Die geistige Einheit Europas

Stefan Zweig (1881 - 1942)
Stefan Zweig (1881 - 1942)(c) APA (INTERNATIONALE STEFAN ZWEIG GESELLSCHAFT)
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Die Entwicklung jeder Idee geht nicht Schritt für Schritt in regelmäßigem Anstieg - auf Fortschritte folgen heftige Rückschläge, aber so heftig sie sein mögen, wir dürfen sie nicht für dauerhaft halten. Ein Text aus dem Jahr 1936, erstmals veröffentlicht.

Selten war die Atmosphäre der Welt (insbesondere unseres alten Europas) so vergiftet von Misstrauen, Uneinigkeit und Angst. Mit Unruhe nimmt man jeden Morgen die Zeitung zur Hand, mit einem Seufzer der Erleichterung legt man sie nieder, wenn nichts besonders Gefährliches sich ereignet hat. Das Misstrauen gegen die Nachbarn ist heute bei vielen Völkern nach und nach zu einer pathologischen Erscheinung geworden; überall schließen sich die Grenzen ängstlich ab, Tag und Nacht arbeiten in Europa die Fabriken, um nach 20 Jahrhunderten der herrlichsten Leistungen auf allen Gebieten der Kultur die großartigsten und genialsten Instrumente der Zerstörung zu schaffen.

Misstrauen eines Volks gegen das andere,Angst einer Nation vor der andern: welche Enttäuschung für uns, die wir von einer Bruderschaft aller Völker immer und immer noch träumen! Welche Trauer für unsere Seelen, die den Hass als den furchtbarsten Feind der Menschheit hassen und wehrlos, machtlos vor dieser Verwirrung unserer Brüder inallen Ländern stehen!

Dennoch, glaube ich, dürfen wir uns einem Pessimismus nicht schwächlich hingeben. Denn der Pessimismus ist ein destruktives Element. Erschwächt die Energien,weil er unschöpferisch ist. Es ist uns nicht erlaubt, weil die gegenwärtige Zeit gegen die Gesetze der Vernunft handelt, an der Kraft der Vernunft zu zweifeln. Es ist uns nicht erlaubt, selbst wenn wir selbst Angst empfinden für das Schicksal dieser Generation, diese Angst zu verraten. Im Gegenteil, wir, denen das Wort gehört, müssen alle unsere Kraft einsetzen, um die Gläubigkeit in dieser Minute des Verzagens zu stärken; wir müssen, wo wir im Dunkeln auch nur einen leisen Schein der Hoffnung sehen, auf ihn hinweisen.

So möchte ich heute für meinen Teil versuchen, aus meiner ehrlichsten Überzeugung darzutun, dass diesen Kräften der Uneinigkeit auch andere verbindende entgegenstehen und im Lauf der Geschichte den Tendenzen der Zerstörung immer auch ein Wille zur moralischen Einheit der Welt entgegengestanden ist. Wir haben in der Schule schon von den zentrifugalen und zentripetalen Kräften gelernt – sie sind wirksam in jedem Menschen und jedem Volke. Jeder Mensch will die einmalige Individualität bleiben, die er ist, und sie möglichst verstärken; jedes Volk will das Nationale in sich erhalten und steigern; aber kein Mensch will, kein Volk kann völlig einsam sein, jedes strebtaus seinem inneren Kreise heraus nach Bindung mit den anderen. Und so setzt sich deren Traum von einer Einheit der Welt als der höchsten Form aller Bindung durch alle die Zeiten fort und wird so lange wiederkehren, bis er sich verwirklicht.

Die wahre Geschichte einer einheitlichen Konzeption und Formung unserer Welt beginnt mit Rom. Wir wissen, wie in wenigen Jahrhunderten diese eine kleine Stadt in Mittelitalien erst Italien erobert, dann Afrika und Asien sich unterjocht, so weit es damals bekannt ist, dann Frankreich und Spanien und Deutschland und England – auf der höchstenStufe seiner Macht ist das Römische Reich fast identisch mit dem damaligen Kosmos gewesen. Aber nicht in diesem Erobern und im Vereinigen liegt die ungeheure Bedeutung der lateinischen Herrschaft für die Geschichte der Kultur, sondern dassRom seine Provinzen nichtin Sklaverei und Unbildung hinabstieß, sondern zu einer höheren Stufe der Kultur erhob, dass es sie seine Sprache, sein Recht, seine Baukunst, sein Wissen und seine Dichtkunst lehrte und der ganzen Welt ein einheitliches geistiges Gesetz, eine gemeinsame Kultur gab.

