Was ist Charisma?

„Ich mag das Wort ,conductor‘ nicht, ich führe keinen Zug oder Bus. Ich gehe vor ein Orchester, habe eine Idee und versuche, diese den Musikern mitzuteilen. Sie können das akzeptieren oder nicht, sie können sie teilen oder nicht oder wenigstens respektieren.“ Zum 75. Geburtstag: Riccardo Muti erzählt.

Wenn wir unsere Kultur, das ist unsere Geschichte, nicht verteidigen, werden wir unsere Identität verlieren. Das wäre eine Tragödie für unsere Welt, vor allem für Länder wie Österreich oder Italien, die auf zumindest 2000 Jahre christlicher Geschichte beruhen. Ob man glaubt oder nicht, ist nicht wichtig.

Ich komme aus einer süditalienischen Familie, mein Vater war Arzt in Apulien und verfügte über einen fantastischen Tenor. Er liebte Musik und war überzeugt, dass Musik ein wichtiger Teil der Erziehung ist. Deswegen lernten wir alle – wir waren fünf Kinder – ein Instrument. Nur ich machte Probleme, ich wollte lieber Fußball spielen und mit meinen Freunden auf dem Platz herumtollen. Ich war sieben Jahre, als ich am 6. Dezember, dem Tag des heiligen Nikolaus, eine Violine statt eines Zuges oder eines anderen Spielzeugs geschenkt bekam. Ich spürte, dass etwas Schreckliches mein Leben verändern wird. Ich hasste Musik, wollte daher kein Solfeggio lernen. Nach sechs Monaten sagte der Lehrer zu meinem Vater, der Unterricht habe keinen Sinn, ich hätte kein Talent. Meine Mutter, die Musik weniger interessierte als meinen Vater, wollte, dass man mir noch einen Monat eine Chance geben solle. Warum, weiß ich bis heute nicht, aber Mütter treffen manchmal solche Entscheidungen. Mit ihrem Satz: „Versuchen wir es noch einen weiteren Monat“ hat sie mein Leben jedenfalls komplett verändert.

Eines Morgens begann ich plötzlich die Musik zu lesen, für den Lehrer war es wie ein Wunder. Schon nach wenigen Monaten konnte ich ein Violinkonzert von Vivaldi vor Publikum spielen, und zwar vor 300 jungen Priestern. Diese Atmosphäre war mir vertraut, denn mein Vater ging nach seinen Visiten in Klöster oder Seminare, um unentgeltlich ärztliche Hilfe zu leisten. Nach fünf, sechs Jahren wollte ich Klavier lernen. Als ich in Bari Nino Rota vorspielte, meinte er, ich müsse Musik studieren: „Ich gebe dir die maximale Punktezahl, aber nicht dafür, wie du jetzt spielst, sondern wie du in Zukunft spielen wirst.“ Als ich am Konservatorium in Neapel mein Diplom als Pianist machte, hörte mich der Direktor und fragte mich, ob ich nie daran gedacht hätte, Dirigent zu werden. Nach meinem Klavierspiel sei ich mehr Dirigent als Pianist. So wechselte ich in diese Laufbahn. Auf meine Frage, wie ich es anstellen sollte, meinten meine Lehrer, sei nicht aufgeregt, stell dich vor ein Orchester, mach das, irgendetwas wird passieren.

Als Verdi gefragt wurde, was für ihn Talent sei, sagte er: „Arbeit, Arbeit, Arbeit.“ 70 Prozent ist Arbeit. Man kann sich nicht auf das Talent verlassen. Verlässt man sich darauf, dann verlässt man sich auf Instinkt. Aber Instinkt ohne Grund, ohne Hirn, ohne Kultur, das ist wie ein Tier. Wenn man Sänger bittet, eine Phrase in einer bestimmten Weise zu singen, antworten sie oft, sie fühlten das so. Was heißt fühlen? Musik hat Regeln. Selbst die schönste Phrase basiert auf harmonischen Regeln. Um das zu kennen, muss man Komposition studieren. Als ich mit meiner Dirigentenausbildung begann, sagte der Direktor des Konservatoriums: „Von morgen an studieren Sie Komposition!“ Das taten alle Dirigenten in der Vergangenheit. Heute ist das nicht mehr so. Heute glauben viele, ein Dirigent ist, wer die Arme bewegt. Carlos Kleiber, der ein enger Freund von mir war, sagte: „Riccardo, es würde wundervoll sein, wenn wir dirigieren könnten, ohne zu dirigieren.“ Dirigieren ist zur Kunst, bloß die Arme zu bewegen, geworden. Toscanini sagte, die Arme sind der Ausdruck des Hirns. Heute studieren junge Menschen Dirigieren. Was bedeutet das? Nichts! Sie sollten Musik studieren, Klavier, Violine, Literatur. Wenn man eine Idee hat, muss man sie den Musikern vermitteln. Man hat vor sich fantastische Musiker, die schauen auf dich, sie wollen Ideen sehen und hören, nicht, wie schön man ist oder wie schön die Bewegungen sind, die man auf dem Podium macht.

