Zwei Generationen eine Leidenschaft - Fußball

Die Presse (Clemens Fabry)
  • Drucken

Der fußballbegeisterte Jugendliche von 1970 schnippelte Berichte aus Zeitungen, der von 2016 sitzt mit einer Akkreditierung auf der Pressetribüne. Mein Sohn und ich: zwei Generationen, eine Leidenschaft.

Viel zu selten treffe ich den Kollegen aus Wien, den Schriftsteller und Reporter Beppo Beyerl: Wenn wir einander begegnen, spielt sich ein kleines, skurriles Begrüßungsritual ab. Während wir uns noch die Hand schütteln, fragt Beppo mich unvermittelt: „Wie lautet der Mannschaftskader des LASK von 1968?“ Bei unserem jüngsten Zusammentreffen nannte ich allerdings nicht die Aufstellung der Linzer, sondern jene von Rapid Wien: 1968 war immerhin das Jahr, in dem die Rapidler Real Madrid (mit Amancio und Gento) aus dem Europacup warfen und erst im Viertelfinale gegen Manchester United scheiterten (mit Stiles, Charlton, Law und Best).

Wollte ich an dieser Stelle aber mit der Kenntnis dieser Rapidaufstellung punkten, wäre ich sowieso für alle Zeiten zu spät dran: Bereits Peter Handke hat eine Aufstellung, nämlich die des 1. FC Nürnberg vom 27. Jänner 1968 (mit dem Österreicher Gustl Starek), zum berühmten Elfwortgedicht gemacht. Manche halten den Text, ein Readymade aus einer Tageszeitung, sogar für einen der besten Texte Handkes überhaupt. Viele Exegeten grübeln seither an der fußballphilosophischen Frage, was denn eine Aufstellung sei: Handke hat in seinem Band „Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“ offenbar bloß die Ankündigung einer Aufstellung als Aufstellung verewigt. Der Spieler Leupold hatte damals, wie von Handke behauptet, gar nicht von Anfang an gespielt. Diese Banalität hatte zur verheerenden Folge, dass der Spieler Helmut Hilpert, der damals tatsächlich auf dem Rasen stand, schnöde aus einem weltliterarischen Text gekippt wurde. Der Fall eines literarischen Platzverweises also.

Im Antippen einer schlichten Fußballaufstellung klingt Kindheit an. Eine simple Aufstellung gerät unvermutet so zu einem Lautgedicht, in dem sich viel verbirgt: Erinnerungen an ein vermeintlich unbeschwertes Aufwachsen in einem Dorf in den 1960er-Jahren, das Gefühl kindlicher Siegesfreude und tiefer Enttäuschung, der Geruch von frisch gemähten Wiesen, das Gefühl, dazuzugehören, das Gefühl, keine Sprache zu haben für das, was mich bewegt, und mir doch allmählich eine Sprache anzueignen, um das zu bewältigen, was man Leben nennt.

Der Zusammenhang zwischen Fußball und Sprache ist für mich, Jahrgang 1960, evident. In meinem Heimatort, Desselbrunn, am nördlichen Rand des Salzkammerguts gelegen, gab und gibt es bis heute keinen Fußballklub. In den Sommermonaten kickten wir Dorfbuben Tag für Tag auf einer von Maulwurfshügeln gefurchten Waldwiese. In meiner Erinnerung war das eine sozial egalitäre Unternehmung: Alle waren dabei. Ein echter Lederball wurde wie ein heiliger Gegenstand gepflegt und regelmäßig geölt, ein Netz im Fußballtor war eine Seltenheit, und oft spielten wir barfuß; richtige Stollenschuhe besaßen die wenigsten.

Mein erstes richtiges Match habe ich erst Jahre später gesehen: ein Spiel der untersten Liga auf einem Platz im Mühlviertel nahe der tschechischen Grenze. Nach einer sensationell schnellen Führung der Gäste (der Mannschaft, die ich mit einer Cousine begleitete) drehte die Heimmannschaft das Spiel und schickte den Gegner mit einer 10:1-Packung nach Hause. Das Erlebnis war für den Elfjährigen ernüchternd lehrreich: Dinge konnten sich verflucht rasch ändern, nicht immer zum Positiven. The times they were a-changin'.

