Sehnsucht nach der Peitsche?

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NKOREA-POLITICS-CONGRESS-PARTY-PARADEAPA/AFP/ED JONES
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Alle haben ihren Text gelernt. Der einsame buddhistische Mönch im Pohyon-Tempel, die Kindergärtnerin in Chonsam. Auch die Chefin des Zeitschriftenladens an der Grenze zu Südkorea, die sehr gut Englisch spricht, es aber sofort vergisst, als ich frage, wo sie es gelernt hat. Das steht nicht im Skript. Nordkorea – eine Visite.

Auf dem breiten Uferplateau zwischen dem Juche-Turm und dem Taedong-Fluss, mitten in Pjöngjang, stehen an die tausend Menschen, penibel in Reihen geordnet. Plötzlich Marschmusik aus den Lautsprechern, ein gebelltes Kommando. Die ersten drei Reihen lösen sich ruckartig, reißen die Arme hoch, schwenken Papierblumen, stürmen nach vorne, jubeln. Ein Kommando unterbricht sie. Die Jubelnden lassen abrupt Arme und Köpfe sinken, traben zurück. Zweiter Versuch. Musik, Gebrüll, Vorwärtsstürmen, Blumenschwenken, Jubel. Abbruch. Zu wenig Begeisterung. Dritter Versuch.

Ein Sonntag in Pjöngjang. Die Leute üben für den 10. Oktober, an dem die Partei der Arbeit ihre Gründung feiert. Sie werden üben, bis alles sitzt und passt. Präzise Masseninszenierung, wie sie in allen kommunistischen Ländern gepflogen wurde, wird heute nirgendwo so perfekt und hingebungsvoll zelebriert wie in Nordkorea. Dass wir die Exerzitien am Ufer beobachten, ist dem Reisebegleiter, einem jungen, intelligenten Herrn, nicht angenehm. Er ersucht uns, in den Bus zurückzukehren.

Es ist unser dritter Tag in Nordkorea. Wir sind eine private Reisegruppe, das Programm ist vom staatlichen Tourismusbüro streng getaktet. Wir fahren kreuz und quer durch das Land, zu Königsgräbern, Tempelanlagen, Wasserfällen und Gebirgszügen. Die Landschaft ist schön und sehr aufgeräumt, aber seltsam leer. Die drei oder vier großen Verbindungsstraßen sind voller Schlaglöcher und praktisch ohne Schwerverkehr, ab und zu ein privates Auto neuester Bauart aus einem Joint Venture mit Pyeonghwa Motors in Seoul. Keine Tankstellen, keine Raststätten. Gegen Abend lange Menschenschlangen, Menschen, die von den Feldern kommen und auf den Bus warten oder zu Fuß entlang der Straße in ihr Dorf ziehen. Kolonnen von Fahrrädern, Arbeitsbrigaden und Soldaten der Volksarmee, mit Schaufel und Spaten.

25 Millionen Menschen leben in einem Land, das so groß ist wie Österreich und Belgien, aber außer in Pjöngjang bekommen wir nicht viele zu sehen. Wo sind sie? Wir fahren durch große Städte, Wonsan, Kaesong, aber vom Stadtleben bekommen wir nichts mit. Wir betreten kein Warenhaus, besuchen keinen Markt. Allein darf ein Tourist abends nicht aus dem Hotel oder nach dem Mittagessen über einen Dorfplatz gehen. Immer sind zwei staatliche Aufpasser dabei, die darauf achten, dass wir mit niemandem Kontakt aufnehmen. Was wir außerhalb von Pjöngjang zu sehen bekommen, ist eine Auslage in mustergültiger Ordnung, Hotels mit viel Marmor, in denen außer uns niemand absteigt, eine landwirtschaftliche Kooperative, in der außer der Leiterin niemand mit uns spricht und auch sonst kaum jemand zu sehen ist. Ab und zu im Vorbeifahren ein Dorf aus Plattenbauten, von fern ahnt man den schäbigen Putz an den Wänden. Lokomotiven wie aus einem Industriemuseum, verlassen auf Abstellgleisen. Auf den sauber gepflügten Feldern ziehen manchmal Ochsen einen Holzpflug, selten ein Traktor, und wenn, ist er mindestens 40 Jahre alt. Wir sehen kaum Maschinen, fast alles ist Handarbeit. Die Industrieproduktion bewegt sich auf niedrigstem Niveau, das Land hängt an der Nabelschnur Chinas. Nordkorea ist eines der ärmsten Länder der Welt, pro Kopf 783 US-Dollar beträgt das BIP, etwa so viel wie in Simbabwe.