Ein Komponist, der viel in Jurys bei Dirigentenwettbewerben sitzt, sagte mir, heute können wir Dirigenten – ich spreche von der jungen Generation – in zwei verschiedene Gruppen einteilen: die euro-amerikanischen und die asiatisch-orientalischen. Die Europäer und Amerikaner bewegen ihre Arme wie Schauspieler. Die Musiker sind arm, denn die wissen oft nicht, wie sie reagieren sollen. Die Asiaten machen Kung-Fu. Ich würde lieber sehen und hören, wie sie Musik machen. Toscanini formulierte, jeder Dummkopf kann Takt schlagen, durch Taktschlagen Musik zu machen ist selten. Musiker fühlen sofort, was man will.

Heute ist es nicht so wie vor 50 Jahren, als Dirigenten Diktatoren waren. Sie konnten einen Musiker unverzüglich feuern, unglücklicherweise. Heute ist es umgekehrt, man kann ein Orchester nicht zu etwas zwingen. Ich mag das Wort „conductor“ nicht, ich führe keinen Zug und keinen Bus. Ich gehe vor ein Orchester, habe eine Idee und versuche, diese den Musikern mitzuteilen. Sie können das akzeptieren oder nicht, sie können sie teilen oder nicht oder wenigstens respektieren. Glücklicherweise leben wir nicht in einer Gesellschaft von Ja-Sagern. Deshalb muss man die Musiker überzeugen, dass meine Idee eine Möglichkeit ist. Wenn sie spüren, dass das interessant ist, selbst wenn sie nicht 100-prozentig zustimmen, folgen sie einem.

Wie kann man sie überzeugen? Sicher nicht durch Schreien, sicher nicht dadurch, dass man den Clown auf dem Podium mimt, sondern durch Charisma. Aber was ist das? Man kann nicht sagen, jetzt versuche ich charismatisch zu sein. Ein Orchester erkennt sofort, ob man ehrlich und authentisch ist, oder ob man etwas vortäuscht. Musiker, die einen Dirigenten zum ersten Mal sehen, erkennen schon an der Art, wie er von der Bühnentür auf das Podium geht, welche Person er ist. Die Kombination Dirigent und Orchester kann Momente schaffen, die man nicht erwartet.

Musik ist bedeutend, wenn sie in die Welt der Überraschung vorstößt, wenn wir in der Lage sind, in einer Aufführung unerwartete Momente zu schaffen, nicht Routine. Ich erinnere mich an ein Konzert mit Bruckners Siebenter mit den Wiener Philharmonikern. Es war eine gute Aufführung, im Adagio spürte ich einen Moment kommen – aber das war nicht ich. Nicht ich habe diesen besonderen Moment geschaffen, aber es stand etwas bevor. Tatsächlich war es ein Moment von magischer Intensität. Jeder im Auditorium und auf der Bühne spürte das. Als ich das voll erkannte, war es auch schon wieder vorbei.

Wenn man sich vornimmt, heute Abend wird es ein großes Konzert, kann man sicher sein, dass es ein Desaster wird. Man kann nur versuchen, sein Bestes zu geben. An anderen Tagen fühlt man sich müde, will eigentlich nicht, aber es klappt. In der Wirtschaft machen die Wörter die Probleme, man kommuniziert mit Wörtern. Das ist einer der Gründe für die Katastrophen dieser Welt, denn mit Wörtern kann man lügen. Musik dagegen kann nur gut oder schlecht sein. Heute ist es zur Regel geworden, von Stars zu sprechen, selbst bei Hotels: drei, vier, fünf Sterne, fünf S oder L, Luxury. Die Welt ist anders geworden. Selbst in Kritiken ist von Stars die Rede. Wir denken, ein Star ist ein guter Sänger und wurde ein Star, weil er ein guter Sänger ist – das muss nicht so sein. Für mich sind Sänger Sänger. Es ist ein Missverständnis, wenn Publikum und Kritiken sagen, der Dirigent folgte sehr gut den Sängern,– ich folge ihnen nie. Das ist keine Frage von Autorität oder Diktatur. Es ist auch nicht wie auf dem Flugplatz, wo es heißt, folge mir, wenn der Flieger ankommt. Ein Dirigent ist für die gesamte Produktion verantwortlich, so wurde ich erzogen, so wuchs ich auf. Heute gibt es einige Fehlentwicklungen. Wollte man früher eine Oper machen, nehmen wir als Beispiel Verdis „Otello“, war die erste Frage des Direktors, ob es einen Sänger für den Otello gibt. Gibt es niemanden für diese Partie, kann man „Otello“ nicht machen. Dann folgte die Frage nach dem Dirigenten. Er muss den Regisseur aussuchen. Warum? Er sollte die musikalische Idee auf der Bühne verwirklichen, vorausgesetzt, ein Dirigent hat eine solche. Dann sollte der Dirigent seine Wünsche für die Besetzung nennen. Dieses Team sollte musikalisch und darstellerisch die Ideen von Dirigent und Regisseur verwirklichen.

