Ach, lieber Stifter!

Adalbert Stifter, noch einmal. Nein, kein runder Geburtstag und kein eckiger Todestag stiften mich hier an, sondern nur der dritte Versuch, den „Witiko“ zu lesen.

Seit 40 Jahren bin ich Stifter-Leser. Die„Bunten Steine“, die „Studien“, die „Mappe“, „Brigitta“, die Geschichte der ohne Mutterliebe unschön Gewordenen (das Kind wächst heran: „So wurde es immer größer“, dann aber, wenig später, der Satz „So ward die Wüste immer größer“), nicht zuletzt die späte Erzählung „Aus dem bairischen Walde“ – so viel Schnee war nie – und der kurze unfassbare Text über Stifters Geburt und die Zeit davor (!)haben mich hingerissen und begeistern michimmer wieder.

Nun aber, nach zweimaligem Scheitern, ein drittes Mal „Witiko“, mit bester Absicht und dem Vorsatz zu anhaltender Geduld. Es ist ja erstaunlich genug, dass ausgerechnet der Linzer Schulbeamte Stifter immer wieder Leser findet, für die er nicht einer unter manchen, sondern einzigartig ist, noch vor Mörike, Keller, Storm. Dabei kann man sich vermutlich rasch darauf einigen, dass dieser Dichter all das, was einem heutigen Autor Aufmerksamkeit sichert, nicht hat: Er ist nichtspannend, nicht wirklich skurril, er ist unaufdringlich, seine Psychologie bleibt unterschwellig, und das Wort Sexualität würde er sicher nur ungern buchstabiert haben. Dafür sind ihm seine Figuren sehr nah, er will ihnengerecht werden, und er kann Landschaften entwerfen, die etwas Grundsätzliches haben. Dennoch darf man sich fragen, ob man die wenige Zeit, die man für alte Texte aufzubringen bereit ist, nicht lieber Flaubert, Melville, Gogol, Goethe oder Kleist widmen sollte.

Stifters Welt ist ja tatsächlich nicht mehr die unsere, wir leben anders, denken anders, reagieren anders, und es ist einfach nicht wahr – man muss das sagen dürfen –, wenn man behauptet, dass das, was seinen Figuren widerfährt, auch unsere Probleme zeigt. Fallweise, eher selten, mag das so sein, meist aber ist das, was wir da erfahren, Altertumskunde, will sagen, dass Stifters Prosa uns zeigt, worauf es in der Literatur in Wahrheit ankommt: auf die Musik, das Ausgewogene, die Kraft zum Entfalten, den eigenen Ton. Stifter lesen hat etwas ungemein Anziehendes, ihn lesen heißt daher auch zumeist, ihn wieder lesen.

Also: „Witiko“, zum Dritten. Kann doch gar nicht sein, dass das nicht zündet. Wieder begegnet mir als Erstes die Widmung, in der Stifter sein Vorhaben einen „Dichtungsversuch“ nennt, als würde er ahnen, dass da etwas auch nicht gelingen könnte. Rührend bescheiden, denke ich, und Stifter ist gewiss dereinzige Autor, dem ich so etwas glaube. Der Widmung folgt das Vorwort aus dem „Christmonate 1864“, wo der Autor in wenigen Zeilenzweimal von seinem „Unwohlsein“ spricht, das ihn bisher von der Vollendung seines Romans abgehalten habe. Diese Vollendung im Sinne der Fertigstellung ist ihm dann ja auch gelungen, das Unwohlsein hingegen war längst seine Krankheit zum Tode geworden und verließ ihn nicht mehr.

Nun kommt der erste Satz, er ist das Motto dieses Kapitels oder auch seine Überschrift und lautet: „Es klang fast wie Gesang von Lerchen.“ Auch die weiteren Kapitel haben solche Sätze vorangestellt, wie sie RobertSchumann fand, um damit seine Klavierstücke zu charakterisieren. Ach, lieber Stifter, wer auch mit seinem Herzen liest – und jeder wahre Leser tut das –, dem muss es jetzt und beim Wiederlesen und Nachsinnen mit auf das Knie gesunkenem Buch schneller, und das heißt höher, schlagen. Denn solcher Sätze halber liest und liebt man diesen Dichter, gerade auch wegen des zögerlichen „fast“. Was für ein Versprechen so ein Satz gibt, welche Erwartungsfreude er aufkommen lässt, dieser kleine Satz, der da mit einem Punkt am Ende der allererste sein darf.