Der Fußball der Großen existierte fürmich bis dahin nur in der Sprache: in der Tageszeitung, dem wöchentlich erscheinenden „Sportfunk“, in Kinderbüchern(Karl Bruckners „Spatzenelf“ habe ich mehrmals gelesen), in einem Sammelalbum der damaligen Nationalliga mit Schwarz-Weiß-Fotos, das sich „König Fußball“ nannte, sowie in einer samstäglichen Fußballhöroper namens„Sport und Musik“ alsKonferenzschaltung aus den österreichischen Stadien. Akribisch habe ich damals, wie viele Kinder meiner Generation, Fotos und Zeitungsberichte meines Lieblingsklubs (der damals die ferne Vienna war) ausgeschnitten, in alte Schulhefte geklebt und mit meinen eigenen Texten versehen.

Ein Spiel bei Nachbarn im Fernsehen anzuschauen bildete lange die große Ausnahme. Ich erinnere mich an ein paar hitzeflimmernde Ausschnitte aus einem mexikanischen Stadion bei der WM 1970 in einem heute nicht mehr existierenden Dorfwirtshaus – der Wirt döste seinen Mittagsschlaf neben mir auf dem Sofa. Aber erlebt habe ich die Weltmeisterschaft von 1970 durch die Berichte des nach Mexiko entsandten oberösterreichischen Journalisten Leo Strasser (der damals auch ein Pelé-Trikot abstaubte) und durch ein Buch über die WM, das ich noch besitze: zerfleddert und zerlesen. Damals habe ich viel über Fußball gesammelt, ganze Jahrgänge von Sportzeitungen, Wimpel, Autogrammkarten, Bücher. Nicht alles habe ich weggeworfen. Gelegentlich fällt mir ein Relikt aus dieser Zeit in die Hand, und ich spüre in mir das Kind, das ich war und einen frühen Verlust verkraften musste – und das sich über das Thema Fußball mit der Welt verband und tröstete.

Der Eindruck, dass alles, was mein Leben ausmacht, sich um Fußball dreht, täuscht. In den vergangenen Jahren hatte ich dennoch oft den Eindruck, wieder herangeführt zu werden an meine kindliche Begeisterung von damals. Der Grund dafür ist ein Fußballfan in der Familie, mein älterer Sohn, an dem ich studieren kann, was gleich geblieben ist am Fan-Sein von damals und was sich fundamental verändert hat.

Der Fan von heute ist 14 Jahre alt, als sein Lieblingsverein nach einem Lizenzentzug in die unbedeutende Regionalliga absteigen muss. Seinem Verein untätig zuzuschauen ist dem jungen Mann zu langweilig. Im Internet lernt er eine Fanplattform kennen, die ursprünglich aus Protest gegen einen ungeliebten Präsidenten gegründet wurde. Und weil der junge Mann im Sinn hat, Journalist zu werden, schließt er sich der Plattform an.

Diese nennt sich Seit1908.at nach dem Gründungsjahr des Vereins LASK (1965 errangen die Linzer als erste Bundesländermannschaft den Meistertitel) und betreibt ehrenamtlich und semiprofessionell beinahe alles, was an fußballjournalistischer Verarbeitung denkmöglich ist. Bestimmendes Mediumist das Internet mit seinen verschiedenen Formen:Facebook, Instagram, You-Tube. Das Spektrum reicht von Vorberichten zu Spielen über die Betreuung einer Website (mit 4000Likes und je nach Ereignis bis zu 30.000 Zugriffen pro Woche, die sich bei Stadtderbys auf bis zu 60.000Zugriffe erhöhen), dem Angebot eines Livetickers, geschnittenen und kommentierten Videos von Testspielen (von Vorbereitungsspielen der Mannschaft im Trainingslager bis zu Spielberichten der zweiten Mannschaft) und regelmäßigen Stammtischen, bei denen Fans mit Spielern und Leuten vom Vorstand diskutieren können.

Zweimal im Jahr erscheint ein gedrucktes Magazin, regelmäßig gibt es auch die Radiosendung „Legendär on Air“, die bei einem freien Radio gesendet wird. Einmal im Jahr wird Seit1908.at, formal ein Verein mit derzeit etwa 50 Mitgliedern, karitativ tätig und sammelt bei einem Punschstand für Obdachlose oder herzkranke Kinder. Seit einiger Zeit fungiert der Verein auch als offizieller Nachwuchssponsor des LASK.

