Der Weg ins Freie

(c) Erwin Wodicka
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Der Glaube an die Aufklärung ist zertrümmert. In Scherben liegt, was ganz war. Es kann eine neue Aufklärung nur geben, wenn
wir uns der Hoffnungen der alten auf eine solidarische, offene Gesellschaft erinnern und wenn wir wagen, über die Begrenztheit des Nationalen hinauszudenken.

In Scherben liegt, was einst ganz war. Zerbrochen ist der Krug. Angeklagt ist, der ihn nicht zerschlug. Der Richter selbst ist es, der Schuld trägt an dem Vergehen, über das er nun zu urteilen hat. Er ist es, der, was heil war, zertrümmerte. In einem Stück erzählt uns Heinrich von Kleist, wie aus dem Recht erst nichts wird als Betrug, bis aufgedeckt ist, was geschah. Die Handlung ist – mehr oder weniger – die Verhandlung. Der Schauplatz ist eine Gerichtsstube. Der Dichter gibt den Juristen der Lächerlichkeit preis, doch zum Schluss siegt Gesetz und Wahrheit über Willkür und Falschheit. Die Liebe triumphiert. Die Hochzeit kann gefeiert werden. Der Schreiber wird zum neuen Dorfrichter. Der alte wird abgesetzt. Aber die letzte Szene deutet an, es sei am Ende doch nicht alles wieder gut. Das Verfahren ist keineswegs abgeschlossen, denn die Klägerin verweist auf das, was von Anfang an sich nicht mehr fügte, denn da ist immer noch „Der zerbrochne Krug“. Ist es nicht beinah so, als wäre das Bühnenwerk die Vorwegnahme dessen, was wir hier mehr als zweihundert Jahre nach seinem Entstehen erörtern wollen? Der Glaube an die Aufklärung ist nicht mehr unbeschadet. In Scherben liegt, was einst ganz war.

Was Kleist uns im Theater vorführt, ist jedoch nicht so kritisch gegenüber der Justiz wie seine berühmte Erzählung „Michael Kohlhaas“. Dort geht es um den Gegensatz zwischen Recht und Gerechtigkeit, zwischen Gesetz und Rache. Wir lesen eine Geschichte über die Eskalation von Gewalt, wie sie uns auch heute noch an vielen Orten entgegentritt, doch kein Verbrecher wird uns vorgestellt. Im Gegenteil. Kleist schreibt: „An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Rosshändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit.“ Diesem merkwürdigen Widerspruch, der Rechtschaffensten und zugleich Entsetzlichsten Einer zu sein, folgt bald ein Satz, der verstörender noch klingt: „Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.“ Wir lesen demnach nicht von einem Menschen, der einfach hier gut ist, doch dort im Gegensatz dazu böse. Nein, dieser Kohlhaas ist, wie Kleist es formuliert, „einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit.“ Zugleich ist er beides, denn indem er der Tugend folgt, neigt er auch zum Exzess. Kann besser dargestellt werden, was gemeint ist, wenn etwa von der Dialektik der Aufklärung die Rede ist. Aufklärung war von Anfang an ein Prozess und zwar eben kein kurzer, sondern einer, über dessen Ausgang immer noch verhandelt wird.

Es war wohl, was nun in Scherben vor uns liegt, nie so ganz und nie so heil, wie wir es heute gerne glauben wollen. Kleist wählt mit seinem „Michael Kohlhaas“ eine fern zurückliegende Epoche. Er kann auf diese Weise besser der Zensur seiner Gegenwart entgehen und will sein Publikum mit der Erzählung aus alter Zeit fesseln. Kleist schreibt nach dem Ende des Absolutismus über die Phase seines Beginns. Die Geschichte vom „Michael Kohlhaas“ spielt im sechzehnten Jahrhundert, doch die erste Fassung der Novelle erscheint 1808, wenige Jahre nach der Französischen Revolution und ihrer Terreur. Von Anfang an setzte Aufklärung Kräfte frei, die in völlig unterschiedliche Richtungen wirkten.

