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spectrum(c) Wolfgang Freitag
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Er kam aus der Landschaft heraus,und ich heizte den Kachelofen ein,was erhellend war in dem kalten Haus... Weil Festspielzeit ist – und weil er nicht „schtirbt“: Begegnungen mit Thomas Bernhard, Bericht seines Dramaturgen.

„Salzburg ist exterritorial“, sagte Thomas Bernhard. Er traf diese überraschende Feststellung Herbst 1985 in einem Gespräch im Café Imperial in Wien. Es war ein Treffen zwischen ihm, Claus Peymann und mir. Es ging um „Ritter, Dene, Voss“. Thomas Bernhard saß in einer Falle, in einer selbst gestellten Falle. Als spontane Reaktion auf das törichte, skandalöse Verbot seines Romans „Holzfällen“ wollte Bernhard in Zukunft in Österreich keine Aufführungen seiner Theaterstücke mehr zulassen. Natürlich feixten seine Gegner schadenfroh: Ätsch – jetzt kann der Peymann keinen Bernhard an der Burg spielen! Tatsächlich steckte Peymann in einem Dilemma, aber auch Bernhard. Peymann bereitete die erste Spielzeit seiner Direktion am Burgtheater vor, und Bernhards neues Stück, „Ritter, Dene, Voss“, harrte der Uraufführung. Es irgendwo in Deutschland zu inszenieren – Ivan Nagel lockte bereits nach Stuttgart – war für Peymann undenkbar, zumal Kirsten Dene und Gert Voss künftig zum Ensemble des Burgtheaters gehörten. Es war Bernhard selbst, der den Ausweg fand und in der Sekunde mit einem genialen Schachzug sein Nein zu Österreich in ein Ja zu Salzburg verwandelte. Zu Salzburg! Trotz seines höchst widersprüchlichen Verhältnisses zu dieser Stadt. Mit der kategorischen Formel „Salzburg ist exterritorial“ suspendierte er sein eigenes Verdikt. Eine Kooperation der Salzburger Festspiele mit dem Burgtheater war ihm jene Brücke, die zu begehen möglich schien. Die Premiere ist exterritorial, dann sind weitere Vorstellungen in Wien nicht mehr unmöglich. Und so kam es auch. Kaum war Bernhards Vorschlag gemacht, musste ich auch schon, vermittelt vom Generalsekretär des Österreichischen Bundestheaterverbandes, Robert Jungbluth, mit dem damaligen Präsidenten der Festspiele, Albert Moser, telefonieren, um ihm unseren Vorschlag zu erläutern. Instinktiv sagte ich am Telefon, ganz einfach, aber mehrfach: „,Ritter, Dene, Voss‘ ist so gut wie Schnitzler, das ist ein Schnitzler von heute.“ Mehr bedurfte es nicht. Die Festspiele kündigten ihre fünfte Bernhard-Uraufführung an. Einem Ondit zufolge auch mit huldvoller Zustimmung Herbert von Karajans. In Salzburg entstand also als Folge eines Wiener Caféhaus-Gesprächs eine der schönsten Bernhard-Aufführungen. Die legendär gewordene Peymann-Inszenierung, im grandiosen Bühnenraum von Karl-Ernst Herrmann, spielten Ilse Ritter, Kirsten Dene und Gert Voss tatsächlich 19 Jahre lang, in Salzburg, in Wien, in Berlin und auf vielen Gastspielen. Das Stück hat sich übrigens von den realen Titelnamen gelöst und wird - zu Recht – immer wieder auch von anderen Schauspielern gespielt.

