Haben wir das Teilen verlernt?

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Themenbild(c) Wolfgang Freitag
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Über Solidarität und Verantwortung in Zeiten von Hedgefonds, Banker-Boni und internationaler Steuerhinterziehung.

Nichts ist für die genug, denen das
Genügende zu wenig ist.
Epikur

Der Legende nach hat der heilige Martin, später Bischof von Tours, als er als Soldat der römischen Garde in Amiens einem frierenden, unbekleideten Bettler begegnete, seinen Mantel mit dem Schwert in zwei Hälften geteilt und die eine dem Armen überlassen. Später sei ihm im Traum Christus erschienen, mit dem halben Mantel bekleidet. Martin hat das Wenige geteilt, das er auf seinem Ritt bei sich hatte, zum Gespött seiner Mitsoldaten.

Im Bereich der Fabeln findet sich bei Äsop ein gegenteiliges Beispiel: In der Geschichte „Der Hund und das Stück Fleisch“ springt ein Hund mit einem Fleischstück im Maul vor lauter Gier ins Wasser, als er auf einer Brücke sein eigenes Spiegelbild mit dem Fleisch im Maul im Wasser erblickt, weil ihm jenes Stück Fleisch in der Wasserspiegelung größer als sein eigenes erscheint. Dabei verliert er sein eigenes Stück Fleisch.

Und im Märchen „Von dem Fischer und seiner Frau“, die nicht genug bekommen kann, ist die Gier so grenzenlos, dass die Fischersfrau letztlich Gott werden will, nachdem all ihre anderen Wünsche nach Reichtum, einem Schloss, weltlicher und kirchlicher Macht erfüllt worden sind. Durch ihre unstillbare Gier, die auch vor Blasphemie nicht haltmacht, verliert sie alles.

Heutzutage erleben wir ein derartig blasphemisches Verhalten in weiten Teilen unseres Zusammenlebens. Hierbei geht es nicht mehr im althergebrachten Sinn um Gotteslästerung, sondern um den Verrat an sich selbst, am eigenen Menschsein – oder, anders ausgedrückt, am eigenen Menschwerdungsprozess. Ohne Selbstbeschränkung werden die Kinder des freien Marktes einander fressen und sich selbst zerstören.

Freilich, die Pleonexia, die Avaritia gilt bereits im Altertum und im christlichen Mittelalter als eine Art anthropologischer Konstante, von Philosophen und Theologen ebenso gegeißelt wie in fernöstlichen Religionen. Dennoch hat sich der Mensch zum Homo oeconomicus entwickelt, der die Gier zu einer Tugend hochstilisiert. Seine Leitkultur ist der freie Markt, ihm selbst und seinem Wirtschaftssystem scheint die Gier tatsächlich intrinsisch zu sein.

Andererseits ertönen immer wieder Rufe nach Solidarität, nach Teilen, und neben den trotz ihrer Misserfolge erhebliche Boni einheimsenden Bankern und Wirtschaftsbossen gibt es Stimmen unter den Reichen, wie etwa jene des amerikanischen Tycoons Andrew Carnegy, der sein Vermögen nicht seinen Erben hinterließ, sondern verschenkte, gemäß seinem Motto: „Der Mann, der reich stirbt, stirbt in Schande.“ Ähnlich hat sich in der Gegenwart der Millionär Tim Cook verhalten.

Das Gesellschaftsmodell der Gegenwart aber bleibt auf einen Egoismus zugeschnitten, der als Motor für Konkurrenz und Gewinn, für Beweis von Stärke und Klugheit dient. Hedgefonds, Steuerhinterziehungen, Null-Stunden-Arbeitsverträge, Verlagerung der Produktion in Billigländer bei gleichzeitiger schamloser Ausbeutung der Arbeitenden werden nahezu in den Rang von Tugenden erhoben. Nimmt man die Untersuchungen der Weltbank, der Entwicklungsorganisationen und der UNO ernst, so erscheinen die durch das Armutsgefälle bedingten Sterblichkeitsraten, vor allem unter Kindern erschreckend.

