Der Klang hat sich verändert

„Man geniert sich heute fast, romantisch zu sein; man spielt kühler, berechnender.“ Nach mehr als 45 Jahren nimmt Rainer Küchl Abschied als Konzertmeister der Wiener Staatsoper und der Wiener Philharmoniker. Ein Gespräch.

Rainer Küchl, die erste Oper, die Sie in der Wiener Staatsoper gespielt haben, war von Richard Strauss, „Ariadne auf Naxos“; und auch die letzte war von Strauss, „Der Rosenkavalier“. Man könnte meinen, hier schließe sich ein Kreis.

Meine erste Opernprobe war „Rigoletto“, meine erste Vorstellung „Ariadne“. „Rigoletto“ hat Argeo Quadri dirigiert, „Ariadne“ Horst Stein. Für beides gab es eine Extraprobe, da weder der ein Jahr vor mir engagierte Konzertmeister, Gerhart Hetzel, noch ich diese Oper zuvor gespielt hatte. Tatsächlich schließt sich bei mir ein anderer Kreis: Bei meinem ersten „Philharmonischen“ Mitte Jänner 1960 dirigierte Rafael Kubelik Bruckners Vierte, bei meinem letzten „Philharmonischen“ im Juni Yannik Nezét-Seguin die Neunte und bei meinem letzten Konzert in Salzburg Riccardo Muti die Zweite. Kann man das Zufall nennen? Ich sage Nein, denn nichts davon war geplant, es war eben so.

Die Vorgeschichte Ihres Konzertmeisterengagements ist bekannt: Sie wurden von Ihrem Lehrer gezwungen, zum Probespiel in der Oper zu gehen, kamen zu spät, und hätte Sie Professor Poduschka nicht hineinreklamiert, wäre es dazu gar nicht gekommen.

Ich muss ihm sehr dankbar sein. Hätte er sich nicht so für mich eingesetzt, wäre ich nicht hineingekommen. Wer weiß, wohin mich mein Weg geführt hätte, da habe ich mir später schon Gedanken gemacht.

Ist man mit 20 schon reif für eine solche Herausforderung als Konzertmeister der Wiener Staatsoper und der Wiener Philharmoniker?

Für mich war alles Neuland, es war jedenfalls eine mutige Entscheidung. Trotzdem waren die ersten Abende nicht so tragisch, denn es gab dafür Proben. Schwieriger waren schon die Abende ohne Proben, da ich immer am ersten Pult spielte. Eine „Elektra“ ist mir in besonderer Erinnerung. Ein Kollege rief mich am Nachmittag an und sagte, dass er nicht spielen könne. Ich habe ihn vertreten, obwohl ich weder das Werk kannte noch die Inszenierung je gesehen hatte.

Sie folgten Willi Boskovsky nach.

Ja, das hat ihn insofern geärgert, als in den Zeitungen von einem 20-jährigen Nachfolger geschrieben wurde. Wir haben uns bei den Neujahrskonzerten aber sehr gut verstanden.

Mit mehr als 45 Konzertmeisterjahren sind Sie wohl ein Rekordhalter?

Philharmonisch ja, nicht aber in der Oper, da ist es Arnold Rosé mit 57 Jahren, aber das war eine andere Zeit.

Die Orchester sind in den vergangenen Jahrzehnten perfekter geworden, haben aber klanglich verloren. Teilen Sie dieses Urteil?

Ich würde nicht sagen, sie haben an Klang verloren, sondern der Klang hat sich verändert. Es klingt einfach anders, das lässt sich mit Worten nicht beschreiben, das kann man sich nur anhören. Wobei es besser ist, man hört es sich live an, nicht auf einem Tonträger. Es hat hauptsächlich mit der Art der Gestaltung zu tun, ob die Streicher mehr Tonverbindung hören lassen, sprich: mehr mit Portamento spielen; da hat sich einiges geändert. Heute hat sich das Portamento wesentlich reduziert, man geniert sich fast, romantisch, geschweige denn sentimental zu sein, das ist überhaupt ein Schlagwort geworden. Man spielt kühler, berechnender.