Warum erzähle ich das so detailliert? Weil Bernhards Formel „Salzburg ist exterritorial“ sein Verhältnis zu den Salzburger Festspielen definiert. Die Festspiele waren ihm seit seiner Jugend etwas Vertrautes, etwas Besonderes, etwas Außerordentliches, vielleicht auch geschmähter und zugleich geliebter Sehnsuchtsort, seit er als 18-Jähriger auf dem Mönchsberg oberhalb der Felsenreitschule die „Zauberflöte“, von Furtwängler dirigiert, gehört hatte. Außerdem beschreibt meine kleine Geschichte die Ambivalenz von Thomas Bernhard. So wie er seine Existenz „innig lieben und gleichzeitig so entsetzlich hassen musste“ – wie er in seinem autobiografischen Buch „Die Kälte“ konstatiert –, so konnte er ein apodiktisches Nein im wahrsten Sinne des Wortes augenblicklich in ein produktives Ja verwandeln.

Bevor ich Bernhard 1974 selbst kennengelernt habe, anlässlich der Uraufführung der „Jagdgesellschaft“ in Wien, Peymanns erste Inszenierung am Burgtheater übrigens, hatte ich von ihm persönlich kein Bild. Ich hatte bis dahin neben „Ein Fest für Boris“ auch seine Prosa gelesen und die in jeder Hinsicht denkwürdige, ereignishafte Premiere und einzige Vorstellung von „Der Ignorant und der Wahnsinnige“ in Salzburg gesehen, nichtsahnenden (((nichts ahnend))) von Querelen und Intrigen hinter den Kulissen, mit denen Bernhard und Peymann konfrontiert waren. (Damals kannten Peymann und ich uns noch nicht.) Das berühmt-berüchtigt gewordene „Notlicht“, das im Salzburger Landestheater penetrant hell leuchtet und damit eine „völlige Finsternis“ – so Bernhards Regieanweisung – unmöglich macht, wurde nicht, wie von der Festspielleitung zugesagt, in der Premiere für zwei Minuten am Schluss des Stücks abgeschaltet. Die Folge war: Alle weiteren Vorstellungen platzten. Thomas Bernhards lapidare Feststellung, „Eine Gesellschaft, die zwei Minuten Finsternis nicht verträgt, kommt ohne mein Schauspiel aus“, ist wie eine hellsichtige Prophezeiung künftiger Konflikte, denn Taktieren war Bernhards Sache nie.

Von Bernhards Texten habe ich mir ein Bild gemacht, nicht vom Autor. Die Texte selbst müssen ja zunächst für sich sprechen, und die hatten eine Musikalität und eine eigenartige Form, die mich sofort interessiert haben, die mich sofort in Bann gezogen haben. Die insistierende Genauigkeit des Erzählens, die Energie der Sprache, ihr zwingender Rhythmus – all das ein neuer Ton für Themen wie Krankheit, Verfall und Zerstörung.

Als ich Thomas Bernhard nach der Premiere der „Jagdgesellschaft“ begegnet bin, war ich gleich eingenommen von ihm, von seiner direkten, sympathisch unkomplizierten Art. Und keine Spur von jener Misanthropie, die ihm so oft angedichtet wird.

