Bis Lenin von selber umfällt

„Expedition Europa“: wo Österreich an Russland grenzte.

Eine kleine Enttäuschung ist es dann doch, dass mir an der ehemals österreichisch-russischen Grenze niemand mehr von Österreich spricht. Da die habsburgische Westukraine zwischen den Kriegen polnisch war, erinnert man sich nur an Polen, und die damals sowjetisch gewordene Ostgegend ist von Stalins Verbrechen gezeichnet: 1300 Tote durch die künstliche Hungersnot, doppelt so viele durch Repressionen. Wo 1793 bis 1809 und 1815 bis 1918 Österreich an Russland grenzte, redet man noch von der „kleinen“ und der „großen Ukraine“.

Drei Generationen nach der Vereinigung der beiden Sbrutsch-Ufer in einem Staat empfängt mich der Grenzfluss als Rinnsal. An beiden Ufern wohnen fast nur Ukrainer. Tiefe Provinz. Wolotschysk (zaristisch) und Pidwolotschysk (k. u. k.) sind mit Denkmälern vollgeräumt: für Stalin-Opfer, Afghanistan-Gefallene und Tschernobyl-Aufräumer am russischen Ufer, am österreichischen Ufer für die Unabhängigkeit, die Nationalbewegung Ruch, die ruchlose Aufstandsarmee UPA und, ganz in Gold, für die Mama. In Pidwolotschysk ist die sowjetische Periode ausgelöscht, in Wolotschysk werden verdiente Traktoristen als „Helden der sozialistischen Arbeit“ geehrt.

Ich brauche einen Geldwechsler, man schickt mich in den Wolotschynsker Landgasthof „Kompromiss“. Im Halbdunkel ein langer Tresen mit 15 Ost-Cognacs. Ich frage nach Wasja. „Valutschik Wasja?“, erwidert die Barfrau ahnungsvoll. Sogleich steht aus einer feiernden Herrenrunde ein spätes Prachtexemplar jener Transformationsfiguren auf, die anderswo im Ostblock zu Oligarchen aufgestiegen sind. Wasja, um die 50, nennt sofort seinen Kurs. 29,20, super. Sein Goldzahn-Lächeln ist human-gewitzt. Er führt mich vors „Kompromiss“ und lüftet seine Lederjacke. Sie offenbart im linken Innenfutter eine Seitentasche, in der wie hineingeschneidert ein aufrechtes Vier-Zentimeter-Bündel von Hrywnja-Hunderten ruht. Wasja zählt 29 Hunderter runter, meinen Euro-Schein steckt er ungeschaut ein.

„Ich stünde an der Front“

Nun ist Wasja neugierig auf mich. Ich zeige ihm das Buch „Getrennt und doch verbunden“, das Standard- und Lebenswerk des Slawisten, Tischlers und Historikers Paulus Adelsgruber. Wasja ist Wolotschysker, aber mit Frau, Wohnsitz und Schweinefarm am Pidwolotschysker Ufer. Er breitet recht geläufige Meinungen aus: „In der Ukraine kämpfen Russland und Amerika“, „ich stünde an der Front, wenn ich nicht jeden Monat 100 Karnickel auf den Lemberger Markt führen müsste“. Das Fällen von Statuen, das während des Maidans auch den unscheinbaren Wolotschysker Lenin traf, findet er nicht richtig. „Wenn die im Osten glauben, soll man ihnen den Lenin stehen lassen, bis er von selber umfällt.“ Er fragt: „Soll ich dir das Holocaust-Mahnmal zeigen?“ Ich bejahe, ohnehin fehlen mir Spuren der Händler-Schtetl, die beide Grenzstädte vor 100 Jahren waren.

Das mieseste Auto vor der Tür ist seines, ein röhrender Lada-Kombi mit geborstener Frontscheibe. „Einen Mercedes kann ich mir nicht erlauben, mein Business ist ja ungesetzlich.“ Wasja stoppt in der Landschaft am Sbrutsch. Enttäuscht erkenne ich ein weiteres Denkmal für die Hungersnot von 1933. „Ist ja dasselbe“, beharrt der fröhliche Valutschik. „Holocaust ist doch nur das russische Wort für Hungersnot.“

Die fortwirkenden Trennlinien ersehe ich an den Kreuzprozessionen – in Pidwolotschysk ein Aufmarsch von brutaler Macht, im größeren Wolotschysk ein lockerer Spaziergang mit Vaterunser. Ansonsten scheinen mir die Ufer zusammenzuwachsen. Russisch will niemand mehr sprechen, und sowohl am russischen als auch am österreichischen Ufer sind massenhaft Denkmäler hinzugekommen. Sie erinnern an den laufenden Krieg. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.06.2016)

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