Die Wahrheit im Heuhaufen

Venezuela, eines der erdölreichsten Länder der Welt, steckt in einer schweren Krise, die durch die Weigerung seiner politischen Eliten, sie mit friedlichen Mitteln zu lösen, noch erhöht wird. Die Unnachgiebigkeit der verfeindeten Gruppen gefährdet die ganze Region.

Erstens. Die Reise nach Caracas beginnt vor den Regalen mehrerer Wiener Supermärkte, wo ich für Freunde und ehemalige Kollegen Waren einkaufe, die in Venezuela zurzeit kaum zu finden sind: Kaffee, Schokolade, Zahnpasta, Rasierklingen . . . Eine Frau hat mich gebeten, ihr das Shampoo einer bekannten Marke mitzunehmen, und angesichts von 15 verschiedenen Sorten bin ich gezwungen, den Rat der Verkäuferin einzuholen. Zwei Bestellungen – ein Mittel gegen Bluthochdruck und ein anderes gegen Depression – kann ich nicht erfüllen, weil solche Medikamente in Österreich rezeptpflichtig sind.


Zweitens.
In Venezuela fehlt es paradoxerweise auch an Politik, sofern man darunter die Kunst des Verhandelns und die Bereitschaft zu Kompromissen versteht. Regierung wie Opposition versuchen, einander mit allen Mitteln zu übertönen. Der ohrenbetäubende Krach, den sie dabei produzieren, macht es ihnen leicht, die andere Seite zu ignorieren. Inmitten des nationalen Tumults ist hin und wieder das Wort Demokratie zu hören, das ebenso viele Deutungen zulässt, wie Interessen im Spiel sind: Einerseits setzte sich die Regierung mit zweifelhaften legalen Entscheidungen über den Wahlsieg der Opposition im Dezember 2015 hinweg, andererseits weigert sich diese bis heute, ihre von seriösen ausländischen Wahlbeobachtern bestätigten Niederlagen in den Jahren davor einzugestehen.

Beide Seiten imitieren den 2013 verstorbenen Hugo Chávez in Sprache und Syntax. Auch Präsident Nicolás Maduro spricht wie Chávez, aber ihm fehlen die Überzeugungskraft, der Instinkt und die Intelligenz seines Vorgängers. Manchmal kommt es einem so vor, als sei der Schnurrbart des Präsidenten das Einzige, das ins offizielle Bild und zum offiziellen Narrativ passt. Die starke Symbolkraft, die Präsidenten für gewöhnlich ausstrahlen, erschöpft sich bei Maduro darin, im Fernsehen Ratschläge auf dem Niveau von Handarbeitskränzchen zu geben. Seine Minister wenden sich in Livesendungen mit der Floskel „Jawohl, mein Oberbefehlshaber!” an ihn, als wären sie vom Militär und nicht von den Menschen, die sie vertreten sollen, gewählt worden. Von Höflichkeit, ohne die eine zivilisierte Gesellschaft nicht auskommt, ist im Umgang zwischen Opposition und Chavismus nichts zu merken. Sie wünschen einander nicht einmal mehr einen guten Tag: Hinter dem Eigenschaftswort – glauben die einen – könnte eine neue Machenschaft stecken und im Hauptwort – so die anderen – der Termin des nächsten Putschversuchs.


Drittens.
Die Journalistin Paulina, Jahrgang 1985, wohnt in einem bürgerlichen Stadtteil von Caracas und sympathisiert mit Henrique Capriles, dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten. Ihren Informationen nach besteht zwischen der Regierung und einem großen Teil der Opposition in aller Stille Einigkeit darüber, den prominentesten Strafgefangenen Venezuelas, Leopoldo López, hinter Gittern zu belassen. (Der ehemalige Bürgermeister der Gemeinde Chacao war im September 2015 wegen Aufrufs zur Gewalt und Verschwörung zu 14 Jahren Haft verurteilt worden.) Angeblich wollte der von López geführte Sektor der Opposition seine verloren gegangene Machtposition mit Gewalt wiedererlangen. „La salida“ (Die Ausreise), so nannte man den Plan dieser Gruppe, Maduro nach ukrainischem Vorbild und mit ausländischer Unterstützung loszuwerden. Der andere Sektor, der Henrique Capriles nahesteht, möchte den Präsidenten zwar auch stürzen, aber dabei die Formen wahren.

