Was niemand mehr lesen mag

„Expedition Europa“: unter verarmten Griechen.

Diesmal schreibe ich auch einmal, was niemand mehr lesen mag – eine Sozialreportage über die Verarmung der Griechen. Ich höre den Stammtisch grummeln: Nach all den Milliarden, die wir ihnen überwiesen haben, jammern die Griechen immer noch? Dieser Frage ging ich gesondert nach. Eine Studie der Berliner Hochschule ESMT ergab, dass von den ersten beiden Rettungsprogrammen weniger als fünf Prozent in das griechische Budget gingen. 139 der 216 Milliarden flossen in Schuldenrückzahlung und Zinsen, 37 Milliarden als Kapitalhilfen an Banken. Ich fragte in Berlin einen der Schlüsselakteure der Rettungspolitik, den Finanzpolitiker Jörg Asmussen. Er erklärte: „Also, in den griechischen Staatsetat gingen rund 20 Prozent. In der Tat, man hat oft die Anleihen umgeschuldet.“ Ich fragte in Athen einen Syriza-nahen Ökonomen, den in den USA lehrenden Professor Dimitri Papadimitriou. Nach seiner Rechnung „waren von den 216 Milliarden nur 15 dazu da, dass der griechische Staat die Verpflichtungen gegenüber seinen Bürgern zahlt“.

Ich also wieder in Athen. Die Berge im Norden, Osten sowie Süden und das Meer im Westen schufen einst ein Mikroklima zum Ersinnen von so feinen Dingen wie der Demokratie, das der Mensch im 20. Jahrhundert auf der halben Fläche Wiens in eine Smogglocke für 3,5 Millionen verwandelte. Athen, das sind außerplanmäßige Pausen in den Zügen. Das ist penetrant nach Chlor stinkendes Leitungswasser. Das sind die bei Nacht ausgelegten Porno-DVDs im Anarchisten-Hieb Exarchia. Athen, das sind aber auch Sandstrände unter Palmen und ziemlich nette Leute. Dafür, dass die Wirtschaft seit 2010 in einem Maße schrumpft, wie man das anderswo nur aus Kriegszeiten kennt, war wenig schreiende Armut zu sehen. Gewiss, auf Pier E7 im Hafen Piräus sah ich Obdachlose mit Einkaufswagen und im Larissa-Viertel Migranten, die auf dem Gitter des Lüftungsschachts der U-Bahn schliefen. Doch unterschieden sich auch die Obdachlosen wenig von Sandlern in Wien.

Ein Tag bei der Sozial-NGO „Praxis“

Ich verbrachte einen Tag mit der großen Sozial-NGO „Praxis“. Man zeigte mir ein „Open Day Center“, in dem Obdachlose ein Bad, einen Waschsalon, einen Friseur, eine Bücherei und Griechischkurse fanden. Dann das „Athens Solidarity Center“, das Essensausgabe mit Kinderbetreuung und medizinische Versorgung mit einem Jobservice verband. Zehntausend Menschen werden hier jährlich versorgt, Griechen und seit dem Schließen der Balkanroute auch massenhaft Migranten. Die Leiterin Tina sagte: „Das Leben ist voller Paradoxa: Die EU erlegt Griechenland Austeritätsmaßnahmen auf, und gleichzeitig finanziert sie Griechenland zur Bewältigung der Folgen.“

Das Essenzielle an der Pauperisierung Griechenlands konnte ich auch bei „Praxis“ nicht sehen. Ich konnte es nur aus den Gesprächen hören. Ich hörte von Griechen, die „homeless at home“ sind, „aus dem System gefallenen“ Griechen. Krankenversicherung ist an einen Arbeitsplatz geknüpft, nach Auslaufen der Arbeitslosenzahlungen bekommt man nichts mehr vom Staat. Auch wenn die Regierung von ihrer Einführung spricht, gibt es in Griechenland keine Sozialhilfe. Niemand konnte mir sagen, wie viele Griechen inzwischen „ausgesteuert“ sind. Es könnte eine Million sein.

Der Hauptteil meiner Sozialreportage fand fortan in meiner Vorstellung statt. Ich blickte auf die aneinandergepressten Athener Wohnblöcke, auf die durchlaufenden Balkone mit ihrem Stadtdschungel aus Topfplanzen und Klettergewächs. Hinter diesen Balkonen stellte ich mir Menschen vor, die nicht mehr rausgehen. Menschen, denen der Strom abgedreht wurde oder das Wasser. Menschen, die zu Hause obdachlos sind. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.07.2016)

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