne anfangen, mit der tausendfach geäußerten und abgewandelten Erkenntnis, dass das Bemühen um sprachliche Brillanz nicht Eitelkeit, sondern Demut vor der Sache bedeutet, im Gegensatz zur Instrumentalisierung der Sprache zur bloßen Verständigung, die sich einen demokratischen, antielitären Anstrich geben mag, aber von der Gier nach Gratifikation diktiert und deshalb die purste Form der Eitelkeit ist. Er würde merken, dass der gelungene Text als Kunstwerk nicht nur nicht mehr erkannt wird, sondern sichsogar als stilistische Tollpatschigkeit den vegetativen Standpunktverortungen des Bloggertums unterordnen müsste und dassJournalisten und Kulturfunktionäre die klickendeMasse gar nicht mehr dazuaufstacheln müssten, ihn nicht zu liken. Die einzige Chance, am kritischen Diskurs teilhaben zu dürfen, bestünde für ihn darin, in Talkshow, Interview und Podiumsdiskussion die eigene Sprachkomposition in Alltagssprache zu übersetzen, das Bauwerk zu schleifen, um die User mit dessenZiegeln per Haus zu beliefern, Fakten und Meinungen aus dem saftstrotzenden Fleisch der sprachlichen Schöpfung zu schlitzen und dabei erwartungsgemäß so ungelenk zu sein, dass sich die allgemeine Ahnung bestätigt, der Sprachschöpfer sei ja doch nichts als ein Hochstapler und sein Sprachspiel Angeberei.

Sehr viel Nachsicht müsste Kraus 2.0 mit einer sich doch in erstaunlichem Ausmaß politisierenden Jugend haben, deren ehrlicher Veränderungswille leider daran scheitert, dass ihr Bewusstsein auf Phantome und Surrogate konditioniert ist. Angesagt bleibt, was eingängig ist und den jeweils eigenen Verblendungsgrad spiegelt, öd ist, was einem zu viel abverlangt. Durch und durch sind selbst die Kritiker des Neoliberalismus neoliberal versaut, und nur ein geistiger Exorzismus vermag die Ahnung von Spontaneität und Autonomie wiedererwecken, bis dahin ist ihr Widerstand ein folgenloses Anrennen von Untoten gegen ein System, an dessen Marionettenfäden sie leblos zappelnd hängen und das sie, damit sie sich nie selbst bewegen lernen, mit unendlich vielen Informationen und vegetativen Reizen galvanisiert. Jede neue Wahrnehmung, jeder neue Inhalt wird unbewusst nach den marktgängigen Formaten, Symbolen und Features gefiltert, die auch bei der Demo und im urbanen Gemüsebeet nicht aufhören, das Bewusstsein zu strukturieren.

Ein psychologischer Schlüssel dafür, warum Kraus' Texte als unverständlich, seine Polemiken als skandalös, sein Duktus alsnarzisstisch empfunden würden, liegt in der zwingend narzisstischen Verfasstheit einer Gesellschaft, die ihre Mitglieder für deren immerwährende Verdinglichung und Entmündigung durch die Illusion freier Wahl entschädigt.

Die Menschen können nichts als wandelnde Wunden sein, nicht nur von Welterfahrung, sondern auch der Fähigkeit zu dieser abgeschnitten, bedürfen sie permanenter Selbstbestätigung, um den klaffenden Spalt zwischen Schwundform und Wunschbild von sich mit Likes zu füllen. Richard Sennett hat den Verlust der gesellschaftlichenErfahrung durch Verinnerlichung und den „Zwang zur Intimität“ innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert nachgezeichnet. Seit der Phase, die allgemeinals die neoliberale aufgefasst wird und mit dem Siegeszug des World Wide Web und dessen Möglichkeiten imaginärer Gemeinschaften einhergeht, hat sich dieser Prozess aber inunvorstellbarem Ausmaß beschleunigt.