Warum lässt die Regierung López dann nicht frei? Das würde ihren Gegnern doch den Wind aus den Segeln nehmen. Geht aber nicht, sagt Paulina, weil auch der Justizapparat unter starkem Druck steht. Er gilt als regierungsnahe, und deshalb werden juristische Entscheidungen selbst dann angezweifelt, wenn sie korrekt sind. Wahrscheinlich bestehen die Höchstrichter darauf, dass Maduro keine Amnestie erlässt. Abgesehen davon stellt sich die Frage, wie man bei so schweren Delikten jemanden freilassen kann, ohne dadurch den Anschein einer totalen Straffreiheit zu erwecken. Paulina hat bereits die Forderung nach einem Referendum zur Amtsenthebung von Maduro unterschrieben. Sollte dann Henrique Capriles für das Präsidentenamt kandidieren, würde sie ihn wählen. Im hiesigen Politjargon ist sie eine „nini“, eine „Weder-noch“. So werden Leute bezeichnet, die in diesem Land der Extreme bemüht sind, Distanz zu den Extremen zu wahren.


Viertens.
Opposition wie Regierung haben offenbar übersehen, dass es ihren ausländischen Unterstützern nicht um Demokratie geht, sondern um ihre eigenen oder die Interessen derer, die sie vertreten. Das sind in erster Linie Kuba, Kolumbien, Spanien und die USA. Die Interventionen dieser Staaten tragen nichts zur Lösung des Konflikts bei. Im Machtvakuum, das durch Chávez' Tod entstanden ist, wollen sie sich ihren Einfluss sichern: Die Finanzmärkte betrachten das strittige Grenzgebiet mit Guayana als nächstes großes Rohstofflager an Mineralien und Erdöl, das es auszubeuten gilt, und setzen sich dabei über die legitimen Territorialansprüche Venezuelas hinweg.

Von den vielen Fehlern der Regierung Maduro wiegt einer besonders schwer: die Ernennung einer Chávez-Tochter zur Botschafterin Venezuelas vor der UNO. Diese leichtsinnige Entscheidung hat dem Land auf internationaler Ebene nützliche Kontakte gekostet. Eine junge ungebildete Frau ohne jede politische Erfahrung, unfähig, strategische Risiken einzuschätzen und Unterredungen mit hochrangigen Diplomaten der UNO zu führen.


Fünftens.
João ist Jahrgang 1960 und portugiesischer Abstammung. Seine Eltern sind in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts „mit einem Koffer und vielen Träumen“ in Caracas gelandet. Jahrelang arbeiteten sie in einer Fabrik, bis sie genug Geld gespart hatten, um in Catia, einem Arbeiterviertel im Westen der Hauptstadt, eine Eisenwarenhandlung zu eröffnen. Vom Ertrag konnten sie ihren Kindern eine gute Ausbildung bieten.

João studierte Ingenieurwissenschaften. Dann heiratete er. Das Ehepaar hat drei Töchter. Jetzt lebt die Familie in einem bürgerlichen Stadtteil. João gründete eine Firma für Software und Dienstleistungen und vertritt ein weltweit führendes Technologieunternehmen. Trotz mehrerer Angebote aus Panama will er in Venezuela bleiben. Aber das Land ist wirtschaftlich paralysiert. João hat auf seine Ersparnisse zurückgreifen müssen, um den Angestellten die Gehälter auszahlen zu können. Obwohl es keine Aufträge mehr gibt, darf er sie nicht kündigen. Trotz seiner privaten Sympathien für den Präsidenten (beide sind fanatische Anhänger derselben Baseballmannschaft) hat er die Forderung nach einem Amtsenthebungsreferendum unterschrieben.


Sechstens.
Hugo Chávez' bedingungslose Unterwerfung unter die kubanische Regierung hätte der Opposition eine Lehre sein müssen. Stattdessen prunkt sie mit einer langen Liste ausländischer Gäste, die anderswo wegen Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates sofort ausgewiesen würden. Offenbar ist sie der Meinung, dass es bequemer und effektiver ist, ihre Legitimität nicht bei den Bewohnern der Armenvierteln zu suchen, sondern bei Gesinnungsfreunden im Ausland. Sie erwartet, dass sich das Land nach Maduros Sturz wieder in jenes Paradies verwandelt, das ihr ihrer Überzeugung nach geraubt worden ist. Bei den Protestmärschen gehen Nonnen und Priester mit, die den Rosenkranz beten, auf dass Gott der Allmächtige das Wunder bewirke, das sie mit irdischen Mitteln nicht zustande gebracht haben: die Regierung zu stürzen.


Siebtens.
Julio, Jahrgang 1965, lebt in San Agustín, einem Armenviertel von Caracas, das sich über mehrere Hügel hinzieht und über eine Seilbahn, den „Metrocable“, erreicht werden kann. Die Vorarlberger Firma Doppelmayr hat sie in der Regierungszeit von Hugo Chávez gebaut. Den Besucher überrascht, dass sie sogar sauberer und besser gewartet ist als jede U-Bahn-Station in Wien. San Agustín ist seit Jahrzehnten ein Zentrum hervorragender Musiker und Tänzer, die mit großem Erfolg auch in Europa auftreten.