Es ist nicht die Armut des Landes, die verstört, denn die gibt es in vielen Ländern. Und außer dass es abends überall finster wird, weil das Energienetz zusammenbricht, fällt sie nicht auf. Was auffällt, ist die Rückständigkeit auf dem Land, der krasse Unterschied zu den Städten. Wir sehen keinen zerlumpten Obdachlosen, keine bettelnden Waisen. Es gibt sie, auf Bildern im Internet, aber sie bleiben unsichtbar. Was verstört, ist die Stille der Städte, ohne Geselligkeit, ohne Kindergeschrei, ohne Teestuben, vor denen ältere Herrschaften sitzen, rauchen und sich unterhalten, ohne Garküchen und Menschengewühl. Die dröhnenden Lautsprecher um fünf Uhr früh, die mit Marschmusik und markigen Sprüchen die Leute von Kaesong aus den Betten holen, eine geschlagene Stunde lang. Die unentrinnbare, zähflüssige Kontrolle und Disziplin. Keine betriebsame Geschäftigkeit wie sonst überall in Asien.

Die übernatürlichen Fähigkeiten der drei Kims, allwissend, allmächtig, allgegenwärtig, werden von den wenigen Menschen, die mit Ausländern reden dürfen, ständig betont, lächelnd und ohne jede Ironie. Sie scheinen das wirklich zu glauben. Die ernsthafte Hingabe, mit der die Leute vor den 20 Meter hohen Bronzestatuen der beiden ersten Kims Blumen niederlegen und sich tief verneigen, wirkt nicht gespielt. Von klein auf wurde ihnen eingetrichtert, sie seien allen anderen Völkern weit überlegen. Unter ihrem gottgleichen Führer seien sie das glücklichste Volk der Welt. Die dahingegangenen Kims sind unsterblich und nach wie vor im Amt, Kim Il Sung als ewiger Präsident, sein Sohn Kim Jong Il als ewiger Generalsekretär.

Der dritte Kim ist derweil nur Marschall und hat den Drang, sich ständig seiner Macht zu vergewissern. Nach außen provoziert Kim Jong Un durch seine wüsten Drohungen gegen die Amerikaner. Immer wieder lässt er Simulationen einer explodierenden Atombombe über Manhattan verbreiten. Dem Westen, der an allen Problemen schuld ist, muss im besten Fall mit Misstrauen, im schlimmsten mit unerbittlicher Feindschaft begegnet werden. Einem Land, das aus der Zeit gefallen ist, klingt diese Rhetorik durchaus glaubhaft. Es soll sich mental vorbereiten, die USA anzugreifen, die Südkoreaner zu befreien und dem Norden anzuschließen. Das ist weitaus radikaler als der Traum des Großvaters von einer Wiedervereinigung unter Aufrechterhaltung der beiden Systeme. Das war naiv, aber lange nicht so verrückt wie die Kriegsspiele seines Enkels. Weiß er, was real ist und was ein Videogame?

In den täglichen Propagandavideos des staatlichen Fernsehens inszeniert sich Kim Jong Un als Vater und Mutter zugleich. Er denkt an alles, kümmert sich um alles. An einem Abend sieht man ihn beim Besuch einer Schule, am nächsten in einer Druckerei, am dritten in einer Möbelfabrik. Überall bringt er Vorschläge, was man besser machen kann. Die Botschaft ist klar. Alle Nordkoreaner sind seine Kinder, er schützt sie vor der Aggression der Feinde, appelliert an ihre Opferbereitschaft, demonstriert seine Entschlossenheit, die Amerikaner zu besiegen. Er braucht diesen Feind und die Angst vor ihm, um zu erklären, warum die Armee, mehr als eine Million unter Waffen und vier Millionen in Reserve, absolute ökonomische Priorität hat. Der Feind ist omnipräsent, so wie der Führer selbst. Wo immer er sich zeigt, versinken die Menschen in einem Glücksrausch, brechen in Tränen aus. Die Bilder gleichen jenen, die man vom Auftritt diverser Sektenführer und ihren Anhängern kennt, und je öfter ich sie sehe, desto weniger ist mir zum Lachen zumute.

Das Regime erschafft seine Wirklichkeit und verwendet viel Energie daran, dass nichts dem Zufall überlassen bleibt. Für jede Situation muss es ein Drehbuch geben, besonders wenn das Ausland dabei ist mit seinen Kameras. Strahlendes Lächeln ist vorgeschrieben. Alle haben ihren Text und ihren Auftritt gelernt. Der einsame buddhistische Mönch im Pohyon-Tempel, der uns versichert, wie großzügig sich der geliebte Führer den Religionen gegenüber zeigt; die Kindergärtnerin in Chonsam, die eine Performance ihrer wohlerzogenen Vierjährigen vorführt; die Chefin des Zeitschriftenladens in Panmunjon, direkt an der Grenze zu Südkorea, die sehr gut Englisch spricht, es aber sofort vergisst, als ich frage, wo sie es gelernt hat. Sie dreht sich um. Das steht nicht im Skript.