Unsere Begegnungen verbanden sich immer mit Uraufführungen, zunächst in Stuttgart, dann in Bochum, bei den Salzburger Festspielen und schließlich in Wien. 1976 verschaffte uns der Plan, in Stuttgart Goethes „Faust I und II“ zu spielen, einen mehrtägigen Ausflug zu Thomas Bernhard. Es war wie eine Landpartie. Claus Peymann, Achim Freyer und ich hatten nämlich, auf Bernhards Einladung hin, in seinem Haus auf dem Grasberg bei Reindlmühl, in der Krucka, Quartier bezogen, einem kleinen, sehr einfachen Bauernhaus, nur zu Fuß erreichbar. Ich heizte den Kachelofen, was nicht unwichtig war für unser Quellenstudium in einem kalten Haus. Wir waren sozusagen bei Bernhard zu „Faust“-Studien in Klausur gegangen. Das war in puncto Goethe erhellend und gleichzeitig heiter, nicht nur, weil wir Bernhard oft trafen, sondern auch gesehen haben, wie er sich in seiner Landschaft bewegte, eben wie einer, der aus dieser Landschaft kommt und auch in dieser Landschaft, bei aller Distanz, die er dazu auch hatte, zu Hause war. Und es sind bei persönlichen Begegnungen oft die scheinbar kleinen Momente, die sich besonders einprägen, zum Beispiel Bernhards abruptes Anhalten während einer Autofahrt, um eine ihm bekannte Bäuerin weit auf dem Feld zu begrüßen und mit ihr zu plaudern. Oder die spontane dichterische Verdichtung unserer ausführlichen Gedankenanstrengungen, denn als Peymann ihm beim Abschied auf dem Perron des Bahnhofs Attnang-Puchheim von unseren künftigen Stuttgarter „Faust“-Plänen erzählte, brachte Bernhard unsere Ideen ganz beiläufig auf die schlagende Formel als ein möglicher Titel der Aufführung: „Von Heinrich Faust bis Henry Ford“. Während der Probenzeit zur Uraufführung des „Theatermachers“ in Salzburg 1985 und auch ein Jahr später bei „Ritter, Dene, Voss“ erlebte ich Thomas Bernhard erneut in seiner Hemisphäre. Und ich beobachtete, wie Menschen ihn verehrten, als sei er ein russischer Großfürst. Auch heute noch, wenn ich in Ohlsdorf im Thomas-Bernhard-Haus oder im Gmundner Stadttheater mit Bernhard-Lesungen auftrete, spüre ich, wie stark Thomas Bernhard bei den Menschen dieser Landschaft präsent ist, immer noch. Und ich ahne, wie sein immer wiederkehrendes Bekenntnis zu verstehen ist: Ich hasse diesen Staat, und ich liebe dieses Land, „ein so schönes Land“.

1986 war ich wohl der Einzige der sogenannten Bochumer Bande, die aufbrach, die Wiener das Fürchten zu lehren, der ahnte, was auf uns zukommen würde, ich kannte ja die Wiener Theater- und speziell die Burgtheatergeschichte. Deswegen hatte ich, als Wiener nahm ich mir dieses Recht heraus, eine Scheu, an die Burg zu gehen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es gut gehen würde. Es ist dann - o Wunder – gut gegangen, aber welche Turbulenzen, welche Kämpfe, welche Glaubenskriege, welche Schlammschlachten, welche Anfeindungen . . ., aber auch welch enthusiasmierte Zuneigung und Begeisterung. Und welche Begeisterung für Thomas Bernhard. Unser Beginn am 1. September 86 war schon ein Paukenschlag. „Was hier in dieser muffigen Atmosphäre, als ob ich es geahnt hätte . . .“ – mit diesem Stoßseufzer des Theatermachers Bruscon (von Traugott Buhre ideal gespielt) bei seinem ersten Auftritt wurde im Grunde die „Weltkomödie Österreich“, um einen Begriff Thomas Bernhards zu zitieren, eröffnet. Das Publikum hatte verstanden. Für die einen war der Dichter der leibhaftige Gottseibeiuns, für andere wiederum der wahre Repräsentant österreichischer Literatur, der endlich auf die Bühne des Nationaltheaters gehörte.

Thomas Bernhard nahm großen Anteil an unserem Start am Burgtheater. Nicht nur, weil wir dort seine Stücke spielen, sondern er interessierte sich dafür, wie das alles weitergehen würde, weil er immer das Schlimmste befürchtete, nämlich dass unsere Burgtheaterzeit sehr schnell wieder zu Ende sein könnte. Wenn es um die Burg geht, können die Wiener kurzen Prozess machen. Das hat Tradition. Wie heißt es doch im „Theatermacher“? „Das Gewesene, das fortwährend Gewesene . . .“ Dabei wollte sich Bernhard um keinen Preis kulturpolitisch vereinnahmen lassen – auf seine empörte Forderung hin sagte Peymann das Gastspiel des Burgtheaters mit „Theatermacher“ bei der sogenannten Europalia, einem Österreich gewidmeten EU-Festival in Brüssel, kurzfristig ab.

