Unser letztes Tabu

„Expedition Europa“: Besuch imnorwegischen „Inzestzentrum“.

Seit 1968 wurden beinahe alle Werte der Sexualmoral umgewertet, nur das Inzestverbot schien sich zu halten. Zwar geht die Tendenz international zur Entkriminalisierung von Inzest, doch geschieht dies leise und verschämt. Aufsehen erregte nur der Deutsche Ethikrat, als er 2014 die Straffreiheit von Geschwisterinzest empfahl.

Ich besuchte in Berlin den vor Kurzemausgeschiedenen Vizevorsitzenden des Deutschen Ethikrates. Ein hagerer Gelehrter mit streng geschnittenem Bart lud michin seine Küche: Wolf-Michael Catenhusen, Jahrgang 1945, ehemals Bildungspolitiker der SPD. Sobald er saß, war ihm die Erkrankung seines Bewegungsapparates nicht mehr anzusehen. Catenhusen argumentierte, mit protestantischem Ernst. Neun der 23 Mitglieder hatten gegen die Straffreiheit von Inzest gestimmt, auch er. „Ich halte Tabus für nicht entbehrenswert, sie haben eine gesellschaftliche Funktion.“ Er wollte Inzest nicht mit Abtreibung vergleichen, „dieses Tabu war gesellschaftlich erledigt und konnte deswegen abgeschafft werden“. Er äußerte sich konservativ, „das Familienbild in Deutschland steht nicht mehr auf starken Fundamenten“. Catenhusen erzählte, dasssich der Sohn seiner zweiten Frau aus erster Ehe einst zu seiner Halbschwester hingezogen fühlte. Die Mutter habe das gestoppt, heutige Eltern würden mit „Verrohung und Wurschtigkeit“ reagieren.

Ganz zufällig stieß ich auf das wohl einzige „Inzestzentrum“ der Welt, in der norwegischen Südregion Vestvold. Ich wusste nichts darüber, der Zweck des „Incestsenteret i Vestvold“ war mir schleierhaft. Die Gründerin Mary-Ann Oshaug holte mich in ihrem Skoda vom Bahnhof ab. Die Gesichtshaut der Blondine war orange, wie aufgetragen, „das ist vom Spazierengehen mit meinem Hund“. Ab der ersten Sekunde verstörte mich ihr Blick. Auch wenn sie mich anlächelte, gingihr Blick verloren durch mich durch. Sie sah jünger aus, als sie war.

Missbrauch. Aber Inzest aus Liebe?

Das Inzestzentrum ähnelte den Einfamilienhäusern drum herum, nur war alles ein wenig größer. Es war ein anheimelndes Haus aus weiß gestrichenem Holz. Freundliche ältere Damen, deren Blond naturbelassen in Weiß überging, buken Kekse oder rauchten auf der Terrasse. Im ersten Stock waren lauter Kinderzimmer eingerichtet, zu diesem Zeitpunkt leer. Weiche Formen, warme Töne, Stofftiere überall. In Oshaugs Büro eine große Besprechungscouch, Spielzeugautos mit Teddybären am Steuer, Kinderzeichnungen an der Tür.

Die Chefin klärte mich auf: „Ich wurde sexuell missbraucht, von sechs bis 16.“ Ihr Vater hatte sie auch Freunden überlassen, als Einsatz beim Pokerspiel. Es folgten Heroin, Psychose, Psychiatrie. 1988 gründete sie ihre erste Anlaufstelle fürOpfer. Inzest im Inzestzentrum, das bedeutete sexuellen Missbrauch durch Verwandte. Oshaug trat in Schulen auf, in Kindergärten, verteilte ihren Cartoon „Mats und die bösen Geheimnisse“.

Ich fragte sie, ob Inzest aus Liebe für sie existiert. Sie zögerte, ihr 24-Stunden-Callcenter hatte in all den Jahren 23.000 Anrufe entgegengenommen: „Ich kannte nur ein paar Brüder und Schwestern, die ineinander verliebt waren.“ – „Finden Sie da Strafbarkeit richtig?“ – „Ich habe nichtsgetan. Ich ließ sie in Frieden. Ich kann mich aber nur an drei Fälle erinnern.“ Sie fügte hinzu, dass Missbrauch durch Mütter zunehme und zwischen Geschwistern im Kleinkindalter.

Als sie mich zurückfuhr, sah ich ihr Wohnhaus. Es war aus weiß gestrichenem Holz, die mit Bastelzeug gefüllte Garage stand beleuchtet offen. Ein Hort der Behaglichkeit, doch bedrückte nichts so sehr wie dieses Behagen. In Deutschland ist der Gesetzgeber der Empfehlung des Ethikrates bisher nicht gefolgt. Auch in Österreich ist Inzest noch verboten. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.08.2016)

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