Ein Autor forscht solchen Gegensätzen und dem Scheitern der Vernunft leidenschaftlich gerne nach. Im Riss, der durch die Welt geht, nistet er seine Romane und seine Stücke ein, um darzulegen, was in Scherben liegt, selbst wenn es einst ganz gewesen sein sollte. Sein Thema ist der zerbrochne Krug, von dem der Historiker zu wissen glaubt, dass es ihn so ganz und so gar nie gab, während der Jurist gleichwohl beschließen wird, wer ihm wem schuldig zu sein hat. Dem Autor geht es hingegen nicht darum, den Zwiespalt, von dem er erzählt, zu überwinden oder gar zu kitten. Im Gegenteil. Der Autor weiß, die Kluft auszunutzen für sein Werk. Friedrich Dürrenmatt erklärte, der Umstand, dass die Dramatiker „alle möglichen und unmöglichen Verbrechen in ihren Stücken behandelten, leiste dem Irrtum Vorschub, ihnen gehe es um Gerechtigkeit und Recht, in Wahrheit beschäftigt sich der Dramatiker ebensowenig damit wie der Verbrecher; wie der Verbrecher begnügt sich der Dramatiker, dem Juristen Stoff für dessen Nachdenken und Klassifizieren zu liefern.“

Mit der Literatur kommt das Opfer, der Einzelne, der Vereinzelte nicht zu seinem Recht, aber zu Wort. Der Täter erhält nicht die Strafe, die ihm gebührt, doch findet er zuweilen mehr Gehör, als ihm lieb ist. Literatur heilt die Wunde nicht. Sie legt den Finger darauf. Sie löscht nicht den Schmerz. Aber sie löst den Schrei. Der Autor kann zur Sprache bringen, was sie ihm verschlägt. Der Historiker bemüht sich darzustellen, wie es gewesen ist. Literatur kann hingegen verdeutlichen, wie es gewesen sein wird. Wie es gewesen sein wird; dieser deutsche Satz lässt sich auf verschiedene Weise lesen, weil darin die Intuition durchklingt, sich vorzustellen, wie ein Vorgang für den Einzelnen gewesen sein mag, wie er empfunden wurde, doch zugleich ist damit gemeint, wie die Geschichte fortgeschrieben, wie sie überwunden und wie sie einst eingesehen werden wird. Über Michael Kohlhase, über die historische Gestalt, die der Novelle zugrunde liegt, wissen nur wenige Bescheid, doch das Schicksal seines fiktiven Spiegelbilds „Michael Kohlhaas“ kennt hoffentlich jeder Gymnasiast.

Literatur erzählt uns von Fällen, in denen Gesetz, Recht und Gerechtigkeit nicht übereinstimmen. In Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ beleidigt etwa Antonio den Juden Shylock, will jedoch von ihm Geld leihen. Shylock bietet an, auf Zinsen zu verzichten, verlangt als Sicherheit und scheinbar zum Spaß, nur dies: Gelingt es dem Antonio nicht, die Schuld rechtzeitig zu begleichen, so hat Shylock Anspruch auf „ein Pfund Fleisch“ aus Antonios Körper. Als Antonio nicht fristgerecht zahlen kann, wetzt Shylock sein Messer. Aber Portia maskiert sich als Richter und verkündet: „Denn, weil du so auf Recht pochst, sei gewiss: Recht sollst du bekommen, mehr als du begehrst.“ Shylock habe zwar vertragsgemäß Anspruch auf genau ein Pfund Fleisch, nicht jedoch auf das Blut Antonios. Vergieße er beim Herausschneiden einen Tropfen, so drohe ihm die Todesstrafe.