Dies hat zusammen mit den steigenden Geburtenraten zu verschiedenen Standpunkten geführt: Während der Philosoph Peter Singer im Kontext seiner Verteidigung der Freigabe der Früheuthanasie von schwerbehinderten Föten oder Neugeborenen nicht eben zimperlich die Frage stellt, ob wir infolge unserer Verweigerung des Teilens nicht ebenso zu Mördern zu werden, die Millionen sterben lassen, haben andere, dem Neoliberalismus zuzuordnende Philosophen wie etwa Robert Nozick zwar die Wohltätigkeit befürwortet, aber jede Zwangsverpflichtung abgelehnt. Der amerikanische Mikrobiologe und Ökologe Garrett Hardin geht noch weiter. Nach seiner „Rettungsbootethik“ sollten die Reichen die Armen verhungern lassen, andernfalls würden die Armen die Reichen mit in den Abgrund reißen. Sein Vergleich besteht in einem bereits überfüllten Rettungsboot inmitten einer im Meer um ihr Leben kämpfenden Mehrzahl von Menschen, die das Rettungsboot bei Aufnahme zum Kentern bringen würde.

Sind wir also zur Hilfe für die Armen, die Rechtlosen, die schlecht Weggekommenen verpflichtet?

Dass der in unseren Breiten etablierte Sozialstaat, wie er etwa im deutschen Grundgesetz festgeschrieben ist, auf unterschiedlichen Prinzipien beruht, die derzeit schwer in eine Balance zu bringen sind, hat vielfache historische Wurzeln. Bereits im römischen Recht ist Solidarität (obligatio in solidum) eine besondere Form der Haftung für eine Gesamtschuld, in der jedes Mitglied der Gemeinschaft, meist der Familie, für die Gesamtheit der bestehenden Schulden aufkommen muss – und umgekehrt die Gemeinschaft für die Schulden des Einzelnen haftet. Daraus hat sich die an Alexandre Dumas' Roman „Die drei Musketiere“ erinnernde Maxime herausgebildet: „Einer für alle und alle für einen.“

Im Wesentlichen lassen sich drei Arten von Solidarität unterscheiden: die kooperative Solidarität, die darauf hinausläuft, individuelle Risiken und Schicksalsschläge gemeinsam zu bewältigen, die antagonistische Solidarität, die kollektive Interessen gegenüber anderen kollektiven Interessen verteidigt, und schließlich die kontingente, die sich etwa bei Naturkatastrophen herausbildet.

Im Gegensatz zu Handlungen aus Nächstenliebe beruhen die Formen der Solidarität auf dem Prinzip der Leistung für eine Gegenleistung, was vor allem für die kooperative Solidarität zutrifft, die im Krankenversicherungswesen, in der Arbeitslosenabgabe und anderen Belangen des Sozialstaates wichtig wird.

Die im Sozialstaat bestehenden Prinzipien, wie etwa jene der Gleichheit, der Leistung, des Bedarfs und des Anrechts stehen in Widerspruch zu den Problemen der sozialen Gerechtigkeit. Das Problem der Gerechtigkeit hat sich nicht zuletzt durch die Entwicklungen der Wirtschaft entscheidend zugespitzt. Die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit ist in besonderer Weise mit dem Problem der Solidarität verbunden. Bert Brecht hat dies in seinem Solidaritätslied folgendermaßen formuliert: „Vorwärts und nicht vergessen, worin unsere Stärke besteht! Beim Hungern und beim Essen, vorwärts und nie vergessen: die Solidarität!“

Dass Solidarität und die damit verbundene Gegenseitigkeit im Helfen bereits im 19. Jahrhundert zu einem Kampfbegriff der Arbeiterbewegung geworden ist, insbesondere im Entstehen der Gewerkschaften, bedeutet für den modernen Sozialstaat im Hinblick auf das Problem der Verteilungsgerechtigkeit eine Herausforderung, die bis heute nicht zufriedenstellend gelöst werden kann. Gerechtigkeit als Begriff und als Forderung ist schon früh ironisiert und relativiert worden. So hat etwa der antike Skeptiker Karneades von Kyrene zwei einander entgegengesetzte Reden gehalten – eine für und eine gegen die Gerechtigkeit; und Blaise Pascal hat ironisch die Grenzen der Gerechtigkeit durch einen Fluss markiert, da diesseits und jenseits des Rheins verschiedene Gerechtigkeitsvorstellungen herrschen würden. Goethe schließlich hat, nicht weniger spöttisch, die Gerechtigkeit als eine Eigenschaft und als ein Phantom der Deutschen bezeichnet.