Rom eroberte nicht nur, sondern es zivilisierte – sein Bürger war nicht der rechtlose Untertan, sondern der Civis Romanus, und hinter den römischen Kohorten marschierten die Liktoren, die Hüter des Rechts. Mit Rom beginnt der Versuch einer geistigen Weltordnung aufgrund einer einheitlichen Sprache, die Klarheit der Begriffe auf allen Gebieten geschaffen hat und deren Erben noch heute alle lateinischen Völker sind – bis hierher in fernste Zeiten leuchtet noch jene Klarheit und Schönheit, die dem Wort von der Sprache der Römer gegeben war.

Durch eine geniale Organisation werden alle Provinzen – also ganz Europa, Asien, Afrika – in ein Reich verwandelt, das einheitlich verwaltet wird; der kleinste Punkt, das entfernteste „Castrum“, ist durch meisterliche Straßen und ständigen Kurierdienst der Hauptstadt verbunden, so haben, obwohl verschiedene Sprachen sprechend, obwohl nach Sitte und Religion verteilt, alle Nationen eine obere Sprache, die sie zusammenhält, sie haben gleiches Maß und Gewicht, ein Recht und Gesetz, das sie zur Einheit bindet – zum ersten Mal hat die ganze Welt ein geistiges Zentrum, ein Herz und Gehirn, von dem alle Kraft ausgeht und wieder zurückkehrt. Das Römische Reich ist der erste Plan und bis heute noch immer die vollendetste Form einer einheitlichen Weltgestaltung, und je mehr wir seine Einrichtungen studieren, mit umso mehr Bewunderung erkennen wir, wie nahe wir vor 2000 Jahren einer äußern Einheit der Welt schon gewesen sind und wie viel unserer geistigen Kohäsion wir noch heute jenem grandiosen Konzept verdanken.

Rom hat der Welt die erste Probe einer gemeinsamen, einer übernationalen Organisation der Welt gezeigt. Wir waren also vor 2000 Jahren diesem Ideal einer Einheit schonvollkommen nah. Darum ist auch der Zusammenbruch des Römischen Reiches eine der größten Katastrophen gewesen, welche jemals die Menschheit erlitten. Mit dem Einbruch der Barbaren, mit der Zerstörung und Zerstückelung des Reiches endet nicht nur jener großartige Aufschwung, sondern es entsteht ein Rücklauf, der Jahrhunderte dauert. Es ist, als ob plötzlich in einem Raume ein Licht ausgelöscht wäre und alle seine Insassen, die eben friedlich und fleißig beschäftigt nebeneinander um den gleichen Tisch saßen, nun durcheinander im Dunkeln tappten und durch Ungeschicktheit oder Bosheit alle Gegenstände zerstörten. Merkwürdigstes Phänomen: Die Menschheit vergisst in jenen dunklen Jahrhunderten nach der Zerstörung des Römischen Reiches einen Großteil all dessen, was sie schon erlernt und gewusst hat. Während in Rom jeder kleine Knabe aus römischem Haus die Kunst der Rede, des literarischen Schreibens, die Philosophie und die Geschichte erlernt, sehen wir jetzt als Regel, dass die Kaiser und Könige des Abendlands kaum mit ihren Namen ein Schriftstück unterzeichnen können, geschweige denn mit eigener Hand einen Brief schreiben. Die Sitten werden rüde, die geistigen Leistungen sinken herab, die Grundgesetze der Wissenschaften sind einfach vergessen, die Kunst verlernt; blicken Sie die besten Plastiken des achten, des neunten, des zehnten Jahrhunderts an, und es ist, wenn Sie sie mit den römischen vergleichen, als ob ein ungeschicktes Kind sie gearbeitet hätte.