Shakespeares Stück ist vielschichtig: Shylocks Schuld ist, auf sein Recht zu pochen. Shylocks Strafe ist, dass er Recht bekommt. Shylock sinnt auf Rache, folgt dem Buchstaben des Gesetzes, bis dessen Sinn verfälscht erscheint, und er ist aufs Geld aus. Hier klingen die Vorwürfe des Antijudaismus deutlich wider. Dem Juden wurde vorgeworfen, er nähre sich vom Blut der Christenkinder, und der Jude, so hieß es, dieser Geldeintreiber, sauge die Christen aus, bis sie bluteten. Ob Geld oder Blut, der Jude zapfe ab, was zirkuliert. Im Ghetto von Venedig spielt das Stück und der Richter ist nichts als die Maskerade der listigen Portia, weshalb es möglich wäre, so zu tun, als habe das Drama ohnehin nichts mehr mit uns zu tun. Die Aufklärung hob das Ghetto auf. Nun hatten die Juden die Möglichkeit, als freie Bürger Teil des Staates zu werden und zugleich privat ihrer alten Religion nachzugehen. Für den Historiker Heinrich Graetz war die Französische Revolution ein Weckruf der Freiheit, durch den alle jüdischen Menschen aus den Jahrhunderten der Sklaverei erlöst wurden. Nicht anders sah es auch der Wissenschaftler der jüdischen Geschichtsschreibung Simon Dubnow. Diese Sicht herrschte unter vielen gebildeten Juden vor. Aufklärung und Emanzipation waren die Verheißung, endlich mit gleichen Rechten ausgestattet zu sein. Die dunkle Zeit der Hetze, der Verfolgung und der mörderischen Pogrome sollte der Vergangenheit angehören. Nun wurden die Ketten rund um das Ghetto, die nachts den Ausgang versperrt hatten, weggeschafft.

In seinem Essay „Ghetto and Emancipation. Shall We Revise The Traditional View?“, erschienen 1928 in der New Yorker Zeitschrift The Menorah Journal, setzte Salo Baron dieser dualistischen Sichtweise eine differenziertere Perspektive entgegen. Zwar könne, meinte Baron, durchaus festgestellt werden, die jüdische Bevölkerung habe vor der Emanzipation keine Gleichberechtigung genossen, doch wer habe denn überhaupt in Zeiten des Feudalismus oder des Absolutismus über gleiche Rechte verfügt? Die Juden waren in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Baron weist in „Ghetto and Emancipation“ zudem auf gewisse Vorteile hin, die mit der Aufklärung verloren gingen. Baron erklärt, in der Moderne hätten die jüdischen Gemeinden ihre Autonomie verloren, während das jüdische Individuum als Staatsbürger in die Pflicht genommen wurde, Militärdienst leisten musste und sich zu assimilieren hatte. Die Emanzipation werde von den Juden verherrlicht, die davon zu profitieren hofften. Aber die Emanzipation berge eine Falle. Das Angebot der Emanzipation wird mit dem Zwang zur Assimilation verknüpft. Wen wundert es, wenn diesem Gedanken schnell der Umkehrschluss folgte, dass derjenige, der sich nicht anpassen und jede Eigenheit aufgeben will, auch seinen Anspruch auf Gleichheit und Zugehörigkeit verwirkt? Aus Juden hatten Israeliten zu werden. Der Jude stand unter Verdacht. Ihm wurde vorgeworfen, gleich und ungleich zugleich sein zu wollen. Ihm wurde unterstellt, vaterlandslos, doppelzüngig und feige zu sein.

Im Jahre 1932, kurz vor der Machtergreifung Hitlers, veröffentlichte die junge Wissenschaftlerin Hannah Arendt einen Artikel in der Zeitschrift „Geschichte der Juden in Deutschland“. Der Titel der kurzen Arbeit: „Aufklärung und Judenfrage“. Hannah Arendt zeigt hier auf, wie die moderne Judenfrage nicht von der Aufklärung verdrängt wird, sondern erst aus der Aufklärung entstand. Der erste Satz in diesem Text lautet: „Die moderne Judenfrage datiert aus der Aufklärung; die Aufklärung, d. h. die nichtjüdische Welt hat sie gestellt.“ Im Namen der Vernunft wurden die Juden zusehends zur Selbstaufgabe gedrängt. Für Johann Gottfried Herder etwa, so Arendt, sei die jüdische Religion eine Religion Palästinas und „an ihr festhalten, heißt eigentlich das Volk Palästinas und damit ‚in Europa ein unserm Erdteil fremdes asiatisches Volk“ zu bleiben.“

Der Glaube an die Macht der Vernunft, der Toleranz und der Aufklärung wurde in Auschwitz verbrannt. Der Krug mag in Scherben liegen, doch sein Inhalt ist in Flammen aufgegangen. Es half nichts, vor allem Mensch und gar nicht Jude sein zu wollen. Im Gegenteil, in der Emanzipation und im Assimilanten sahen die nazistischen Mörder das eigentliche Übel. Jenes Denken, das den Menschen retten wollte, indem er als Jude ausgelöscht werden sollte, ist mit der Gesinnung spiegelbildlich verschwistert, die der Juden habhaft werden wollte, um sie als Untermenschen zu ermorden.