Sie haben einmal das Konzert von Carlo Maria Giulini mit Bruckner in der Oper als Ihr eindrücklichstes Konzerterlebnis genannt. Gab es noch ähnliche?

Bei dieser Aufführung hatte ich das Gefühl, der Dirigent verschwindet langsam am Horizont, Bruckner wird immer größer und steht vor uns. Es war einfach überwältigend. Ich rechne das Giulini an, weil er sich immer so hinter die Partitur gestellt hat. Er war nur darauf bedacht, dass das Orchester eine Einheit ist, sich nicht zerspaltet. Ähnliches habe ich bei Karajan, Kleiber, Bernstein erlebt, das waren grundverschiedene Persönlichkeiten. Es war ein ebenso hohes Level, aber ganz anders.

Und in der Oper?

Es kommt darauf an, aus welcher Sicht man das betrachtet. Wenn ich an eine „Elektra“ mit Karl Böhm denke, mit James King, Leonie Rysanek, Birgit Nilsson und Astrid Varnay. Das war eine unglaubliche Besetzung, ich kannte das Werk noch nicht so gut und meinte, es war nur ein Chaos im Orchester. Aber es gab 74 oder 75 Vorhänge. Der Applaus war so lang wie die halbe Oper. Das muss beim Publikum toll eingeschlagen haben. Ich hatte aber nicht den Eindruck, dass wir so toll gespielt hatten. Für mich ist das Ideal, dass sich die Stimmen mit dem Orchester vereinen. Das kommt nur für wenige Momente vor, und es ist nur selten der Fall.

Welche von den Platten, die Sie aufgenommen haben, würden Sie auf die berühmte ferne Insel mitnehmen?

Überhaupt keine, nur mein Instrument und viele Noten.

Gehen Sie mit Wehmut?

Nein, ich habe mich lange Zeit darauf vorbereitet. Wenn etwas abgeschlossen ist, beginnt ein neuer Abschnitt.

Wohin könnte der führen, das Quartettspiel mit dem eigenen Ensemble wird ja wohl bleiben . . .

Ja, ich möchte auch das Unterrichten intensivieren, ich werde aber auch viel reisen, etwa nach Japan. Ich habe noch einen gewissen Ehrgeiz, ich will es noch einmal wissen und mich verbessern, obwohl das Alter nicht wirklich dafür spricht. Man wird aber nicht technisch schwächer, sondern mechanisch, weil die Körperkraft schwindet.

Wie viele Aufführungen haben Sie in Ihrer Konzertmeisterzeit gespielt?

Der Saisondurchschnitt der Opernaufführungen liegt bei 90 bis 95. Wenn man das hochrechnet, kommt man auf 4000. Nicht dazu gerechnet sind die Proben. Bei den Konzerten ist es schwieriger, die sind saisonbedingt nicht so regelmäßig. Von den Konzerten habe ich alle Programme gesammelt, da werde ich das einmal herausfinden. Wenn ich alle meine Solo- und Quartettabende dazurechne, würde ich, Oper und Konzert zusammen, vorsichtig 8000 Aufführungen schätzen.

Würden Sie es wieder so machen?

Wenn es das Schicksal wieder so bestimmt, dann ist es so.

War es ein gutes Schicksal?

Ja, etwas Besseres hätte mir nicht passieren können. Hätte man mich damals nicht zum Probespiel eingeladen, wer weiß, wo ich gelandet wäre. Wäre ich nicht in das Orchester gekommen, wäre ich nicht nach Japan gekommen, hätte ich nicht meine Frau kennengelernt. Es greift eines ins andere.

Was wollen Sie Ihrem Nachfolger als Konzertmeister auf den Weg geben?

Ich wünsche dem Orchester, dass er sich für das Orchester engagiert und es nicht als Sprungbrett für weitere Karriereschritte nimmt – und dass das Orchester ihn sich entwickeln lässt und ihm nichts vorschreibt. Man kann es nie allen recht machen. Wenn man dieses Bewusstsein nicht hat, kann man nicht auf das Podium gehen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.08.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.