Es gibt in der Entwicklung der Menschheit fürchterliche Rückschläge und Rückfälle – wir haben ja selbst einen solchen inEuropa erlebt, und all die geistigen Verwirrungen der Gegenwart sind noch Folgen jener Erschütterung. Die Entwicklung jeder Idee geht nicht Schritt für Schritt in regelmäßigem Anstieg – auf starke Fortschritte folgen solche heftige Rückschläge, aber so heftig sie sein mögen, wir dürfen sie nicht für dauerhaft halten. Denn immer setzen die entscheidenden Genesungen knapp an den gefährlichsten Krisen ein, nie reißt der Faden völlig ab, nie wird die geistige Arbeit und Emporarbeit der Menschheit gänzlich unterbrochen – immer sind andere Länder, wenn ein Land versagt, immer eine andere Sphäre, die sich erlichtet, wenn die eine verdunkelt.

So hat auch ein so ungeheures Ereignis wie der Untergang des Römischen Reiches die Idee der Einheit der Menschheit nicht unterbrochen – sie hat sie gleichsam nur verschoben aus einer Sphäre in die andere, aus der realen in die spirituelle, aus der politischen ins Religiöse. Denn – wie ein Wunder ist diese spontane Aufeinanderfolge – ein neues Element der Einheit ist entstanden, gerade in dem Augenblick, als das alte zerstört war – in dem Augenblicke, da Rom als Staatsmacht sinkt, ersteht ein neues universalisches Rom in der Kirche. Mit der gleichen methodischen Kraft und der gleichen großartigen Energie, mit der die Legionen die Welterobern, unterwerfen jetzt die Apostel und Priester ein Land nach dem andern ihrem Glauben – abermals wird die ganze europäische Menschheit einheitlich durch eine Bindung ihrer Kräfte, durch eine geniale geistige Organisation. Wie eine riesige Kathedrale überwölbt die Ecclesia Universalis, die Kirche, das gesamte Abendland: In einer Religion, in einem Ritus, in einem Sittengesetz sind über alle Verschiedenheiten der Sprache die Völker verbunden.

Erinnern wir uns dieses Augenblicks als eines größten der Menschheit, dieses Augenblicks des Renascimento, der Renaissance. Brüderlich verbinden sich die beiden Kräfte, auf denen die Schönheit und die Humanität unseres Kosmos ruht: das Christentum und die Antike, der Glaube, das Wissen und die Schönheit. Die Europäer entdecken wieder ihre Vergangenheit, die Schriften Platos, die Worte Homers werden wieder lebendig – die Menschheit begreift zum ersten Male, dass sie auch über die Jahrtausende hinweg eine Einheit ist im Geiste, dass alles, was jemals Großes von einem Menschen geleistet war, nicht nur seinem Volke und seiner Zeit gilt, sondern allen Völkern und allen Zeiten.

Und, herrliches Wunder, in dem gleichen Augenblicke, da es stolz seiner Vergangenheit bewusstwird, entdeckt Europa auch seine Zukunft; die ersten Schiffe landen in Amerika; mit einem Schlagist die Welt weit geworden, weit im Sinne des Raums, weit im Sinne der Zeit, weit im Sinne des Geistes. Sie hat sich neue Dimensionen entdeckt so wie unsere Generation durch die Eroberung der Luft. Sie werden verstehen, wie dieses Gefühl der Welteinheit, dies Gefühl der Weite und Schönheit des Kosmos unsere Vorväter beglücken musste, und einer dieser Männer, Ulrich von Hutten, spricht das Empfinden der ganzen Epoche aus in dem Triumphschrei: „Es ist eine Lust zu leben.“ Der Papst als Herrscher einer einigen Christenheit, Karl V. als Kaiser zweier Welten – abermals scheint die moralische Einheit der Menschheit beinahe erreicht: Es ist eine der unvergänglichen Stunden unserer gemeinsamen Geschichte. Und doch, auch sie – hélas! –, sie dauert nicht lang. Europa wird zerrissen in zwei Hälften, in Protestantismus und Katholizismus, und fürchterlicher als jemals beginnt die Zwietracht, mörderischer als jemals der Bruderkrieg. Aber auch in diesem fürchterlichen Sturme wird die Flamme des Optimismus nur niedergedrückt, sie verlischtnicht ganz, und es ist ja der Sinn und die These meiner Conférence, Ihnen zu zeigen, dass niemals und auch in den dunkelsten Stunden nicht der Glaube an eine mögliche Verständigung zwischen den Menschen vollständig erloschen ist.