Aber jener Kurzschluss, der das Ideal der Gleichheit mit Gleichmacherei verwechselte und letztlich alles Andersartige ausradieren wollte, klang am Anfang ganz harmlos. Die eine und einzige Vernunft sollte alle Menschen vereinen. Sie kämpfte gegen die Vormacht der Kirche an. Wen wundert es, wenn auch der Glauben der Andersartigen mit Zweifel bedacht wurde. Die Kritik richtete sich gegen christliche Glaubenswahrheiten, wie sollte sie da nicht auch jüdische Regeln erreichen. Aber nicht selten wurde, was in der eigenen Konfession nicht verändert werden konnte, um so heftiger bei der Minderheit angegriffen, als ginge es nur um einen Glaubenskrieg.

Der Furor der Aufklärung konnte zudem, wie wir seit Robespierre, seit Stalin und seit Mao wissen, auch umschlagen in Repression und Diktatur. Auch der Atheismus, dem ich persönlich übrigens anhänge, gleitet zuweilen in Fundamentalismus ab. Wer erfahren will, wie so eine Tyrannei der Revolution gewesen sein wird, kann darüber etwa in dem Bühnenwerk „Dantons Tod“ von Georg Büchner erfahren. Was Religionsfreiheit bedeutet, hängt vom Kontext ab, denn die Freiheit muß zuweilen gegen, doch andernorts für die Religion erfochten werden. Hier gilt es um die Freiheit von der Religion und dort um die Freiheit für die Religion zu streiten. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die Trennung von Staat und Religion verlangt eine mehrfache Anstrengung, denn die Grenze zwischen Säkularem und Sakralem muß gegen die Angriffe von beiden Seiten verteidigt werden. Es macht einen Unterschied, ob das Recht auf freie Meinung gegen die geistliche Macht durchgesetzt oder als Hetze gegen eine Minderheit eingesetzt wird. Wir leben zudem in einer Gesellschaft, in der wir mit unzähligen anderen Glaubensgemeinschaften konfrontiert sind. Mehr noch: Globalisierung macht jeden von uns zu einem Anderen.

Wer so tut, als gäbe es die eine und einzige Vernunft, über die er selbstverständlich höchstpersönlich verfüge wie über eine Freikarte zur höheren Wahrheit, und als wäre die Aufklärung ein Kulturgut, das in einem bestimmten Erdteil und seiner Zivilisation nur beheimatet ist, beweist alleinig seine Ignoranz. Aus der Aufklärung einen Kreuzzug des Abendlands zu machen, heißt sie aufzugeben. Die Schwierigkeit ist offenkundig: Die offene Gesellschaft wird aus den gegensätzlichsten Richtungen attackiert. Sie zu verteidigen, erfordert von uns, die antimuslimischen Kampagnen abzuwehren, ohne vor der dschihadistischen Ideologie zu kapitulieren? Mehr noch; die Mörder müssen bekämpft werden, künstlerisch, politisch, juristisch, polizeilich – und wo es gar nicht mehr anders geht, wohl auch militärisch.

Die Literatur konfrontiert uns hingegen mit dem anderen Blick und mit dem Blick des Anderen. Sie zeigt uns weitere Sichtweisen. Ich denke etwa an den wunderbaren Film Rashomon von Akira Kurosawa, der wiederum auf zwei Kurzgeschichten des Schriftstellers Akutagawa Ryūnosuke fußt. Ein Mord wird von den Zeugen vollkommen unterschiedlich geschildert. Die Frau des Getöteten, ein der Untat angeklagter Bandit, ein Holzfäller, der das Verbrechen vom Gebüsch aus beobachtete, und selbst der Geist des Ermordeten kommen zu Wort. Jede Version widerspricht der anderen, aber niemand ist am Ende ohne Schuld. Die Literatur hilft jedem, in sich selber den Anderen zu entdecken.