Der auf Facebook abgeschobene und unentwegt Petitionen unterklickende Citoyen hat gesellschaftlich nichts zu sagen, seine Ohn- wird aber in Allmacht verwandelt durchdie Möglichkeit, selbst zu voten, was sein darf und was nicht; das tägliche Plebiszit als Demokratiepersiflage, Marketingforschung und Spionage. So wäscht der Bewusstseinsmarkt die Hände in finsterer Unschuld und macht die User zu Managern ihrer eigenen Verblödung. Die Rechnung ist erschreckend einfach: Alles, was den Konsumenten an seine Defizite erinnert, wird ausgesiebt, was ihn mit Wiedererkennungseffekten, reibungsloserNachvollziehbarkeit und Identität belohnt, darf bleiben. Was früher Medien und Kulturbetrieb erledigen mussten, mit mühseligen Verleumdungs- und Totschweigekampagnen,erledigt die kritische Verschubmasse nun selbst in Form eines elektronischen Ostrazismus. Ist ein Text zu sperrig, zwingt er zum Mitdenken, jenem kurzen Aufblitzen der Freiheit, wird weitergescrollt und weggewischt. Wie in einem Computerspiel können die Gefangenen selber ihre potenziellen Befreier abknallen und die Gefängniswärter früher nach Hause gehen. Wo dem Menschen kein anderer Wert als der des Konsumenten beikommt, muss auch die Welt des Geistes, deren Grenzen auszureizen einzig Reife und Autarkie versprach, in den Dienstleistungssektor outgesourct werden.

Nichts drückt dies erschütternder aus als die Phrase von den Texten, die einen abholen.Nicht wir sollen uns um Wahrheiten bemühen,sondern diese mit dem jeweils günstigsten Schnäppchenpreis um uns. Denn der Kunde ist König und die Wahrheit ein Taxiunternehmen: Das je billigste wirft die anderen aus der Bahn. Aber wehe, jemand schreibt Texte, die einen gar nicht abholen wollen. Vor 70 Jahren noch hat man den abgehobenen jüdischen Intellekt, der einen auch nicht abholen wollte, abholen lassen. So weit würde man heute nicht mehr und noch nicht gehen, aberals Rute im Fenster jener, die sich frech über unser Verständnis erheben, taugt es allemal. Man braucht sich die Finger nicht mehr schmutzig machen: Säuberlich und diskretentfernt die unsichtbare Hand des Marktes die Abholfaulen aus den Servicezonen des Geistes. Mama, warum bin ich eine so uninteressante Persönlichkeit? Weil du dich immer nur hast abholen lassen . . .? Undso sehen die politisch wiedererstandenen Davidsvon heute den wegen Widerstandslosigkeit ins Unendliche gewachsenen Goliath nicht mehr, aber sie verwechselnden Dreck unter seinenZehennägeln mit einer Humusparzelle und säen sogleich Chia-Samen darauf.

Völlig verloren gegangen ist im Zeitalter der Digital Choice die Fähigkeit zum Verstehen des Paradoxes, geschweige denn, Genuss an ihm zu finden. Nicht einmal als Aufklärungsdrohne käme dasParadox infrage. Denn es jongliert mit Möglichkeiten. Es zwingt uns, diesem Spiel zu folgen. Und es zeigt uns, dass wir ihm nicht gewachsen sind. Die Kinder von heute knallen Peter Pan vom Fensterbrett und gehen wieder zum Tablet zurück, wo ihr ganzes Wesen weiter darauf eingeschworen wird, zuzustimmen oder zu schweigen. Aus diesem Biotop muss das Paradox vertrieben werden wie eine verirrte Fledermaus.

Die Ächtung der Polemik ist Auswuchs desselben Kollektivnarzissmus. Polemik provoziert ein permanentes psychiatrisches Gutachten. Dass jemand auf andere schimpft, kann man gut nachvollziehen, dass er es mit Geist und Witz tut, also eine kunstvolle Form dafür findet, ist unverzeihlich, denn ist Ersteres als impulsives Dampfablassen jedermanns Sache, so zeugt die Berechnung des besten sprachlichen Effekts doch von Berechnung und folglich von einem miesen Charakter. Nichts wirkt heute befremdlicher als die einstmalige Kunst der Polemik und der Invektive. Polemisch gilt unter den publizistischen Langeweilern als Pejorativ, als Synonym für unsachlich und subjektiv verbohrt, während ihre Einerseits-Andererseits-Waage nach demseriösen Abwägen der Argumente doch erstaunlicherweise immer das konforme Einerseits mehr wiegen lässt, so als würde unsichtbare Zauberhand ein gewichtiges Dividendchen aufs Schälchen legen.

Haben sich hier wirklich die zivilisierten Umgangsformen einer kommunikativen Ethik durchgesetzt? Nichts wäre dagegen einzuwenden, würde es bloß stimmen. Im herrschaftsfreien Diskurs vibriert die ethisch verbrämte Angst mit, die demokratischen Henker könnten, sobald wir ihnen wehtun, ausnahmsweise uns und nicht wie täglich sonst den Menschen aus den Ersatzteilländern wehtun.