„Ich darf mich in Brüssel nicht von den österreichischen Ministerialbeamten als Kulturpublizisten missbrauchen und exekutieren lassen“, schrieb Bernhard ultimativ an Peymann. Aber in den entscheidenden Momenten hat Bernhard uns sehr unterstützt. Er machte Claus Peymann immer wieder Mut, den Kampf um die Burg nicht aufzugeben. Schon im Voraus wollte er ein mögliches Scheitern quasi durch literarische Beschwörung bannen, jedenfalls schien es mir so, als ich in „Holzfällen“ die höchst sarkastischen Passagen über das Burgtheater als eine tödliche „Kunstmühle“, in der der jeweilige Burgtheater-Direktor zermahlen wird, las. Es war schließlich nicht nur die Solidarität zu meinen Kollegen, die meine Vorbehalte gegen die Burg überwinden half, es war auch der Wunsch, weiterhin an Thomas-Bernhard-Uraufführungen mitarbeiten zu dürfen. Es war ja immer etwas Besonderes, auf seine Stücke zu warten und sie vorzubereiten. Vor allem war es dann die immer wieder schöne Überraschung, wie sich die Stücke im Spiel der Schauspieler auf der Bühne entfalteten. Ich weiß noch, wie ich Peymann einst in Stuttgart vorgeschlagen habe, Bernhard möge das dritte Bild in dem Theaterstück „Minetti“ überarbeiten, es müsste doch dialogischer sein – Peymann wehrte ab und hatte recht, die Szene erweist sich nämlich erst im Spiel. Das Zusammenspiel zwischen dem monologisierenden alten Schauspieler (Bernhard Minetti) und dem schweigsamen jungen Mädchen (Therese Affolter) war eine anrührende, melancholische Szene, beinahe eine Liebesszene. „Einmal sind wir Redekünstler, einmal sind wir Schweigekünstler“, sagt Reger in „Alte Meister“. Aus Reden und aus Schweigen entsteht Bernhards Dramatik, denn Schweigen ist für ihn nicht stumm.

Wie ein roter Faden in meiner Zusammenarbeit mit Claus Peymann, die 1974 in Stuttgart begann, erscheint immer wieder Thomas Bernhard. Elf Bernhard-Uraufführungen in all den Jahren. Die Wiener Zeit ist mir natürlich besonders präsent. Welche Zerreißproben! Und ein Dichter im Mittelpunkt dieser Stürme. Thomas Bernhards „Heldenplatz“ – der größte Skandal und der größte Triumph. Allein die hysterischen, irrsinnigen Begleitumstände und der Sieg eines Theaterstücks gegen die geballte öffentliche Meinung sind schon eine Thomas-Bernhard-Komödie für sich. Ein wochenlanges mediales und politisches Trommelfeuer, um – wie in einem nationalen Wutanfall von Wien bis Vorarlberg – „Heldenplatz“, ein Stück, das niemand kannte, zu verhindern und Bernhard samt Peymann abzuschießen. Von der Premiere am 4. November 1988 gibt es einen kompletten Tonmitschnitt, einschließlich des dreiviertelstündigen tumultuösen und jubelnden Schlussbeifalls. Heute hört sich das an wie ein grandioses Kasperletheater, damals ging es um alles oder nichts. Für Thomas Bernhard war es ein großer Sieg. Für Peymann und die Schauspieler, die während der Proben der ohrenbetäubenden Kakofonie standgehalten haben, war es ein Sieg. Bernhard empfand Wolfgang Gasser als Glücksfall. Und die Gegner? Alle, die gegen „Heldenplatz“ waren, verstummten schlagartig und taten so, als ob nichts gewesen wäre. Erst Jahre später wird der damalige Chefredakteur der Wiener Tageszeitung „Die Presse“, Michael Maier, selbstkritisch in „Heldenplatz“ das „vielleicht wichtigste Psychogramm einer Nation der letzten Jahre“ erkennen. Wir haben „Heldenplatz“ 120 Mal an der Burg gespielt, und es war deswegen ein beispielloser Erfolg, weil die politische Wirklichkeit Österreichs mit ihren permanenten Skandalen Bernhards Stück immer wieder aufs Neue bestätigt hat. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Ein Blick in die Zeitungen genügt. Für mich ist „Heldenplatz“ eine der drei großen politischen Komödien Österreichs: „Professor Bernhardi“, „Herr Karl“ und „Heldenplatz“. Eine Komödie aber nicht nur für Österreich, das Stück ist mehrfach in Paris inszeniert worden, und unsere Gastspiele in Deutschland fanden immer ein höchst gespanntes Publikum, welches dieses angeblich so spezifisch österreichische Stück ohne Mühe als Parabel verstehen konnte.