Wer heute im Sinne der Aufklärung denken will, kann sie nur weiterführen, wenn er bereit ist, sie auch gegen sich zu richten. Sonst kann sie leicht zum Kastengeist oder zum Kulturdünkel, zum Herrschaftsanspruch verkommen. Eine neue Aufklärung ist nur möglich, wenn sie – eingedenk ihrer Grenzen – sich selbst unentwegt der Kritik unterzieht.

Literatur kann dabei helfen, indem sie uns von jenen erzählt, über die blindlings geurteilt wird. Sie vermag auch aufzuzeigen, wie die Sprache des Gesetzes schal wird und das Individuum, um das es geht, ausblendet. Sie will den Wörtern nachgehen, mit denen dem Menschen zu Leibe gerückt werden kann. Während der Autor erzählt, wie es gewesen sein wird, soll uns der Jurist hingegen sagen, wie es zu sein hat – oder wie es gewesen zu sein hat. Er soll beschließen, was rechtens ist im Sinne des Gesetzes. Ich möchte von ihm einen eindeutigen Wahrspruch hören. Die Justiz muss zu einer Entscheidung drängen. Es braucht den Rechtsstaat, denn ohne ihn wäre die Demokratie die reine Willkür der Mehrheit und die Minderheit wüsste sich nicht geschützt. Ginge es nur um die Überzahl nach einer Wahl, könnte auch über einen Massenmord eine Abstimmung abgehalten werden. Hier herrscht Freiheit, heißt es in der deutschen Sprache und sie sagt uns damit, dass die offene Gesellschaft nur durch Regeln gesichert werden kann. Die sozialen Medien führen uns auf krasse Weise vor, was Dialektik der Aufklärung im Zeitalter der elektronischen Reproduzierbarkeit bedeuten kann. Verleumdung, und Hetze, Rufmord und Mordaufrufe nicht zu dulden, ist nicht Zensur, sondern die eigentliche Voraussetzung zur freien Meinungsvielfalt und zu gleichberechtigter Rede.

Das Internet ist wohl einer der schlagkräftigsten Beweise, wie sinnlos es ist, Emanzipation und Aufklärung auf ein Land begrenzt zu denken. Der Nationalstaat allein kann in einer globalisierten Welt das Menschenrecht nicht mehr garantieren. Schlimmer noch; keine Republik, keine Monarchie und kein Imperium waren im Laufe der Geschichte imstande, die Ansprüche einer universalistischen Perspektive zu erfüllen, denn jede Herrschaft war bisher auf Abgrenzung und Ausschluss gegründet. Das Menschenrecht, das abseits von Herkunft und Abstammung, das jenseits von Kaste und Klasse, das unabhängig von Religion und Kultur gelten soll, das nicht nach Staatsbürgerschaft fragt und sich nicht um Volkszugehörigkeit kümmert, entspricht im Prinzip nie ganz dem Grundkonzept des Nationalstaats. Das Versagen der nationalistischen Logik mündete indes in die Weltkriege des Zwanzigsten Jahrhunderts und in das totalitäre Unrecht, weshalb 1948 unter dem Eindruck der nazistischen Massenverbrechen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verfasst wurde. Sie sollte helfen, ein Netzwerk des Humanen auf internationaler Ebene zu spinnen, das den Werten der Aufklärung verbunden war, das Individuum vor den Anmaßungen der Macht zu schützen. Die Vereinten Nationen proklamierten einen Anspruch, der aus den Bürgerrechten in einem Land erst ein Menschenrecht macht, das über allen Staaten steht. Der Text selbst ist hohe Literatur und – wer kann es leugnen – immer noch reine Fiktion, wenn auch in vollkommener Form: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“ Klingt das nicht wie ein utopischer Roman über eine ferne Zukunft? Das ist bekanntlich der erste Artikel der Erklärung, wobei in der Präambel – das sollte der Fairness wegen eingestanden sein – erklärt wird, was hier zu lesen sei, werde verkündet, „als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal“, denn, so sagt die Präambel auch, eine Welt, in der diese Bestimmungen nicht gelten, ist zur Tyrannei und Barbarei verurteilt.

