Wenn Polen irisch werden

„Expedition Europa“: Irland nach dem Brexit – und vor der Vereinigung?

Kurz vor dem Referendum wanderte ich von Nordirland nach Irland. Die Landstraße war so schmal, dass ich mich bei durchdonnernden LKWs an die Hecke pressen musste. Schön war nur das Stück am „Ulster Canal“, einer schon vor der großen Hungersnot eingestellten Wasserstraße. Langbeinige, grazile Kühe stöckelten daran entlang. Die Grenze war seit den Neunzigern abgebaut, fast nur noch der Wechsel von Meilen auf Kilometer erinnerte an sie. Wieder einmal leere Kilometer gehatscht, dachte ich mir. Mittlerweile aber ist das Ja zum Brexit gekommen. Mittlerweile droht die Wiedererichtung der inneririschen Grenze, und mittlerweile hat sich Provinzfrust mit Commonwealth-Sucht und Priesterkastendünkel gegen osteuropäische Gastarbeiter verbündet.

Ich startete im letzten nordirischen Dorf, Middletown. Ein aufgeschwemmter Handelsreisender klappte auf dem Gehsteig einen Koffer voller Messer auf. Er verstand, einen zweiten Messerkoffer aufzuklappen, während sich der erste wie durch Zauberhand schloss. Eine angesprochene Frau zog ihre zwei Enkel auf die andere Straßenseite. Sonst kein Mensch, für Einkaufsverkehr stand das Pfund zu hoch. Wegen Erstattung der Umsatzsteuer zahlte sich höchstens Tanken in Irland aus. Einige Südiren waren ins schwer subventionierte Nordirland gezogen; Normverbrauchsabgabe 30 statt 200 Euro.

Grenzen? Gut bei Rinderwahn!

Hinter mir lag der nordirische Kreis Armagh, der für die EU gestimmt hat. Vor mir das irische Monaghan, bekannt für sein Irrenhaus, das 1919 den ersten Sowjet im britischen Weltreich ausrief. Endlich in der Republik Irland angekommen, traf ich auf desinteressierte Südiren, die oft nicht einmal den Begriff Brexit kannten. Ein südirischer Landarbeiter versorgte die Kühe seines nordirischen Chefs. Der frühere „Lorryman“ sah alles durch ein LKW-Prisma: „Beim Rinderwahn waren Grenzkontrollen gut“, „für Lorrymen sind verschiedene Währungen gut.“ Der Bauer, der mich zurück nach Middletown führte, hing an den EU-Förderungen: „Well, I'm a farmer.“

Ich ging zu Middletown ins Take-Away „Balti House“. Zwei junge Bangladescher, die den Brexit fürchteten, schimpften auf die „rassistischen“ Tories. Der eine sah im Referendum ein Machtspiel Camerons. Obwohl in Irland ansässig, verfolgte er keine irische Politik, „die wird in London entschieden“. Er sprach mit Hochachtung vom „Hirn“, das die Engländer anderen Nationen voraus hätten: „Wie hätten sie sonst so lange die 70-mal so große Bevölkerung von Indien beherrschen können?“ Er sagte mit funkelnden Augen: „Da sie uns beherrscht haben, verstehen wir jetzt ihr Denken.“

Seit dem Votum fordert die gesamtirisch-katholische Sinn Fein die Wiedervereinigung Irlands. Das kommt wohl zu früh, die Demografen erwarten in Nordirland erst ab 2021 eine katholische Mehrheit. Für den Brexit warb auch eine Tory-Politikerin uganda-indischer Herkunft, Nachkommin der von Idi Amin vertriebenen Wirtschaftselite Ugandas. Vorher war Priti Patel Tabaklobbyistin gewesen. Die Hindu-Nationalistin hetzte im Kloakenblatt „Sun“ gegen osteuropäische Gastarbeiter: Nach dem Brexit „würden wir die klügsten und produktivsten Leute kriegen statt einer unbeschränkten Anzahl oft ungelernter Migranten aus Europa“. Das zog. Boston, der Wahlkreis mit dem höchsten Anteil europäischer Gastarbeiter, stimmte für den Austritt.

Nebenbei, zwei Drittel der europäischen Migranten sind auch in Nordirland katholisch. Wenn sie von der nächsten britischen Regierung nicht rausgeschmissen werden, müssten diese polnischen Hackler nur eine irisch-republikanische Identität annehmen – und Irland wäre nach 100 Jahren vereint. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.07.2016)

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