Julio und andere Bewohner des Viertels sind der Meinung, dass der Präsident im Fall Leopoldo López einen Fehler begeht. Sie sehen es zwar als erwiesen an, dass López in mehrere Verbrechen verwickelt war, glauben aber, dass man ihn freilassen sollte. Ihnen zufolge liegt es am schlechten Image des Landes, das durch seine Verurteilung entstanden ist, dass es zu Engpässen in der Güterversorgung kommt und sich immer mehr Unternehmen aus Venezuela zurückziehen.

Julio ist mit den Maßnahmen der Regierung Maduro unzufrieden, will aber, dass dieser seine Amtszeit zu Ende führt. Anders als in den östlichen Stadtvierteln werden in San Agustín keine Unterschriften für das Amtsenthebungsreferendum gesammelt.


Achtens.
Gibt es einen Wirtschaftskrieg gegen die Regierung Maduro? Die geopolitische und strategische Logik spricht dafür: Wenn die Vereinigten Staaten schon Wirtschaftsgeheimnisse ihrer mächtigsten europäischen Verbündeten ausspionieren, Russland militärisch einkreisen und die EU-Büros in Brüssel abhören, um sich für die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen TTIP Vorteile zu verschaffen, dann wäre es eine unglaubliche Überraschung, wenn sie sich just in Venezuela zurückhielten, einem Land, das über riesige Erdölvorkommen und andere Bodenschätze verfügt.

Aber das allein erklärt noch nicht den schweren Konflikt in diesem Land. Wenn jemand die Bemühungen der Regierung torpediert, in diesem „Wirtschaftskrieg“ standzuhalten, dann in erster Linie der Präsident selbst. Seine Dekrete lesen sich wie Gebrauchsanweisungen zur Destabilisierung der Wirtschaft. Die Erklärungen, mit denen er die Bevölkerung beruhigen will, sind derart ungeschickt, dass jeder Fernsehauftritt von ihm nur neue Probleme schafft.


Neuntens.
Graciela, Jahrgang 1959, lebt in Casalta, einer gefährlichen Gegend im Westen der Stadt. Sie ist Sozialarbeiterin und kennt die Problematik solcher Armenviertel aus erster Hand. Als Hugo Chávez auf der politischen Bühne erschien, schöpfte sie zum ersten Mal Hoffnung. Sie dachte, er könnte das Land zum Besseren verändern. Aber das, sagt sie, ist nicht geschehen. Wie die Regierungen vor ihm hat sich Chávez darauf beschränkt, die dringlichsten Probleme anzugehen, und es nicht geschafft, die grundlegenden in Sachen Bildung und Armut zu lösen. Sein Versagen ist daran zu erkennen, dass die Marginalität, die er zu eliminieren versprach, weiterhin besteht und seit seinem Tod noch zugenommen hat.

Die Opposition, sagt Graciela, ist der Lage nicht gewachsen. Sie hat kein Programm für den „Tag danach“. Und ohne ein Zukunftsprojekt ist es relativ belanglos, was man in der Gegenwart unternimmt. Mit einem seriösen Projekt würde man die Armen gewinnen können. Das wäre das Ende des Chavismus, aber die Opposition ist voll von Leuten, die die Macht auf dem Servierteller präsentiert bekommen wollen. Graciela drückt sich klar aus. Sie spricht von dem, was sie in ihrer Arbeit täglich erlebt, und untermauert es mit Statistiken zur sozialen Lage der Bevölkerung. Wenn es zum Referendum kommt, wird sie für die Amtsenthebung Maduros stimmen. Sie zweifelt nicht daran, dass das am Besten wäre. Aber in Casalta gibt es keine Stellen, an denen man für ein Referendum unterschreiben kann.


Zehntens.
Venezuela ist im Jahr 2016 ein Land ohne Nuancen. Die politischen Kontrahenten sind zum Einlenken nicht bereit. Was die eine Seite im Brustton der Überzeugung vorbringt, wird von der anderen ebenso entschieden bestritten. Fakten zählen nicht, nur der Standpunkt gilt. Wer in einer solchen Situation auf Einsicht hofft, kann sich gleich daranmachen, in einem Heuhaufen aus lauter Meinungen ein Körnchen Wahrheit zu suchen. ■


Enrique Moya, geboren 1958 in Caracas,
lebt als freier Schriftsteller in Wien, wo er
seit vielen Jahren das Festival latein-amerikanischer Poesie leitet. Bücher: zuletzt „Poemas de la razón nocturna“ (2012)
und „El mundo sin geometría“ (2013).
Sein Beitrag wurde von Erich Hackl ins Deutsche übertragen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.07.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.