Die Erklärung ist an sich keine verbindliche Rechtsquelle und kein völkerrechtlicher Vertrag, doch flossen viele ihrer Bestimmungen durchaus in internationale Pakte ein, wobei die Kraft der Resolution nicht im Formalen liegt. Ihr Ursprung ist bereits im Denken der Aufklärung zu finden. Aber die ganze Erklärung wäre wenig wert und hätte kaum eine Bedeutung, gäbe es darin nicht einen Paragraphen, der unter den anderen dreißig Artikeln in ihrer Mitte versteckt ist, doch auf dem alles aufbaut, was davor und danach festgehalten ist. Hier – Artikel 14, Paragraph 1 – steht geschrieben: „Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.“

Gäbe es nicht diesen Anspruch auf Asyl, wäre ich dem Staat, in dem ich Bürger bin oder Ausländer, ausgeliefert. Asyl ist die letzte Sicherheitsgarantie menschlichen Seins. Dieses Recht müssen jene einfordern, denen alle anderen bereits verweigert wurden. Es verweist auf die Ausgestoßenen, auf die Vertriebenen, auf die Vogelfreien unserer Welt, auf jene, die der Gefangenschaft, der Folter, dem Mord, dem Krieg und dem Terror eben noch entrinnen konnten. Erst das Recht auf Asyl besiegelt den Wert der gesamten Erklärung, denn es erweitert den Kreis des Humanen über den Citoyen hinaus. Es wirkt jenseits der nationalen Begrenzung. Es setzt ein, wenn das Individuum im eigenen Staat nicht mehr geschützt ist. Es macht aus dem Menschen mehr als einen Bürger oder einen Fremden. Asyl ist Ausfallshaftung und Grundlage aller Menschenrechte zugleich.

Immer mehr Menschen wagen die Flucht, versuchen in Booten und Flössen über das Meer zu entkommen. Nicht wenige ertrinken dabei. Andere werden in Lastern verstaut. Hunderte erfrieren, verdursten und ersticken im Container. Sie vertrauen sich Schleppern an. Sie geraten in das Wirrwarr aus Schmugglern und Grenzgängern. Sie tragen ihre nackte Haut zu Markte, um sie zu retten. Sie geben ihr Letztes.

Die Bereitschaft der reichen Nationen, die Schutzbefohlenen aufzunehmen, sinkt. Es nützt nichts, wenn darauf hingewiesen wird, es seien zu anderen Zeiten viel mehr Flüchtlinge aufgenommen worden. Aus Angst vor dem Terror, werden vielerorts jene im Stich gelassen, die vor ihm flohen und die seine ersten Opfer waren. Statt den Mördern den Kampf zu erklären, folgen viele Staaten Europas der Logik der Dschihadisten, die aus einer politischen Auseinandersetzung einen Glaubenskrieg machen wollen.

Aber die Wahrheit ist banal. Ob Jesside, Kurde, Kopte oder Muslim: Wer Asyl beantragt, steht unter Verdacht. Der Flüchtling wird zur Flut. Wer aus Gegenden des Elends kommt, dem wird nicht geglaubt, Opfer politischer Verfolgung zu sein. Jeder, der Asyl beantragt, wird schlechter behandelt als ein Verbrecher. Für ihn gilt keine Unschuldsvermutung. In Anhaltelagern wird ihm und seiner Familie zugemutet, was jedem Kriminellen im Gefängnis erspart bleibt.