Immer wieder bin ich erstaunt (und natürlich erfreut) über die anhaltende Wirkung Thomas Bernhards, die ich beobachten kann. Eine geradezu magnetische Wirkung. Es geht mir nicht anders. Lese ich seine Freundschaftsgeschichte „Wittgensteins Neffe“, habe ich das Gefühl, das ist Thomas Bernhard pur, weil er durch Sprachkunst seinem Freund und sich selbst schonungslos nahekommt. Auch bei den drei Dramoletten „Claus Peymann kauft sich eine Hose und geht mit mir essen“ – Peymann und ich treten damit auf in Wien, in Berlin und sonst wo – habe ich das Gefühl, das ist Thomas Bernhard pur – nämlich pointiertes Pawlatschentheater und Commedia dell'Arte über Theaternarren, zu denen der Autor sich naturgemäß selbst zählt.

Thomas Bernhard ist immer Komiker und Tragöde zugleich. Deswegen sind seine Texte so „einfachkompliziert“. Manche Kritiker meinen, es gäbe bei Bernhard nur Schwarz-Weiß, sie sehen nicht die Ambivalenz, die Realität und deren Kehrseite, das Konkrete und zugleich die vielen Schichten dieser Texte. Bernhard war nie, denke ich, an einer Logik der Fakten interessiert. Die Logik seines künstlerischen Schaffens trifft nicht die Oberfläche des Lebens, sie kehrt die dunklen Seiten ans Tageslicht. Er sucht mit Worten die Musik in den Worten. Das ist seine Logik.

Martin Walser hatte einst Thomas Bernhard als „Alpen-Beckett“ tituliert. Diese Ironie ist so falsch nicht.

Es gibt ein Zwei-Zeilen-Gedicht von Samuel Beckett:

„Bis zum Äußersten gehn

dann wird Lachen entstehn.“

Bernhards Sätze gehen bis zum Äußersten. Es liegen Kraft und Energie in seinen Sätzen. Bei jeder Lesung entdecke ich neue Nuancen in der Melodie seiner Sprache. Für mich ist das laute Lesen eine elementare Methode, Bernhards Dichtungen genauer zu studieren, genauer zu erleben und so überraschende Entdeckungen zu machen. Selbst seine irrwitzigsten Sprachtiraden sind keine formalen Arien, sie sind für Bernhard existenzielle Notwendigkeit und sein vehementer Zugriff, Wirklichkeit zu benennen und zu fassen. Die Wortexzesse, die permanenten Wiederholungen, seine lustvolle Übertreibungskunst erzeugen auch einen Sog, dem sich der Leser/Zuschauer nicht entziehen kann. Wie originell Bernhards Sprache ist, zeigt sich auch darin, dass sie immer wieder parodiert und nachgeahmt wird. Das Original bleibt unerreicht. Seine Sprach- und Wortschöpfungen hätte Bernhard sich patentieren lassen sollen, damit sie nicht in die Hände von Sprachverhunzern fallen, die sie missbrauchen. Zum Beispiel sein Wort „Lebensmensch“. Bernhards Prosa ist absolut gestisch, ist Rollenprosa. Wer einmal Peter Fitz mit seinem grausam verzweifelten, auch gegen sich selbst wütenden und zugleich umwerfend komischen Riesenmonolog „Beton“ erlebt hat, versteht, was ich meine. Bernhards Prosa ist eine Art immerwährender Monolog. Lustvoll, monströs, brachial, fantastisch, herzbewegend. Und doch zielen seine Texte paradoxerweise stets auf ein Gegenüber. Der Leser, der Zuschauer – sie gehören dazu! Bernhards Theaterstücke sind tatsächlich Theatertexte, was ja nicht von jedem Theaterstück gesagt werden kann. Bernhards „Textflächen“ sind nicht hermetisch, sie sind sehr konkret, emotional erlebbar, direkt zu spielen.