Es war nur eine kleine Gruppe, die damals in der Zeit der Religionskriege die Idee der geistigen Zusammenarbeit und der menschlichen Verständigung verteidigte, die Humanisten – aber gerade weil sie wenige waren so wie heute, über alle Länder verteilt und machtlos, wie wir es heute wiederum sind gegen die Leidenschaften der Zeit, müssen wir siebesonders lieben: Sie sind unsere Ahnen im Geiste, und ihre Religion war die Humanität, die Liebe zur ganzen Menschheit hinweg über die Verschiedenheiten der Sprache, desGlaubens und der Weltanschauung. Dass der eineein Franzose war, der andere ein Holländer, der Dritte ein Spanier, konnte sie nicht irremachen, auch wenn ihre Nationen im Kriege gegeneinander lagen, denn sie fühlten sich als „Weltbürger“, und ihr wahres Vaterland war die ganze Menschheit; um sich frei miteinander verständigen zu können, wählten sie das Latein als ihre gemeinsame Sprache, und ihre Hoffnung war, dass die Menschen, wenn sie zu höherer Bildung aufstiegen, nichtmehr fähig sein würden der Hässlichkeit des Hasses und der Bestialität des Krieges.

Freilich, die Humanisten, sie kamen zu früh, und sie waren zu schwach. Ihre lateinischen Schriften drangen nicht bis zum Volke, und gerade in dem Augenblick, da sie das Lateinische als gemeinsame Sprache der Dichtung und der Wissenschaft einführen wollten, begannen die großen Nationen, sich selbst ihre Dichtung zu entdecken: ein Rabelais, ein Shakespeare, ein Calderón schufen ihre unsterblichen Meisterwerke, ein Wettstreit – ein edler diesmal – begann zwischen den Nationen, und der Traum der Weltsprache, er war zu Ende. Jedes Volk, jede Nation sprach zu sich mit seiner eigenen Stimme und erschuf sich einen Nationalismus der Kunst und bald auch den anderen Nationalismus, den gefährlicheren des Stolzes und der Herrschsucht.

Aber, ich sagte es schon, immer wenn die Flamme der Idee löschen wollte, fachte sie sich abermals an. Und in dem Augenblicke, da die Dichtung sich nationalisierte in den Sprachen, begann eine neue Kunst – eine neue Sprache über den Sprachen: die Musik, sie, die eine und einzige, die gleich zu allen Seelen spricht, die alle Grenzen überfliegt mit ihrer unsichtbaren Schwinge – sie, die noch mehr und inniger die ganze Menschheit verbindet, wenn sie nur das Allmenschliche ausdrückt. So empfanden auch die großen Musiker, die plötzlich – eine einzige ununterbrochene Reihe – im 18. Jahrhundert entstanden: Sie empfanden kosmopolitisch, die ganze Erde war ihnen Heimat und nicht nur die eigene Sprache, das eigene Vaterland. Der Deutsche Händel lebt in London und setzt englischeWorte in Musik, der Österreicher Gluck lebt in Paris und komponiert in französischer Sprache, Mozart schafft ebenso italienische Opern wie deutsche, es ist ihnen gleichgültig, denn sie sprechen ja zu allen. Vielleicht hat die Musik mehr zur seelischen Einigung der Welt getan als alle Worte und Ideen: Lieben und ehren wir sie darum als das höchste Symbol.

Ich war ein Knabe, ich glaube sechs Jahre alt, als ein Telefon in unserer Wohnung angebracht wurde: Noch heute erinnere ich mich an den Schauer, als zum ersten Mal für die menschliche Stimme der Raum überbrückt war. Wir sahen die ersten Automobile, Wagen, die ohne Pferde sich fortbewegten, und sahen von Jahr zu Jahr sie geschwinder werden, wir sahen zum ersten Mal das lebendige Bild, den Cinematografen, und wie jauchzten, wie bebten, wie schauerten wir vor Begeisterung, als zum ersten Mal Santos Dumont sich mit dem Flugzeug über die Erde schwang – der jahrtausendalte Traum der Menschheit war erfüllt. Es gab keine Ferne, keine Grenzen mehr. Wo unsere Väter acht Tage gereist waren, dort konnten wir in acht Stunden sein – unser Europa, das uns bisher riesig groß erschienen, nun war es in einem Tag zu umspannen! War es da möglich, dass es da noch Feindseligkeiten gab zwischen unsern Völkern? Waren dadurch nicht alle Grenzen überwunden, Europa, die Welt zu einem einzigen Vaterland geworden?