Die Literatur kann vom Schicksal des Einzelnen berichten. Von den Versuchen, die Existenz und Würde zu wahren vor dem Regelwerk der Gesetze. In seinem Text Flüchtlingsgespräche lässt Bert Brecht einen Protagonisten sagen: „Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustand kommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“

Im Roman „Kind aller Länder“ von Irmgard Keun erzählt ein Mädchen vom Dasein als Flüchtling und sie, die mit der Bahn von einem Ort zum anderen verbracht wird, sagt uns: „„Eine Grenze ist auch keine Erde, denn sonst könnte man sich ja einfach mitten auf die Grenze setzen oder auf ihr herumlaufen, wenn man aus dem ersten Land ’rausmuss und in das andere nicht ’reindarf. Dann würde man eben mitten auf der Grenze bleiben, sich eine Hütte bauen und da leben und den Ländern links und rechts die Zunge rausstrecken. Aber eine Grenze besteht aus gar nichts, worauf man treten kann. Sie ist etwas, das sich mitten im Zug abspielt mithilfe von Männern, die Beamte sind.“

Von den Beamten hören wir auch in Brechts Flüchtlingsgesprächen: „Andrerseits ist Menschlichkeit in unseren Zeitläuften kaum zu erhalten ohne Bestechlichkeit ... Sie werden Menschlichkeit finden, wenn Sie einen Beamten finden, der nimmt. Mit etwas Bestechung können Sie sogar gelegentlich Gerechtigkeit erlangen.“ Der Flüchtling ist gezwungen, ein Weltliterat im eigentlichen Sinne des Wortes zu sein. Der Flüchtling muss, um der Verfolgung zu entkommen, alle seine Spuren verwischen, doch kaum wähnt er sich in Sicherheit, soll er seinen Leidensweg lückenlos nachweisen. Der Flüchtling muß sich neu erfinden. Er hat Geschichten zu erzählen. Er soll zu einem Anderen werden. Er wird zum unbeschriebenen Blatt und zum Roman zugleich. Er ist sein Asylantrag. Das Wort „Lebenslauf“ erfährt bei ihm, der ums nackte Überleben rennt, eine eigene Bedeutung. Ein falsches Wort und er redet sich um Kopf und Kragen. Sein Fall wird abgelehnt oder die Entscheidung wird auch nur aufgeschoben, ein Dokument eingefordert, das erst einlangt, wenn Sohn und Tochter nicht mehr nachgeholt werden können, weil sie nach einem Bombenangriff verschwunden sind.

Ginge nur ein Krug zu Bruch, wir müssten nicht viele Worte darum machen, aber ein Autor könnte ihnen Geschichten erzählen, wo nichts mehr heil ist außer dem Krug. Etwa jene von dem Mann, der mit seiner Frau und dem Kleinkind in einem Zug durch Ungarn fuhr, und der Bub brüllte im Sommer des Jahres 2015 vor Durst, doch leer war sein Fläschchen, weshalb der Vater, als der Waggon an einem Bahnhof hielt, schnell absprang, hin zum nächsten Wasserhahn. Kaum war das Fläschchen voll, da rollte der Zug wieder an, darin die Mutter und in ihrem Arm der Kleine, sie mit allen Dokumenten und den Pässen, doch ohne Englisch, ohne Deutsch, geschweige denn Ungarisch ruft in Arabisch nach ihrem Liebsten. Er läuft den beiden hinterher, schreit um Hilfe, aber vergeblich – er ist ein Flüchtling, bisher ein Familienoberhaupt, verschollen im Niemandsland, ein Papierloser, in der Hand nicht als die aufgefüllte Plastikflasche, doch in Scherben ist nun alles, was einst ganz war.

In ihrem paradigmatischen Essay „We refugees“, erschienen 1943 in der New Yorker Zeitschrift The Menorah Journal, schrieb Hannah Arendt: „Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Unsere Identität wechselt so häufig, dass keiner herausfinden kann, wer wir eigentlich sind. [...] und das bedeutet den Zusammenbruch unserer privaten Welt.“ Masha Kaléko beschrieb recht eindrücklich, was Arendt hier anspricht:

Der kleine Unterschied

Es sprach zum Mister Goodwill

ein deutscher Emigrant:

»Gewiss, es bleibt dasselbe,

sag ich nun land statt Land,

sag ich für Heimat homeland

und poem für Gedicht.

Gewiss, ich bin sehr happy:

Doch glücklich bin ich nicht.