Skepsis gegenüber Gerechtigkeitstheorien, deren es in Vergangenheit und Gegenwart eine wahre Fülle gibt, ist bei jedem Nachdenken über Gerechtigkeit immer auch angebracht. Hans Kelsen hat dies auf den Punkt gebracht, wenn er formuliert: „Keine andere Frage ist so leidenschaftlich erörtert, für keine andere Frage so viel Blut, so viel bittere Tränen vergossen worden, über keine andere Frage haben die erlauchtesten Geister – von Plato bis Kant – so tief gegrübelt. Und doch ist die Frage heute so unbeantwortet wie je. Vielleicht, weil es eine jener Fragen ist, für die die resignierte Weisheit gilt, dass der Mensch nie eine endgültige Antwort finden, sondern nur suchen kann, besser zu fragen.“

Ungeachtet dieser Skepsis lohnt es sich, jenen Gerechtigkeitstheorien nachzugehen, die von der Antike bis zur Gegenwart das abendländische Denken geprägt haben. Dabei gilt es, neben den derzeit am meisten diskutierten Theorien (von Otfried Höffe bis John Rawls oder Michael Walzer) auch zu beachten, dass Gerechtigkeit neben ihrer Dimension im politischen, institutionellen und sozialen Bereich auch eine Frage der Haltung, der Tugend des Einzelnen darstellt. Dieses Denkmuster findet sich im Übrigen auch schon in der biblischen Tradition, in der sich immer wieder die Frage nach dem Gerechten findet. Aristoteles hat Gerechtigkeit als jene Grundhaltung bezeichnet, „von der die Menschen die Fähigkeit haben, gerechte Handlungen zu vollziehen, von der sie aus gerecht handeln und ein festes Verlangen nach dem Gerechten haben“.

Gerechtigkeit, bezogen auf den Staat, baut so auf der Voraussetzung einer Tugend der Gerechtigkeit auf, auf einem Gerechtigkeitssinn, der dann in die Gemeinschaft, in den Staat übertragen wird und nach einem Zustand verlangt, in dem für jeden Bürger das für ihn Gute gewährleistet werden kann. Es ist bemerkenswert, dass diese schon von Platon initiierte und über die mittelalterliche Lehre von den Kardinaltugenden (Weisheit, Besonnenheit, Tapferkeit und Gerechtigkeit) auch noch in der Gegenwart und nicht nur in den sich auf Aristoteles beziehenden Gerechtigkeitstheorien weiterlebt.

So hat etwa John Rawls Gerechtigkeit als Tugend sozialer Institutionen bezeichnet und jene Kriterien für Gerechtigkeit als adäquat herausgearbeitet, „die freie und vernünftige Menschen in ihrem eigenen Interesse in einer anfänglichen Situation der Gleichheit zur Bestimmung der Grundverhältnisse ihrer Verbindung ansehen würden“. Die von Rawls genannte Gleichheit ist gewissermaßen ein Grundbestandteil jedes Nachdenkens über Gerechtigkeit, welche er mit Fairness gleichstellt.

Die ebenfalls traditionellen Kriterien der Gerechtigkeit lassen sich in einer dreifachen Hinsicht anführen: Es sind dies die Forderungen „jedem das Gleiche“, „jedem nach seinen Bedürfnissen“ oder „jedem nach seiner Leistung“. In ihnen taucht die Grundforderung auf, jedem das Seine, das ihm zusteht, zukommen zu lassen. Freilich kann Gerechtigkeit dabei ebenso als Garantie für die Gleichheit, aber auch als Rechtfertigung von Ungleichheit ausgelegt werden.

Nach welchen Prinzipien in einem Gemeinwesen die Verteilung der Güter erfolgen soll, darüber gibt es keinen Konsens, denn eine Verteilung von Gütern erfordert ja auch eine Differenzierung dieser Güter selbst: Es geht sowohl um materielle Güter wie Einkommen und Vermögen, aber auch um nicht materielle Güter wie Rechte, Freiheiten, Chancen, Ehren oder Ämter.