Die Ritterlichkeit des respektvollen Umgangs der Ohnmacht mit der Macht aber ist Ausdruck der Selbstüberschätzung. Nicht wahrhaben will die Ohnmacht nicht nur ihr Wesen, sondern dass die Macht dieses Spiel des egalitären Diskurses bloß so lange mitspielt, bis der Selbstbetrug der demokratischen Harmonie auffliegt und sich als Residue jener Nachkriegskonjunktur erweist, die voreilig die Knorken knallen ließ, um das Ende der Geschichte zu feiern – dieses Ende aber wird mit Stacheldraht, Atombomben und Hungersnöten gefeiert werden.

Die Intellektuellen, die auf den Angriff verzichten, wollen nicht wahrhaben, dass die eingebildete Augenhöhe in aufgemalten Augen auf den Zehenkuppen dieser Macht besteht und sie mit ihren Ordnungsrufen gegen alle,die zu gewitzt und beherzt ihr widerstehen, bloß die Chimäre einer ausgewogenen Mitte aufrechterhalten, die stets die Funktion hatte, die falsche Ordnung zu stabilisieren. Mit traurigen Parodien Goethe'scher Gelassenheit undzarter Ironie verdienensich die Intellektuellen der seriösen Mitte ihre Altersvorsorge. Sie sind dazu dressiert, geistige Reife zu mimen und jenen Kontrast zu halten, durch den alle, die nicht mitspielen, als daueradoleszente Spinner erscheinen sollen.

„Als jammernde Anklage“, schrieb ich in meinem „Neuen Wörterbuch des Teufels“, „wird Kritik gerade noch geduldet, als Bescheidung auf Teilprojekte gefördert, als schrulliger Prediger- und Prophetenhabitus gütig belächelt, als moralische Entrüstung mit Menschenrechtspreisen behangen und wie ein folgenloses Korrektiv zur Unmenschlichkeit des Systems gestreichelt. Wehe aber, sie wagt sich unbeeindruckt, verächtlich und formvollendet den Verhältnissen entgegenzustellen, als Einheit von wissenschaftlicher Analyse, künstlerischer Brillanz und zersetzendem Witz. Wie fauchende Vipern stürzen zuerst die alternativen Lebensentwürfe sich anstatt auf das System auf ihre unliebsamen Konkurrenten. Einer der Gründe, warum alles beimAlten bleibt, ist die Ächtung einer Kritik, welche die Illusionen der Kritiker mitkritisiert und diesen zeigt, dass sie auch nurbunte Rostflecken auf der Maschine sind und sich dort insgeheim kleidsam fühlen. Wahrheit schmerzt,sonst wäre sie keine.“ – Man sieht nur, was mankennt, sagt Goethe, und die egomanen Monaden, die beim besten Veränderungswillen keine Gesellschaft zusammenbringen werden, können nur die Selbsterhebung des Kritikers sehen, nicht aber die Substanz seines Podests, und in seinen gesellschaftlichen Motiven nur die Rationalisierung seiner vermeintlich persönlichen. So kann die Macht, die tagtäglich kränkt, mordet, ächtet, verdummt und Lebensgrundlagen vernichtet, in einer Art diskursivem TTIP- Abkommen durchsetzen, treffende Kritik an ihr als seelische Kränkung klagbar zu machen.

„Hass muss produktiv machen, sonst ist es gleich gescheiter zu lieben“, so heißt das Programm von Karl Kraus. Jede Beleidigung, jeder An- und Untergriff, der nicht Kunststück, von Reflexion, Witz, Humanität gedeckt ist, wird zu Recht geahndet, das unterscheidet gute Polemik von Wutbürgertum, vom unartikulierten Aufschrei, von derbem Pöbeln. Gute Polemiker sind Gentlemen oderGentlewomen, schlechte Polemiker Lumpen. Nur geschultes Bewusstsein kann das unterscheiden. Doch wo sind die Schulen, die es lehren? Karl Kraus wäre die beste.