Sie lächeln vielleicht über diesen Optimismus. Aber ich schäme mich nicht, so jung und gläubig gewesen zu sein. Und ich liebe Schillers schönes Wort, man solle Ehrfurcht haben vor den Träumen seiner Jugend. Wie sollten wir nicht an die Technik als die Einigerin, als die Erlöserin der Menschheit glauben, da sie täglichdoch neue Wunder schuf? Wir liebten, wir bewunderten die Maschinen, mein Freund und Meister Émile Verhaeren feierte sie als Erster im Gedicht, wir sahen, ein enger Freundeskreis aus allen Ländern, der um Romain Rolland geschart war, Europa alsgemeinsame Heimat, wir glaubten mit Verhaeren, dass freudige Bewunderung die Völker verbinden könnte. Sie mögen sich unsere Enttäuschung denken, unsere Verzweiflung, als der Krieg dann plötzlich begann, und überdies der fürchterlichste Krieg der Geschichte. Die Technik hatte uns verraten und die Wissenschaft.

Dennoch aber haben wir unsern unerschütterlichen Glauben an die Notwendigkeit einer Verständigung zwischen den Völkern aus jener Hölle zurückgebracht – verstümmelt vielleicht, verändert, aber doch erhalten. Unser Optimismus ist heute weniger enthusiastisch als einst, er ist strenger geworden gegen sich selbst, und wir wollen die Lehren, die uns die Zeit gegeben hat, nicht vergessen. Das Erste, was wir gelernt haben an unserer Erfahrung, ist: endgültig und für immer unseren europäischen Hochmut aufzugeben. Vor dem Kriege haben wir es als selbstverständlich betrachtet, dass Europa die geistige und moralische Führung der Welt zusteht. Von diesem Irrtum sind wir geheilt.

Und die zweite Erkenntnis war: trotz aller Bewunderung nicht zu viel von der Technik für den moralischen Fortschritt der Menschheit zu erhoffen. Wir vertrauen ihr nicht mehr, seit sie uns betrogen hat, seit wir sahen, wie willfährig, wie gehorsam sie sich in den Dienst der Zerstörung stellt. Wir wollen sie weiter bewundern und bewahren in allen ihren Leistungen, aber vorbei ist unser Glaube, dass die räumliche Annäherung auch schon eine stärkere seelische Bindung bedeutet. Nicht von der äußeren Technisierung kann eine wahrhafte Wandlung unserer Menschheit erfolgen – nur vom Geiste her und von dem leidenschaftlichen Willen zu besserer Verständigung. Unendlich viel ist für jeden von uns im Stillen zu tun: Wir müssen uns jedes Wortes enthalten, welches das Misstrauen zwischen Menschen und Nationen steigern könnte; im Gegenteil, wir haben die positive Pflicht, jede Gelegenheit zu ergreifen, um die Leistung anderer Rassen, Völker und Länder nach ihrem Verdienst zu rühmen.

Wir müssen eine Jugend lehren, denHass zu hassen, weil er unfruchtbar ist und die Freude des Daseins, den Sinn des Lebens zerstört, wir müssen die Menschen von heute und morgen erziehen, in weiteren Dimensionen zu denken und zu fühlen. Wir müssen zeigen, dass es Engherzigkeit und Absperrung bedeutet, Kameradschaft nur im eigenen Kreise, im eigenen Lande zu begrenzen. Wir müssen am eigenen Beispiel zeigen, wir Älteren, dass freies Bewundern fremder Werte die innere Kraft der Seele nicht mindert, sondern im Gegenteil nur erweitert und dass nur dem Menschen immer wieder eine neue geistige Jugend geschenkt ist, der sich seinen Idealismus und Enthusiasmus zu erneuern weiß.

Wir dürfen um der Wahrheit willen nicht verschweigen, dass mächtige egoistische Kräfte jeder Verständigung entgegenarbeiten. Seien wir also entschlossen und geduldig zugleich: Lassen wir uns nicht beirren durch alle Unvernunft und Unhumanität der Zeit, bleiben wir dem zeitlosen Gedanken der Humanität treu – es ist nicht so schwer! Überall können einige Menschen, die guten Willens sind, das Wunder vollbringen, sich zu verstehen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.07.2016)

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