Der Männer taube Ohren

Ein Prosaworkshop für Frauen – in Basra? Das fragte ich mich unwillkürlich, als ich gebeten wurde, die Leitung einer Schreibwerkstatt in der wichtigsten Hafenstadt des Irak zu übernehmen. Meiner Geburtsstadt, die heute Abbild der Verheerung des ganzen Landes ist. Protokoll einer Wiederbegegnung.

Ein Prosaworkshop für Frauen – in Basra? Das fragte ich mich unwillkürlich, als mich Birgit Laubach von der Berliner Organisation Elbarlament anrief und bat, die Leitung dieser Schreibwerkstatt in der wichtigsten Hafenstadt des Irak, der Millionenmetropole am Persischen Golf, zu übernehmen. Meine letzte Reise nach Basra lag schon zwei Jahre zurück, und ich ging nicht davon aus, dass sich die Stadt in diesen zwei Jahren positiv gewandelt hatte. Im Gegenteil, die Nachrichten von dort verhießen nichts Gutes, sei es, was die Zerstörung ihrer Infrastruktur anbetraf, sei es in Bezug auf den Niedergang der staatlichen Autorität, das Nichtfunktionieren der Verwaltung oder die allgegenwärtige Korruption, die traditionelle Macht der Clans und den ausufernden Waffenbesitz nicht zu vergessen.

Der Gebrauch der Schusswaffe steht in Basra auf der Tagesordnung. Hinzu kommen die Ehrenmorde, denen jedes Jahr Dutzende Frauen zum Opfer fallen. Unter derartigen Umständen, sagte ich mir, wollen beherzte deutsche Suffragetten einen Prosaworkshop für Frauen organisieren? Ich nahm die Herausforderung an, sagte zu. Vielleicht aus Verantwortungsgefühl oder irgendeinem inneren Antrieb, der der Rückbesinnung auf einen alten Glauben an Literatur gleicht? Oder vielleicht aus einer Art Abenteuerlust, die womöglich mit einem literarischen Erbe in Zusammenhang steht, an das heutzutage niemand mehr denken möchte? Erinnert sei nur an all jene Schriftsteller, die aufseiten der republikanischen Brigaden in den Spanischen Bürgerkrieg zogen.

Natürlich hat meine Reise am Ende nichts anderes bewirkt, als das allgemeine Bild von Verwüstung und Verwahrlosung zu bestätigen, von dem ich sprach, ein Bild, das offensichtlich wird, sobald man aus der Ankunftshalle des Flughafens tritt. Gelten auf der ganzen Welt Straßen zu Flughäfen als Zeichen für den Aufstieg und Triumph der Städte, so sagt die Straße, die Basra mit seinem Flughafen verbindet, alles über die Stadt aus: allgemeine Zerstörung, als hätten die 13 Jahre, die seit dem Machtwechsel im Irak vergangen sind, nichts gebracht, als den Heimsuchungen der Stadt durch die Kriege des gestürzten Diktators weitere hinzuzufügen. Nun gut, da Privatfahrzeugen die Zufahrt zum Flughafen aus Sicherheitsgründen nicht gestattet ist und diese auf einem weit entfernten, außerhalb des Flughafengeländes gelegenen Parkplatz warten müssen, bringen Pajero-Geländewagen der schnellen Eingreiftruppe die Reisenden dorthin. Doch dieser Parkplatz ist lediglich eine schnell asphaltierte Fläche unter freiem Himmel, je nach Jahreszeit ungeschützt Regen, Staub und sengender Hitze ausgesetzt. Und wer sich von dort vor der in diesen Tagen schon unbarmherzig brennenden Sonne flüchtet, findet sich bei der Einfahrt in die Stadt vor unzähligen roten Ampeln wieder, umstellt von verschleierten Bettlerinnen, deren Hidschab nur die Augen freigibt, von Kindern und Krüppeln, die Taschentücher und Kaugummis verkaufen und betteln.