Ihm folgt der erste Absatz. Der schildert den böhmisch-bayerischen Wald und führt, nachdem auf den zweieinhalb Seiten dieses langen Absatzes das Wort „Wald“ allein oder zusammengesetzt über 20-mal gefallen ist, direkt nach Oberplan, zu Stifters Geburtsort. War der erste Absatz der Landschaft gewidmet, so gehört der zweite dem sich nähernden Reiter, der auf einem Pferd sitzt, „dessen Farbe fast wie der frische Bruch eines Eisenstückes anzuschauen war“. Im dritten Absatz steigt er ab, bindet sein Pferd mit einem Halfter an einen dafür vorgesehenen Pflock und trocknet es ab. „Als er damit fertig war und die Lappen ausgeschüttelt hatte, leitete er noch seine bloße flache Hand an den Weichen und dem Rücken des Tieres hin, welches ihn dabei anblickte.“

„. . . welches ihn dabei anblickte“, Herz, du musst kein Tierfreund sein, um neuerlich höher zu schlagen, liest es sich doch, als würde der Dichter selbst einen dabei anblicken. Das Haus, vor dem sich das abspielt, ist ein Wirtshaus, und der Reiter, der aus der Ferne in die Erzählung geritten kommt, muss als Erstes die üblichen Fragen beantworten: Wer bist du, wo kommst du her, wo willst du hin?

Die ersten zehn Seiten sind gelesen (von 880), die erste Begegnung mit der Frau steht bevor, und die ersten leisen Enttäuschungen sind nicht zu unterdrücken: Ist das der Wunder-Stifter, den man kennt? Lesen sich die Beschreibungen der Personen nicht eher wie aus dem Katalog? Bei jeder Figur, durch das ganze überbevölkerte Buch hindurch, erfahren wir, welche Farbe der Mantel hat, was für ein Stoff das ist, dazu ein Name – Charakteristik ist was anderes. Lesen sich die Beschreibungen nicht eher wie Gebrauchsanweisungen und die Dialoge wie aus dem Lehrbuch „Böhmisch für Anfänger“? Der Motto-Satz kehrt übrigens im Kapitel wieder, als von irgendwo Mädchenstimmen hörbar werden: „Es war ein Gesang so klar und schmetternd wie von Lerchen.“ Kein „fast“, vielmehr „so klar und schmetternd“. Das wird dieses Buch vielleicht auch eines Tages für mich sein; vorläufig bleibt es beim „fast“.

Stifter hat die Geschichte der böhmischenErbfolgekriege gründlich studiert, die dadurch entstanden, dass man das System der Vererbung der Herzogswürde vom Vater auf den Erstgeborenen aufgab und durch Ernennung eines Gewählten ersetzte, also eine geheiligte Weitergabe durch eine – heute würden wir sagen: demokratische – Willensentscheidung, bei der immer die eine Seite gewinnt, was die andere nicht anerkennen will. Dass die daraus entstehenden kriegerischen Zustände in Stifter vielleicht nicht den idealen Regisseur gefunden haben, überrascht auch den Stifter-Fan nicht. Der „Herr der Ringe“ istdas nicht, aber auch nicht „Kampf um Rom“; man spürt, dass Stifter sich einem kaum zu bewältigenden Stoff gegenübersah, den er sorgfältig auseinanderfalten musste, um zu einer Form der Darstellung zu kommen, diefür ihn überschaubar blieb und Raum gab für die Figur des Witiko, mit der er seine ethischen Absichten umsetzen konnte.

Wie fahrlässig, über ein Buch zu schreiben, das man nicht ausgelesen hat. Noch bin ich auf Seite 343, das ist nicht einmal die Hälfte. Darf man von einem Klassiker gewordenen Autor verlangen, dass er einen gefälligst begeistert? Und ihm vorwerfen, dass man zu stumpf ist, um zu begreifen, dass man sich in einem Meisterwerk befindet? Da man als Leser die billige Souveränität hat, ein Buch jederzeit zuklappen zu können, erlaubte ich mir zu sagen: Stifter, show me!

Ich blieb dabei, versuchte, mir die wichtigsten der unzähligen Namen einzuprägen, merkte aber, dass ich nicht nur anfing, zunehmend flüchtig zu lesen, sondern auch zu blättern. Kurz vor dem Ende hielt ich noch einmal inne, fand mich erst auf einem Italienfeldzug des deutschen Kaisers und dann auf einem Reichstag am Rhein, wusste, dass erwartungsgemäß alles gut gegangen war mit Witiko, er seine Bertha hatte und die besten Aussichten, und griff, reiner nichtssagender Zufall, zu einem Gedichtband von Detlev von Liliencron. ■


Jochen Jung ist Verleger, Schriftsteller und
Literaturkritiker in Salzburg.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2016)

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