Somit kommen wir zum Ende der Spekulationen über einen Karl Kraus unserer Tage und wie er sich wohl machen würde. Die Antwort ist leider entmutigend. Dieselben, die Kraus gleich einem Braveheart der kritischen Katharsis aus dem Jenseits rufen, würden dessen Wiederkehr bald bereuen und Rache nehmen, und einer Mel-Gibson-Dramaturgie gliche seine Wiederkehr, aber nicht „Braveheart“, sondern eher der „Passion Christi“ oder „Apocalypto“. Getreten, geschunden, bespuckt würde er zum Autodafé gezerrt, wo er unter Androhung weiterer Martern bekennen müsste, ein Psychopath zu sein, chronisch unreif, priapisch pervers und impotent zugleich, neidisch und missgünstig, abgehoben, arrogant, elitär, pathologisch eitel und selbstgerecht, egoistisch, unfair,seine Literatur verschwurbelt, redundant, effekthascherisch, aufgeblasen, antiquiert, holprig und – unredigiert. Doch damit nichtgenug: Mit dem Blut seines Herzens müsste er eidesstattlich erklären, dass der gesamte Scheißdreck von 24.500 Seiten, den ersich zeit seines Lebens zuschulden kommen ließ, in allem weit unter jedem einzelnen Satz der Nichte des OberstenInquisitors stehe, der jungen Erfolgsautorin Conny, die der Zeit gemäß schriebe, deren Video von ihrem Poetry Slam vor Refugees schon 40.000 Likes hätte und die mittlerweile jeder notgeil alternde Chefredakteur der Kulturressorts von Kiel bis Graz insgeheim interviewen möchte. Und dem Angeklagten nützte der Heroismus der Verweigerung gar nichts, da sein Beispiel unter Ausschluss der Öffentlichkeit nicht Schule machte und niemand davon erführe.

Ein neuer Kraus muss her, rufen also die, die einen solchen als Erstes vernichten würden. Doch er schläft nicht im Untersberg, um dereinst wiederzukehren. Er hat Kinder gezeugt. Gar nicht wenige sogar. Am schlechtesten gedeihen sie – wenn man von Michael Scharang absieht – in Wien, wo Geist und mit ihm Witz verdunstet ist und nur der Schlamm der Witzigkeit zurückblieb. Doch in Hamburg führt Hermann Gremliza als Herausgeber derZeitschrift „Konkret“ seit Jahrzehnten Kraus' Kunst in seinen Glossen und Leitartikeln fort. Vom Epigonentum unterscheidet Gremliza, dass er die Jargons seiner Zeit nicht scheut – und wie Kraus parodiert oder geschickt gegen ihre Sprecher wendet. Das verbäte sich der Epigone in seinem Japsen nach Kraus'scher Erhabenheit: Weil er zwischen der Dummheit zeitgenössischer Jargons und ihrer klugen Umdeutung nicht unterscheiden kann, meidet er sicherheitshalber beides und friert die Art, wie Kraus damit umging, zur ahistorischen Norm fest.

Dass Gremliza all die Jahre einer der am meisten gelesenen und am meisten verheimlichten Publizisten Deutschlands war, versteht sich von selbst. Und wie sein Lehrmeister hielter der eigenen Marginalisierung wacker stand. Die einen schreiben diese seiner „linksradikalen“ Gesinnung zu, die anderen seiner Unhöflichkeit, weil er mit den medialen Handlangern der Herrschaft keinen herrschaftsfreien Diskurs pflegt. Die schreckliche Wahrheit dürfte aber darin liegen, dass Gremlizas Legierung von Witz, Eleganz und Analyse die Linken ebenso ratlos zurücklässt wie den Rest des fortgeschrittenen Bloggertums. Wieso zwei Gedanken an einen Satz verschwenden, wo sich doch einen ganzen Text lang mit einem davon haushalten lässt?

Es gibt zwei Gründe, warum es sich heute noch immer lohnt, Karl Kraus zu lesen und zu verstehen – und beide Gründe bedingen einander: Die Wegstrecke, die uns von seinem Verständnis trennt, trennt uns zufällig auch von unserer geistigen Befreiung. An Kraus zu wachsen befähigt, an den eigenen Haaren sich aus dem Sumpf zu ziehen. Man kann sich dabei natürlich auch von anderen wunderbaren Denkern und Denkerinnen inspirieren lassen. Bei Kraus gab es bis jetzt allerdings die wenigsten Reklamationen. Und für alle, die auf die gentechnologischen Versprechungen der Altersforschung nicht warten können: Er ist der beste bisher verfügbare Jungbrunnen, denn „jung sein“, verriet er uns, „heißt mit unverminderter Frische und Ablehnungsfähigkeit, dem Maß hoher Erlebnisse treu, Unwesen und Unzulänglichkeit an sich nicht herankommen lassen. Alt sein heißt mithatschen.“ ■

Geboren 1968 in Ybbs an der Donau. Studierte Ethnologie und Philosophie in Wien. Schriftsteller, Drehbuchautor, Cartoonist, Schauspieler, Kabarettist. 2015 bei Zsolnay: der Roman „Chronik einer fröhlichen Verschwörung“. Im Klever Verlag kommt demnächst sein Buch „Karl Kraus. 30 und drei Anstiftungen“ heraus.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.06.2016)

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