Eine moderne Stadt – damals

Bis Ende der 1970er-Jahre, ehe die Stadt zum Kriegsschauplatz und Ziel wiederkehrender Bombardierungen wurde, war Basra eine moderne Stadt. Ich sage dies nicht nur, weil ich die Stadt gut kenne, seit ich einen beträchtlichen Teil meiner Kindheit hier verbracht und immer meinen Großvater begleitet habe, der als Inspektor bei der irakischen Dattel-Company arbeitete. Nicht nur, weil ich daran gewöhnt war, diese sommerlichen Wochen des Nichtstuns im Haus meiner Großeltern in Basra zu verbringen, und auch nicht, weil diese Stadt mein Geburtsort ist. Nein, vor allem, weil alle historischen Aufnahmen aus der Stadt dies bezeugen: alte Häuser, die in ihrer Bauweise an die internationale Bauhaus-Architektur erinnern; moderne Autos, die auf ordentlich gepflasterten Straßen dahinrollen; Passanten, die auf sauberen Gehsteigen flanieren. Und vor allem die Vielzahl kleiner Kanäle und Grachten, derentwegen die Stadt einst auch als „Venedig des Ostens“ bezeichnet wurde, damals, als man nicht wusste, mit welchem Ehrentitel man Basra bedenken sollte, da die Stadt sie alle verdiente: das Basra des Hafens und der Seeleute aus aller Welt, das Basra der Corniche mit allen nur erdenklichen Restaurants und Weinschenken, das Basra des al-Watani-Boulevards mit seinen Vergnügungslokalen und Kinos, das Basra der Palmenwälder, der abendlichen Unterhaltung und seiner Dichter. Dieses Basra ist heute leider nur noch Abbild der Verheerung des gesamten Landes.

Wie also hätte ich anfangs nicht am Erfolg eines Schreibworkshop-Projekts zweifeln sollen? Auch wenn ich derjenige war, der vorschlug, der Werkstatt den Titel „Schreiben um des Lebens willen“ zu geben: weil ich hoffte, auf diese Weise der Stadt und ihren Frauen wenigstens ein bisschen vom Leben zurückzugeben.

Die erste Überraschung war, dass weder die hochsommerlichen Temperaturen von mehr als 40 Grad noch berufliche Belastungen, weder die Mühen der Anreise noch die Taxikosten derart viele Frauen davon abhalten konnten, den Wunsch einer Teilnahme an dem Workshop zu äußern. Weder die beiden Organisatorinnen noch ich hatten erwartet, dass eine so große Anzahl von Interessentinnen aus verschiedenen Städten im Irak sich um die Teilnahme bewerben würde, weshalb wir gezwungen waren, um die Budgetvorgaben nicht zu sprengen, unter allen Bewerberinnen 25 Teilnehmerinnen auszuwählen.

Die Frauen kamen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten, unter ihnen Ärztinnen, Ingenieurinnen, Lehrerinnen, Hausfrauen, Studentinnen. Sie waren verheiratet oder ledig und repräsentierten unterschiedliche Volksgruppen, Glaubensrichtungen und Weltanschauungen. Da diese Schreibwerkstatt die erste von insgesamt drei für dieses Jahr geplanten war (die zweite soll im September, die dritte im November stattfinden), hatte ich beschlossen, mit dem Schreiben von Kurzgeschichten zu beginnen. Der zweite Workshop soll dann dem Roman, der dritte dem Verfassen eines Essays gewidmet sein.

Fünf Tage lang erhielten die Teilnehmerinnen praktische Unterweisungen zum Schreiben von Prosatexten allgemein und zum Verfassen einer Kurzgeschichte konkret. Ein Hauruck-Verfahren sicherlich, aber eines, das auch Freude bereitet, oder nicht? Denn wie sonst soll die Kunst des Erzählens erlernt werden, das wie die Dichtung eine Sache der Veranlagung, von Talent, Bedürfnis und einer kindlichen, spielerischen Umsetzung ist, zumindest am Anfang? Und wer sollte fähig sein, uns das Schreiben zu lehren, wenn unsere Herzen noch nicht entflammt sind vom Feuer der Lust am Erzählen?