Heute ist es umgekehrt: Man sucht zuerst nach einem Regisseur. Es ist gar nicht mehr wichtig, wer den Otello singt. Dann machen sich Regisseur und Intendant auf die Suche nach der Sängerbesetzung und schließlich nach einem Dirigenten. Ein guter Dirigent akzeptiert in der Regel weder den Regisseur noch die Besetzung, die er nicht ausgesucht hat. So kommt es zu den heute üblichen Vorstellungen. Das findet auch in der Kritik ihren Ausschlag. Dort werden drei Viertel des Textes für die Inszenierung verwendet, drei Zeilen bleiben für die Musik. Das ist ist ein Desaster für die Oper.

Eine neue Produktion bedeutet nicht eine neue szenische Darstellung; ich wäre interessiert, etwas über die musikalische Interpretation zu erfahren. Das ist einer der Gründe, warum ich 1999 die Salzburger Produktion von „La clemenza di Tito“ verließ. In dieser Oper hätte ich die Ouvertüre vor einem Vorhang mit dem violetten Schuh einer Frau dirigieren sollen. Unglaublich! Oder diese „Traviata“ an der Scala: Wenn Alfredo singt, Violetta hat mein Temperament verändert, ich bin voller Feuer, singt er dies, während er Pasta zubereitet. Ohne Pasta gibt es wohl kein Italien! Die einzige Person, die bei dieser Szene in dieser Inszenierung sitzt, ist der Gärtner, dabei sollte er im Garten arbeiten. Ich würde gerne Verdi fragen, was er davon hält.

Mozart sagte einen wichtigen Satz: Die tiefste Musik steht zwischen den Noten. Das ist eine Feststellung von enormer Profundität. Zwischen den Noten gibt es etwas, was man nicht kontrollieren kann, die unbegrenzten Möglichkeiten einer Interpretation. Selbst wenn man manchmal von einer definitiven Interpretation einer Aufführung oder Aufnahme liest – abgesehen davon, dass solches absurd ist: Es gibt nichts Definitives in der Musik. Wir versuchen, die Musik zu lesen und etwas von der Stimmung auf den Seiten hinüberzubringen. Wir müssen die Noten zu einem Klang bringen. Wir sehen die Klänge nicht. Wenn die Noten in der Partitur stehen, sprechen sie nicht; wenn man ihnen Leben gibt, klingen sie, aber man dann kann sie nicht sehen. Es ist tatsächlich etwas Göttliches: Zwischen den Noten ist das Universum.

Es gibt unendliche Möglichkeiten, wie man diese musikalische Welt schaffen kann. Das ist die Magie. Ich glaube immer, dass unsere Musik eine Art Spiegel der Musik des Universums ist. Ich glaube nicht, dass die Planeten das Universum ohne Musik umkreisen, wohl nur Gottes Ohr kann diese Harmonie wahrnehmen. Von diesen Klängen im Universum kommen die Klänge auch zu unserem Planeten, hier kommen sie zu uns allen. Das ist ein Grund, warum Mozart bis zu seinem frühen Tod im Alter von 35 Jahren so viel fantastische Musik geschrieben hat. Gott gab ihm die Möglichkeit, dass er göttliche Musik schuf. Salieri war ein großer Komponist, er konnte nicht verstehen, dass er nicht jene Inspiration hatte wie dieser Bub. Das ist der Beweis, dass etwas im Universum existiert.

Manager und Dirigenten müssen in ihrer Arbeit zuerst versuchen, Ideen zu haben und davon so überzeugt zu sein, dass sie andere davon überzeugen können. Wenn Manager sehr mächtig sind, bekommen sie das Resultat von dem, was sie wollen. Sie können das auch autoritär durchsetzen. Wenn wir das bei Musikern versuchten, bekämen wir das Gegenteil. Wir müssen uns nicht nur mit den Köpfen, sondern vor allem mit den Herzen beschäftigen. Die Basis heißt: „mit Liebe“. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.07.2016)

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