Über seine schriftstellerische Arbeit hat sich Bernhard kaum geäußert, über seine Stücke nichts vorweg ausgeplaudert, manchmal hat er sogar bewusst falsche Fährten gelegt. War das Stück fertig, dann erst war es für ihn abgeschlossen und durfte gelesen werden. Auch wollte Bernhard jedes Stück so schnell wie möglich aufgeführt sehen, damit sein Kopf wieder frei war für die nächste Arbeit. Zu welchen Zornesausbrüchen er fähig war, wenn am Theater die obligaten Verzögerungen eintraten, davon künden Briefe an seinen Verleger Siegfried Unseld oder an Peymann. Im Grunde schien ihm schon eine einzige Vorstellung zu genügen, wenn sie nur gut war. Für Stuttgart wollte er uns ein Silvester-Stück schreiben. Das ganze Ensemble sollte darin spielen, natürlich die besten Schauspieler, Uraufführung am 31. Dezember und tatsächlich nur eine einzige Vorstellung, eben die Silvestervorstellung, Titel des Stücks: „Das böse Omen“. Wir hatten damals das Stück im Spielzeitalmanach sogar angekündigt, aber geschrieben hat es Bernhard nicht.

Das Geheimnis eines Menschen ist selten zu ergründen. Das Geheimnis von Thomas Bernhard ist allerdings aufgeschrieben, in seinem Gesamtwerk. Um Bernhard zu ergründen, müsste man sein Gesamtwerk, das jetzt in 22 Bänden, also in einem Balzac'schen Ausmaß, vorliegt, gelesen haben, aber dann hätte man ihn, so vermute ich, noch immer nicht ergründet. Und so ist es eher kurios, wenn nicht lächerlich, wie in letzter Zeit von deutschsprachigen Schriftstellerkollegen versucht wurde, Thomas Bernhard zu „demaskieren“ oder sein Privatleben auszuforschen, um irgendwelche Aufschlüsse oder skandalöse Widersprüche zu seinem Werk zu finden. Andererseits ist bemerkenswert, dass Bernhards Werk wiederum für französische, englische, türkische Schriftsteller Stimulans und gesuchte Herausforderung ist, ja sogar als Maßstab hasserfüllte Bewunderung zu wecken vermag.

Der österreichische Kabarettist Werner Schneyder hat unmittelbar nach Thomas Bernhards Tod lauthals verkündet: „In zehn Jahren redet niemand mehr von ihm.“ Schon einige Jahre später musste er prolongieren, er wird sich wohl noch öfters korrigieren müssen. Die Wirkung von Bernhard ist nämlich ungebrochen. Auch ist er Thema an den Universitäten der Welt, wie ich aus vielen Doktorarbeiten weiß. Er wird immer wieder neu gelesen, neu durchdacht und neu gespielt. Seine Stücke werden in vielen Sprachen und Ländern gespielt, auch in Moskau, auch in Athen und Barcelona, auch in Kopenhagen und Santiago de Chile, auch in Österreich. Gerade jüngere Theaterleute entdecken Bernhard neu, Regisseure, vor allem Schauspieler. Das ist ja überhaupt das Schönste in der Wirkung, dass gerade die Schauspieler von Anbeginn an gewusst haben, welch besonderer Schauspieler-Autor Bernhard ist. Die Schauspieler haben Lust, seine Stücke zu spielen, sie haben geradezu eine Gier nach seiner Sprache, nach seinen Rollen. Bernhards Blick und Begeisterung für Schauspieler inspirierten ihn immer wieder zu Stücken. Stücke für „intelligente Schauspieler“, so heißt nämlich auch die Widmung an Ilse Ritter, Kirsten Dene und Gert Voss.