Dies liegt auch der meistdiskutierten Theorie von Rawls zugrunde. Um das Problem von Gleichheit und Ungleichheit in Balance zu bringen, hat Rawls das theoretische Konstrukt eines fiktiven Urzustandes einer menschlichen Gemeinschaft aufgestellt, wobei unter dem „Schleier der Unwissenheit“ die einzelnen Personen in Unkenntnis ihrer künftigen Positionen ihre inhaltlichen Interessen vertreten müssen. Anders formuliert: Die Personen müssen in Unwissenheit entscheiden, in Unwissenheit nämlich über die eigene künftige Position, was ihnen als gerecht oder als ungerecht gelten soll. Rawls meint, hiermit eine Zustimmung zu jenem Kriterium finden zu können, das weder auf die natürlichen oder gesellschaftlichen Gegebenheiten noch auf die spezifischen Verhältnisse Einzelner zugeschnitten ist. Seine sehr komplexe und differenzierte Theorie beruht im Wesentlichen auf dem Grundsatz der Gleichheit (jedermann hat gleiches Recht auf gleiche Grundfreiheiten) und auf dem Grundsatz, dass wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen sollen.

Damit verbindet Rawls letztlich Egalitarismus mit dem Bekenntnis zur Wohlfahrt und sieht aufgrund des sogenannten Differenzprinzips die Möglichkeit, auch jemanden in der schlechtesten gesellschaftlichen Position ein hohes Minimum an Grundgütern zu garantieren: Alle sozialen Werte – Freiheit, Chancen, Einkommen, Vermögen und Selbstachtung – sind gleichmäßig zu verteilen, soweit nicht eine ungleiche Verteilung jedem zum Vorteil gereicht.

Natürlich ist Rawls' Gerechtigkeitstheorie nicht unwidersprochen geblieben, sowohl vonseiten der sogenannten Libertianer (etwa Nozick, James Buchanan, Friedrich August von Hayek) als auch vonseiten der Kommunitaristen (etwa Charles Taylor, Michael Sandel, Walzer). Die extremen Vertreter des Liberalismus wie Nozick oder Hayek sehen es keineswegs als eine Ungerechtigkeit an, wenn der Wert der Leistung eines Einzelnen oder einer Gruppe durch Veränderung der Umstände herabgesetzt wird. Und Nozick sieht die Rolle des Staates nur im Schutz des Eigentums und der Rechte der Bürger. Er plädiert gegen jeden Eingriff des Staates und hält an der faktischen Ungleichheit der Menschen fest. Hayek als Vertreter der freien Marktwirtschaft sieht im Wohlfahrtstaat eine Beeinträchtigung der Freiheit des Einzelnen und fordert einen anderen Zugang zur Verteilungsgerechtigkeit seitens des Staates. Für Walzer schließlich ist ein differenziertes Gleichheitsverständnis erforderlich, wie er es in seiner Theorie der sogenannten Sphären der Gerechtigkeit vertritt: Gleichheit, wörtlich verstanden, ist ein Ideal, das seinen Verrat vorprogrammiert hat.

Ähnliche Probleme betreffen auch das von Höffe forcierte Prinzip der Tauschgerechtigkeit, das die Gegenseitigkeit in den Vordergrund rückt. Höffe macht im Sinne der Tauschgerechtigkeit und hinsichtlich Kategorien wie Billigkeit und soziale Gerechtigkeit darauf aufmerksam, dass Gerechtigkeit nicht bei der Verteilung, sondern beim Tausch und der Wechselseitigkeit anzusetzen habe. Verteilung erfolgt gewissermaßen hierarchisch von oben, während der Tausch eine Wechselseitigkeit unter Gleichberechtigten darstellt. Höffe geht davon aus, dass die Verteilung die Herstellung und Verarbeitung von Gütern voraussetzt und damit in jedem Fall hinter der Tauschgerechtigkeit zu rangieren hat. Für ihn bedeutet die Tauschgerechtigkeit auch die Ermöglichung einer ausgleichenden Gerechtigkeit, wie sie etwa im sozialen Bereich und zwischen den Generationen ermöglicht werden kann. Damit meint Höffe sowohl ein Überwuchern des Sozialstaates eindämmen als auch aus dem Prinzip der Tauschgerechtigkeit eine Form der Solidarität ableiten zu können.