Für Arendt ist der Flüchtling der Prüfstein des Menschenrechts. Sie fordert das Recht, Rechte zu haben. Der Schluß des Textes weist in eine Richtung, die weit über das jüdische Schicksal hinaus reicht. Ihr geht es darum, zu wissen: „dass unmittelbar nach der Ächtung des jüdischen Volkes die meisten europäischen Nationen für vogelfrei erklärt wurden. Die von einem Land ins andere vertriebenen Flüchtlinge repräsentieren die Avantgarde ihrer Völker (…).“ Arendt schreibt: „Und die Gemeinschaft der europäischen Völker zerbrach, als – und weil – sie den Ausschluss und die Verfolgung seines schwächsten Mitglieds zuließ.“

Am Ende des Zweiten Weltkriegs hatte sich erfüllt, was Hannah Arendt vorhergesagt hatte. Unzählige waren auf der Flucht. Aber heute, da der ganze Globus zu einem einzigen Marktflecken zusammenschrumpft, da in jedem Kuhdorf dieselben Weltnachrichten und die nämlichen Markenwerbungen ausgestrahlt werden, da das soziale Netz Millionen Notleidende und Verfolgte zu erreichen vermag, da mit einem Billigflug von einem Kontinent zum nächsten gewechselt werden kann, da in vielen Ländern die Regierungen alle Kontrolle über die eigene Politik verlieren, ungeschriebene Gesetze teils mehr gelten als die offiziellen Rechtssysteme und in etlichen Staaten irgendwelche Privatiers, War Lords, paramilitärische Bewegungen, terroristische Fanatiker oder Ringe des organisierten Verbrechens Macht ausüben, Menschen morden und verschwinden lassen, wird der Flüchtling zur universalen Gestalt unserer Zeit. Der Flüchtling ist die Conditio humana der globalisierten Gegenwart. Er ist der Widerpart zu jenem Luxus, mit dem manche auf ein Wochenende zum Shopping nach London fahren, eine Ausstellung in Paris anschauen oder ein Theater in Berlin besuchen. Seine Welt ist die unsere, doch die unsere ist seine nicht. Er steht, ob in Amman, in Colombo oder in Peking, vor Starbucks, er sieht, ob in Dubai, in Lagos oder in Singapur, den neuesten Blockbuster, den auch wir uns anschauen. Er ist die Kehrseite unseres Triumphs. Er ist das wandelnde Mahnmal unseres schlechten Gewissens. Er ist der Schatten unseres Reichtums. Er ist das Gespenst der Armut, die wir fürchten – und zwar mit allem Recht.

So wie damals, als Arendt ihren Essay „Wir Flüchtlinge“ schrieb, steht und fällt die europäische Gemeinschaft der Völker mit der Frage, ob sie eine gemeinsame Lösung für jene findet, die nun – wir mögen sie gerne willkommen heißen oder nicht – vor Verfolgung, Terror und Krieg fliehen. Anders als die rassistischen Scharfmacher uns einreden wollen, muss die Europäische Union trotz aller offenkundigen Probleme eine gemeinsame und humane Perspektive angesichts der Flüchtlinge entwickeln, ohne jene Grundlagen von Menschenrechten und Demokratie aufzugeben, auf denen sie gründet. Es kann eine neue Aufklärung auf diesem Erdteil nur geben, wenn wir uns der Hoffnungen der alten Aufklärung auf eine solidarische und offene Gesellschaft erinnern und wenn wir wagen über die Begrenztheit des Nationalen hinaus zu denken, damit das Europa, das ganz zu sein hat, künftig nicht in Scherben gegangen sein wird. Es ist wie im Stück von Heinrich von Kleist. Wir gehen mit unseren Bruchstücken in die nächste Instanz. Der Prozess läuft weiter. Es bedarf noch einiger Verhandlungen. Das Verfahren ist nicht abgeschlossen und es wird so schnell auch nicht abgeschlossen sein.

DORON RABINOVICI

Geboren 1961 in Tel Aviv. Lebt seit 1964 in Wien. Dr. phil. Schriftsteller, Publizist, Historiker. 2015 Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln. 2016 bei Suhrkamp (mit Natan Sznaider): „Herzl relo@ded. Kein Märchen“. Sein Beitrag gibt Ausschnitte aus der Rede wieder, die er vorigen Sonntag zur Eröffnung der Rechtsgespräche beim Europäischen Forum Alpbach hielt.

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