Bernhard konnte Schauspieler nicht nur lieben, er hatte auch ein untrügliches Theatergespür, er war, fast schon im Goethe'schen Sinn, „ein alter Prakticus“. Als der wunderbare Schauspieler Hugo Lindinger starb – für ihn schrieb Bernhard die Rolle des Wirts im „Theatermacher“ –, wünschte sich Bernhard ausdrücklich eine Neubesetzung der Rolle nicht mit einem ähnlichen Schauspielertypus, sondern eine sehr konträre Besetzung, ja, er verlangte geradezu Josef Bierbichler für den Wirt. Es zeigte sich wieder einmal, dass ein anderer Schauspieler einer Rolle eine völlig neue, gleichfalls authentische Charakteristik zu geben vermag. Bernhard dachte hier wie ein erfahrener Schauspieldirektor. „Ein Kind ist immer ein Schauspieldirektor, und ich bin schon sehr früh ein Schauspieldirektor gewesen“, bekennt er in seinem Buch „Der Keller“. „Wir können die Bühne in die Unendlichkeit hinein erweitern, sie zusammenschrumpfen lassen auf den Guckkasten des eigenen Kopfes.“

Zu Bernhards Guckkasten gehören nicht nur Schauspieler, gleichermaßen gehören dazu Schauplätze und Orte, die ihn faszinierten oder abstießen.