Eine der freudestrahlenden Teilnehmerinnen fasste hinterher die Werkstatttage wie folgt zusammen: „Anders als sonst haben wir Frauen zusammengesessen und haben über Trauer und Freude geredet und nicht über Klatsch und Tratsch, über die Männer, die Küche, Bohnen und Makkaroni. In allen Gesprächen ging es um das Erzählen, um das Schreiben von Kurzgeschichten und um Kultur, Denken, um Bücher und Literatur und um die Gesellschaft, ja um alles, was unmittelbar und direkt mit Liebe und Freiheit in Verbindung steht.“ Fünf Tage lang kamen die Frauen von neun Uhr morgens bis halb vier am Nachmittag zusammen, ließen sich unterweisen und erlernten die Kunst des Erzählens in ihren unterschiedlichen Stadien, und wie sich aufschreiben lässt, was sie erzählen wollen, ja erlernten die Kunst der Enthüllung, sofern uns dieser Ausdruck erlaubt sei. Und während der langen Stunden, die der Unterricht im Workshop in Anspruch nahm, in einem Saal, der mitunter in tiefes Schweigen gehüllt lag und dann lärmend vor Geschichten erschallte, inmitten von Buchstaben, Wörtern und kurzen Sätzen, die sich in Entwürfen zu Geschichten und Erzählungen verwandelten, beobachtete ich diese Frauen, sah, wie sie begannen, die Welt erzählend einzufangen, freudig erregt wie Mädchen, als sei ihnen in dem kleinen Saal ein neues Leben gegeben worden, hier, in diesem Gebäude eines Ausbildungsinstituts in Basra. Und es kümmerte sie nicht, dass der Workshop von einem Mann und nicht von einer Frau geleitet wurde, worauf das Goethe-Institut bestanden und aus diesem Grund eine Finanzierung der vorangegangenen Schreibwerkstatt abgelehnt hatte. „Ach was, wir sitzen doch eigentlich immer zusammen und unterhalten uns. Was uns fehlt, ist ein Mann, der zuhört. Die Männer, mit denen wir zusammenleben, haben taube Ohren“, wie eine der Teilnehmerinnen beim Schlussresümee zur Arbeit des Workshops bemerkte.

Einmal flüsternd, einmal schreiend

Es war dieses lauschende Ohr, das fünf Tage nicht müde wurde, sich ihre Enthüllungen anzuhören, das sie die Kunst des Erzählens und das Schreiben einer Geschichte wie eine Schicksalsfrage angehen ließ. Einmal flüsternd, einmal schreiend, erzählend und debattierend, und mit jedem Satz wuchs ihr Erstaunen über eine Geschichte, die eine von ihnen geschrieben hatte, über einen Einfall, der der Verfasserin gekommen war. Und nicht nur die Teilnehmerinnen schienen voller Vitalität und Verlangen für das Erzählen entbrannt, sondern auch Stifte und Zettel. 25 Frauen verschiedener Herkunft und unterschiedlichen Alters übten sich in der Kunst der Enthüllung und zuweilen auch Beichte und praktizierten, auch wenn sie zuweilen unterschiedlicher Meinung waren, dabei Rituale eines friedlichen Zusammenlebens und gegenseitiger Sympathie, ruhig und niemals die friedliche Atmosphäre untereinander zerstörend. Und waren damit denkbar weit entfernt von jeglichem Extremismus im Handeln oder Denken, akzeptierten einander und schufen eine Welt der Reinheit und Liebe, eine Gegenwelt zu der verrückten, die außerhalb des Workshops herrschte.

Am Ende jedoch lebten wir während der fünf Tage des Workshops in zwei Welten, einer Welt außerhalb der Werkstatträume, einer Welt des Leids, der Schmerzen und Zerstörung, einer Welt, aus der jede Entfaltungsmöglichkeit des Lebens gewichen ist, einer Welt, deren Luft erstickt, einer Welt, die der Hoffnung und allem, was mit dem Schönen zusammenhängt, feindlich gesonnen ist. Und einer zweiten Welt innerhalb des Workshops: einer Welt, überquellend vor Freude und Freiheit, einer Welt, in welcher der Druck der Gesellschaft, der Religion, der Sippe oder Armee keinen Platz hatte, einer Welt, in der das Untersagte, das Verbotene und Unterdrückte sich in eine erzählbare Geschichte verwandelte. Es war dies nicht bloß eine Schreibwerkstatt um des Lebens willen, sondern ein Workshop für den Frieden. ■


Najem Wali, geboren 1956 in Basra, studierte deutsche und spanische Literatur in Hamburg und Madrid. Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch. Zuletzt bei
Hanser: „Bagdad. Erinnerungen an eine Weltstadt“. Sein Beitrag wurde von Markus
Lemke aus dem Arabischen übersetzt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.07.2016)

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