Fans erkennen, dass ein Verein die Kundenbetreuung in den sozialen Netzwerken vernachlässigt und betreiben Selbsthilfe. Sie schaffen sich gleichsam ihr Medium selber. Im Unterschied zu einem Fanklub tritt diese Fanplattform nicht als geschlossene Gruppe im Stadion auf und macht Stimmung, sondern sorgt mit ihren Aktivitäten für den ergänzenden Support: Als Fotografen, mit Videokamera ausgestattet und als Facebookposter sind sie bei jedem Spiel verteilt im Stadion und besorgen Informationen in Echtzeit. Der Fokus der Beiträge liegt bei der Fanszene und bei Themen, die in den herkömmlichen Medien nicht behandelt werden.

Menschen verschiedener Herkunftsberufe bringen sich so mit ihren Interessen ein. Was sie eint, ist der Bezug zum Verein. Frauen gibt es nur wenige, die Plattform ist ein Spiegel der Fanszene, die hierzulande von Männern dominiert wird. Da gibt es den Schüler, da finden sich ausgebildete Journalisten, der Chef einer Versicherung, Lehrer, einer, der neben dem Medizinstudium als Totengräber arbeitet, und ein anderer, der hauptberuflich beim Roten Kreuz beschäftigt ist.

Der fußballbegeisterte Jugendliche von 1970 schnippelte Berichte aus Zeitungen, klebte sie in ein Heft und verbrachte die Samstagnachmittage vor dem Radioapparat; der fußballbegeisterte Jugendliche von 2016 sitzt mit einer Akkreditierung auf der Pressetribüne und betreut den Liveticker oder schreibt Vorberichte über den Gegner, schneidet selbst gedrehte Fanblockvideos oder spricht Kommentare zu von anderen gedrehten Spielen. Und bei Gelegenheit nimmt er seinen Vater (der als Chauffeur fungiert) als Einzelspielbeobachter zu Auswärtsspielen mit auf die Pressetribüne.

Unter den Stammfans des Vereins ist Seit1908.at bekannt. Im Verhältnis zur offiziellen Vereinsführung versucht die Plattform Distanz zu wahren, kritisch und unabhängig zu bleiben. Enger sind die Kontakte zu einigen Spielern; über die Jahre hat es immer wieder Kaderspieler gegeben, die selber Mitglieder von Seit1908.at waren.

Ich sitze mit meinem jetzt 18-jährigen Sohn am Küchentisch und lasse mir erzählen von den Aufgaben einer Fanplattform. Warum macht man so etwas, frage ich: ein Ehrenamt ausüben, das so viel Herzblut und Arbeitszeit erfordert? Kommerzielle Interessen gebe es keine, das Engagement sei eine alternative Form der Unterstützung für einen Verein, wenn man nicht unbedingt einem Fanklub beitreten wolle. Es mache Spaß, mit Menschen verschiedener Begabungen zusammenzuarbeiten. Die vielfältigen Tätigkeitsbereiche seien eine tolle Praxis für jemanden, der den Beruf des Journalisten anstrebe, höre ich. Weil sich das mediale Spektrum in den vergangenen Jahren so erweitert habe, könne man als Fan heute auch aktiv mitspielen. Seit1908.at ist nur ein Beispiel; in Österreich gibt es eine ganze Reihe anderer Fanplattformen, angefangen von der Plattform der Nationalmannschaft, 12termann.at, und den Plattformen österreichischer Bundesligavereine.

Der Mann, der vor fast 50 Jahren Bilder ausgeschnitten und damals Spielberichte gelesen hat, in denen einzelne Spielzüge beschrieben wurden, sitzt mit seinem Sohn zusammen, der selber Liveticker schreibt und sich heute über Statistiken von Spielern beugen kann, in denen von der Laufleistung, den Zweikämpfen bis zur Passgenauigkeit alles haarklein verzeichnet ist.

Was die beiden verbindet? Die Liebe zu einem Spiel mit einfachen Regeln, das auf der ganzen Welt populär ist. Ob aber stimmt, was der deutsche Fußballreporter Marcel Reif bei der letzten Moderation seiner Berufskarriere sagte (er kommentierte das Champions-League-Finale zwischen RealMadrid und Atlético)? „Jetzt ist Fußball trotz der Millionen wieder ein Kinderspiel. Kinder weinen, Kinder lachen.“ Das Kind in mir möchte ihm das gern glauben. Der Erwachsene, der ich heute bin, sitzt daneben und runzelt zweifelnd die Stirn. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.06.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.