Es gibt solch reale Orte in seinen Erzählungen, Romanen und Theaterstücken, die eine auf Autor wie Leser inspirierende Wirkung haben. Diese Orte entfalten eine eigentümliche Magie: ein Gefühl der Bedrohung, des Geborgenseins, der Verheißung, der Katastrophe oder der Faszination. Immer haben diese Orte auch eine theatralische Wirkung, auch wenn sie eng, schmutzig, dunkel, tödlich sind. Die von Bernhard gewählten Orte und Gegenstände sind kein austauschbares Dekor, sondern verbinden sich untrennbar mit seinen Figurenkonstellationen, die doch Lebenskonstellationen sind. Und immer sind es Gesichter, die hervortreten und eine existenzielle Bedeutung bekommen. Der Blick in ein Gesicht ist der Blick auf ein ganzes Leben. Sei es nun der Blick auf den rätselhaft aus dem Schwarzen kommenden „Weißbärtigen Mann“ Tintorettos im Wiener Kunsthistorischen Museum in „Alte Meister“, sei es das wahrhaft erbarmungswürdige Gesicht der Anna Härdtl auf dem Friedhof in Palma de Mallorca in „Beton“ – diese Gesichter geben Bernhards Texten eine Perspektive, der sich der Leser oder Zuschauer nicht entziehen kann. Es entstehen Durchblicke in ein tiefes Bild, in das Leben. Die immer wieder gerühmte musikalische Form Bernhards ist ja kein atmosphärisches Stimmungsgewaber, sondern durch und durch Konstruktion. Freilich sind es keine abstrakten Thesen, welche die Konstruktion ausmachen, sondern Gesichter, Gegenstände, Orte. Damit zu spielen und sich selbst dabei nicht zu schonen, das ist Bernhards Kunst. Oft waren es Begegnungen, Ereignisse oder beiläufige Zeitungsnotizen, die zum Anstoß für eine Erzählung oder ein Theaterstück wurden. Aber auch ein von ihm dezidiert ausgesprochenes Nein konnte für ihn ein Impuls sein. Als Peymann in Bochum mit Bernhard Minetti und Traugott Buhre die Uraufführung von „Der Schein trügt“ inszenierte, rief ich Thomas Bernhard an und bat ihn um einen Beitrag für das Programmbuch. Nein, er könne nichts dafür schreiben, nein, er habe auch keinen unveröffentlichten Text dafür, nein, er habe keine besonderen Wünsche, nein, nein, ich solle das Programmbuch ruhig so machen, wie ich es mir denke . . . Das war seine freundlich bestimmte Antwort. Nur ein paar Tage später erhielt ich überraschend einen Expressbrief aus Ohlsdorf, in dem Bernhard ganz lakonisch schrieb: „Ihr Telefonat hat diese Skizze geboren. Indem ich zu Ihnen Nein sagte, hatte ich zu mir Ja gesagt. Ich hoffe, es passt in das Buch . . .“ Das ist Thomas Bernhard in nuce. Seinem Brief lag ein kurzer Prosatext bei, geschrieben auf jener Schreibmaschine, die mir von seinen Theatermanuskripten bekannt war. Auch über diese Erzählung lässt sich sagen: Thomas Bernhard in nuce. Dieser „Reisebericht an einen einstigen Freund“ – so der Untertitel – erzählt von einem Traum, in dem der Träumende wiederum im Traum erlebt, wie „dieses ganze widerwärtige, schließlich nur mehr noch bestialisch stinkende Österreich vor meinen Augen in Flammen aufgegangen ist“. Der Träumende wacht in Rotterdam auf. „Zu meinem großen Glück in Rotterdam, in jener Stadt, die mir aus allen Gründen von allen Städten die nächste und also die liebste ist, wie Sie wissen“, heißt es am Ende dieser Erzählung, die den Titel „In Flammen aufgegangen“ trägt und Bernhards „Heldenplatz“-Thematik vorwegnimmt. Aber als das Schauspielhaus Bochum mit „Der Schein trügt“, also mit der Inszenierung des designierten Burgtheater-Direktors Peymann, 1984 in Wien gastierte, nahm niemand von diesem Prosatext Notiz. Niemand. Anscheinend werden Programmbücher nicht gelesen. Bernhard wusste durchaus um die Vergeblichkeit seines Schreibens – „Das ganze Leben ist ja ein einziger Protest, aber es nützt gar nichts . . . Was die Schriftsteller schreiben, ist ja nichts gegen die Wirklichkeit . . . Die Wirklichkeit ist so schlimm, dass sie nicht beschrieben werden kann . . .“ –, dennoch schrieb er weiter, es war seine Methode, die Welt auszuhalten. Mehr noch: Es war seine wahre Lebenslust. Eine Lebenslust freilich, in der „Zorn und Verzweiflung meine einzigen Antriebe sind, und ich habe das Glück, in Österreich den idealen Ort gefunden zu haben“. „Heldenplatz“ und der Roman „Auslöschung“ spielen an und mit diesem „idealen Ort“. Es sind menetekelhafte Werke, die wie eine Summe wirken und doch kein Schlusspunkt sind. Textentwürfe zu einem neuen Roman, zu einem neuen Theaterstück zeugen davon, denn Kritiker mochten noch so sehr auf ihn einprügeln, er dachte nur ans Schreiben.

„Ich war immer ein Einzelgänger. Was mich zum Schreiben treibt, ist ganz einfach die Lust am Spiel . . . Man kann natürlich auch sagen, es ist ein philosophisches Lachprogramm, das ich aufgemacht habe“, bekannte einmal Thomas Bernhard. Dieses Lachprogramm war im Grunde schon in seinem ersten, 1952 veröffentlichten Gedicht angekündigt.

Das Gedicht beginnt mit den Zeilen:

„Vieltausendmal derselbe Blick durchs Fenster in mein Weltenstück . . .“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.08.2016)

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