Die Kim-Dynastie hat zu ihrer Huldigung im ganzen Land riesige Monumente errichtet, deren Besuch auch für Touristen obligat ist. Darunter der Kumsusan-Palast in Pjöngjang, der frühere Amtssitz Kim Il Sungs und jetzt sein prunkvolles Mausoleum und das seines Sohnes. Der Besuch läuft nach einem bizarren Zeremoniell ab, auf das wir penibel vorbereitet werden: in andächtigem Schweigen uns zuerst vor den monumentalen Wachspuppen der beiden Kims tief zu verbeugen und danach, in zwei weiteren, rot illuminierten Sälen, vor den Füßen und seitwärts ihrer einbalsamierten Leichname. Dann geht der Weg vorbei an Hunderten Orden, Ehrendoktoraten und Honorarprofessuren, die sie eingesammelt haben, sowie ihren Autos, Eisenbahnwaggons und sonstigen Devotionalien. Im Myonhyang-Gebirge steht der Palast der Völkerfreundschaft, wo in endloser Abfolge die teils protzigen, teils skurrilen Geschenke aus aller Welt ausgestellt sind. Darunter eine schusssichere Staatslimousine von Stalin, ein Baseball der früheren US-Außenministerin Madeleine Albright und ein ausgestopfter Alligator der Sandinisten von Nicaragua. Auch Österreich ist mit einer Kuckucksuhr, einem Häferl des Gewerkschaftlichen Linksblocks und einer geweihten Kerze aus St. Pölten vertreten.

Spätestens nachdem wir diese Weihestätten absolviert haben, frage ich mich, in welchem System wir uns hier befinden. Ist das wirklich ein kommunistisch regiertes Land mit Planwirtschaft und Personenkult oder ein säkularer Gottesstaat? Ob seine Stabilität nun von Angst, Indoktrinierung, konfuzianischer Tradition, Zynismus oder Nationalismus genährt wird, ist schwer zu sagen. Gehirnwäsche wäre das falsche Wort. Die Nordkoreaner wissen, dass sie in einem Überwachungsstaat leben. Dass ihnen ein brutales Arbeitslager droht, wenn sie aufmucken oder versuchen, nach China zu flüchten. Dass ihnen der Aufstieg verwehrt ist, der sich in ganz Ostasien abspielt. Dass ihre Wirtschaft auf dem Boden liegt. Aber was wissen sie von der Welt?

Jedenfalls mehr, als dem Regime lieb ist. Jeder Zehnte soll bereits ein Handy haben, das zwar nur innerhalb des Landes funktioniert, aber jetzt kann untereinander kommuniziert werden. Manche schaffen es auch, die SIM-Karte zu manipulieren und in die einzige Datenleitung via China zur Außenwelt einzusteigen. In Pjöngjang gibt es sogenannte Notels um umgerechnet 44 Euro zu kaufen, eine Mischung aus Notebook und TV, kleine, tragbare Fernsehgeräte mit einem DVD-Laufwerk. Hergestellt werden sie in China ausschließlich für den nordkoreanischen Markt. Über USB-Sticks werden Filme eingeschmuggelt, am liebsten amerikanische Serien, aber auch Nachrichten und E-Books. Der Besitz eines Notels ist seit Dezember 2015 legal, Nutzer müssen ihre Geräte allerdings registrieren lassen. Wer sich verbotene Ware ansieht, kann Monate und Jahre im Gefängnis ausfassen, schreibt das US-Magazin „Wired“. Und wer beim Schmuggeln erwischt wird, dem droht die Hinrichtung. Das wird weder die Informationsflut aufhalten noch den Einfluss der verhassten westlichen Lebensform.

Kurz nachdem ich nach Wien zurückgekehrt bin, sehe ich den „Auftrag“, Heiner Müllers messerscharfes Stück über den Verrat an der sozialen Revolution und das Scheitern der Utopien. Eine Abrechnung mit den Jakobinern, Marx, Lenin, Stalin, Mao und Che Guevara. Vielleicht war, fragt er darin, was wir für das Morgenrot der Freiheit hielten, nur die Maske einer neuen, schrecklicheren Sklaverei? Und was ist, wenn sich die befreiten Sklaven zurück nach der geliebten Peitsche sehnen? Wie lange dauert es, bis die Angst überwunden ist? Wie lange, um eine unbekannte Freiheit zu umarmen? ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.07.2016)

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