Überblickt man die vielfältigen Versuche, Gerechtigkeit im Sozialwesen zu institutionalisieren, so ergibt sich bei aller berechtigten Skepsis gegenüber einer universalistischen Gerechtigkeitstheorie doch die Notwendigkeit, zu einem Minimalkonsens in Hinblick auf die Forderung nach Gerechtigkeit zu gelangen. Dieser Minimalkonsens ließe sich – ohne dabei einen Abschied von der Gerechtigkeit als solcher zu nehmen – als die Forderung nach einer anständigen Gesellschaft im Sinne von Avishai Margalit stellen, einer Gesellschaft, die wiederum auf Gerechtigkeit als Tugend des Einzelnen zurückgreift. Ohne die Grundhaltung dieser Gerechtigkeit als Tugend wird es keine auch nur einigermaßen gerechte Gesellschaft geben. Anstatt ständig Gerechtigkeit als Prinzip einzufordern, sollte Gerechtigkeit im Handeln des Einzelnen wieder einen größeren Raum einnehmen. Schließlich könnten sich einige der Verantwortlichen der Finanzkrise und einige der mehr als überbezahlten Manager und Superreichen auch ihrer Position und ihres Vorgehens zu schämen beginnen. Scham wäre ein guter Anfang.

Was die Differenz zwischen der persönlichen Verantwortung in Hinblick auf den anderen und seine Hilfsbedürftigkeit betrifft, bietet das sogenannte dialogische Denken ein Paradigma an, welches im Spannungsfeld zwischen Solidarität und Nächstenliebe angesiedelt ist. Dialogiker wie etwa Martin Buber oder Ferdinand Ebner, vor allem aber Emmanuel Levinas, haben diese Verantwortlichkeit in einer nahezu absolutistischen Weise betont. Die dialogische Philosophie hat die Beziehung zwischen dem Selbst und dem anderen allen gesellschaftlichen Verhältnissen zugrunde gelegt. Dabei geht es um die Eigenständigkeit und Freiheit des Einzelnen und seiner Beziehung zum anderen. Für Levinas bleibt der andere in seiner Andersheit jemand, der mir eine Verantwortung auferlegt, die eine Appellfunktion enthält, in der Levinas eine Grundforderung aller Humanität und aller Gerechtigkeit erblickt. Verantwortung für den anderen bedeutet aber in dieser Konzeption zugleich auch einen Aufbruch in die eigene Freiheit. Gerechtigkeit im Sinne von Levinas bedeutet, dem Anspruch des anderen, seiner Schutz- und Hilflosigkeit zu entsprechen.

Wie weit kann unsere Verantwortung gegenüber dem anderen, seiner Bedürftigkeit und seinen Ansprüchen reichen? Geht man von der dialogischen Ethik aus, muss die Antwort lauten: Unsere Verantwortung ist allumfassend, weil wir nur durch das Annehmen unserer bedingungslosen Zuständigkeit wir selbst werden können. Dies betont auch Jean-Paul Sartre, wenn er aus unserer persönlichen Freiheit gleichzeitig eine Verantwortung für den anderen emergieren lässt, die bedingungslos darauf gegründet ist, dass wir nicht nur für unsere Handlungen, sondern auch für unser Sein verantwortlich sind. Solidarität ist in diesem Kontext zwar als Gegenseitigkeit zu verstehen, die Forderung der dialogischen Ethik besteht aber auch darin, mit anderen solidarisch zu sein, die zu einer solchen Haltung (noch) nicht fähig sind, nicht zuletzt deswegen, weil sie sonst nie eine solidarische Haltung entwickeln können.

In Unkenntnis aller dieser Theorien hat der heilige Martin einfach gehandelt, er hat geteilt. Ähnlich wie Levinas aus dem Antlitz des anderen eine implizite Forderung ableitet, für diesen Verantwortung zu übernehmen, hat sich Martin fernab von ethischen Theorien als Mensch von seinem Mitmenschen und dessen Schicksal betreffen lassen. Ein solches Handeln ist das Heilige in unserem Leben. ■

Geboren 1942 in Wien. Emeritierter Ordinarius für Philosophie an der Universität Wien. Professor für Ethik in der Medizin an der Donau-Universität Krems. Sein Beitrag, unter Mitarbeit von Eva Horvatic entstanden, ist die Kurzfassung eines Vortrags, den er am 15. Juli bei den Carinthischen Dialogen auf Schloss Bach in St. Urban, Kärnten, hält (www.carinthische-dialoge.at).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.07.2016)

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