Die Nacht gehört der Sünde

Zu einer aufstrebenden Metropolegehört schon ein Nachtleben, das diesen Namen halbwegs verdient. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts versuchte sich auch Wien auf sündhaft nächtlichem Terrain. Doch mehr als das eigentliche Leben boomte das Image – dem Fremdenverkehr zur Freude.

Denkt man heute an das Verhältnis von Nacht und Großstadt, fallen einem vor allem zwei Dinge ein. Dass Städte zu den größten Lichtverschwendern gehören; dievor allem in den industrialisierten Ländern zunehmende Lichtverschmutzung ist ganz wesentlich ein urbanes Phänomen. Und dass sich in den Städten im Lauf der Zeit ein eigenes Nachtleben herausbildete, eine bewusste Gegenwelt zur geschäftigen Betriebsamkeit bei Tag, angereichert mit vielfältigen erotischen Konnotationen. Beide Nacht-Aspekte stehen miteinander in spannungsvoller Beziehung und haben unser Bild von dem, was die moderne Stadt eigentlich ausmacht, nachhaltig geprägt.

Es war das 19. Jahrhundert, in dem sich ein neues Verhältnis der Menschen zur Nacht abzeichnete. Vorreiter waren die rasant wachsenden Städte, wo die Ausbreitung der Gas- und später elektrischen Beleuchtung den Aktionsradius ihrer Bewohner erweiterte und sich bisher ungekannte Wahrnehmungs- und Erfahrungswelten auftaten. Ein Zivilisierungs- und Rationalisierungsprozess anthropologisch tief verwurzelter Ängste vor der Dunkelheit begann, dessen kultureller und sozialpsychologischer Kontext mittlerweile in zahlreichen Kulturgeschichten der Nacht erforscht ist. Die Urbanisierung als Motor der Moderne war untrennbar verbunden mit der Neuordnung von Helligkeit und Dunkelheit, äußerlich genauso wie innerlich.

„Eine Stunde ist ein See, ein Tag ein Meer, die Nacht eine Ewigkeit”, formulierte Joseph Roth und brachte damit das nachts grundlegend veränderte Zeitempfinden auf den Punkt als wesentliche Voraussetzung für all das, was darin geschehen sollte. Faszination und Schrecken als die zwei zentralen Seiten der Nacht blieben untrennbar miteinander verbunden, so der Kulturwissenschaftler Joachim Schlör, der als einer derErsten die Zusammenhänge zwischen europäischer Großstadtentwicklung und der Einstellung zur Nacht untersuchte. Er konstatierte einen um 1840 beginnenden Prozess, in dem sich die nächtliche Stadt „öffnete“. So wie die äußeren Begrenzungsmauern um die Städte fielen, lösten sich auch in ihrem Inneren ehemals fest gefügte Grenzen auf. Konfliktbeladene Diskurse um die städtische Nacht setzten ein, die stets um drei Themen kreisten: Sicherheit, Sittlichkeit und Zugänglichkeit.

Neue Stadtbilder und -begriffe spiegelten all dies wider. „Berlin bei Nacht“, „London by night“ oder „Paris la nuit“ begannen sich zu schillernden Vorstellungswelten zu entwickeln. Erotische Konnotationen spielten dabei eine zentrale Rolle, wobei sie je nach Stadtunterschiedlich stark ausgeprägt waren.

Auch „Wien bei Nacht“ entstand ab den 1840er-Jahren als Chiffre für die glitzernde Seite einer aufstrebenden Stadt, die im Konkurrenzkampf der europäischen Metropolen mitzuhalten gewillt war. Doch die Realität sah vorerst noch traurig aus. Die meisten Gasthäuser, Theater und anderen Vergnügungslokale sperrten um 22 Uhr ihre Tore, das damalige Nachtleben war mehr als bescheiden. Das gefürchtete „Sperrsechserl“ spielte dabei eine wichtige Rolle, als jener Obolus, den man nach 22 Uhr dem Hausmeister für das Öffnen des Haustores zu bezahlen hatte. „Wien bei Nacht ist eine Stadt der Todten, da der Tod der Bruder des Schlafes ist. Wien bei Nacht ist ein Buch ohne Inhalt, ein Etui ohne Geschmeide, eine Blume ohne Duft“, klagte ein Zeitgenosse im August 1858. Der ersehnte Theater-Impuls erfolgte erst Jahre später. Der bekannte Schriftsteller O. F. Berg war der Erste, der ein Stück namens „Wien bei Nacht“ auf die Bühnebrachte. Die Uraufführungfand 1863 im Thaliatheater statt. Das unterhaltsame, aus mehreren turbulenten Szenen bestehende Volksstück wurde fortan mit Erfolg auf zahlreichen Bühnen der Stadt präsentiert. Einen unzweifelhaft erotischen Beigeschmack steuerte das Etablissement Sperl bei. Das renommierte Vergnügungslokal in der Leopoldstadt hatte seinen einstigen Glanzeingebüßt und war in den 1860er-Jahren zum Treffpunkt der Halbwelt und Dirnen geworden. Regelmäßig fanden hier einschlägige Tanzveranstaltungen statt unter dem Titel „Wien bei Nacht, wie es tanzt und lacht“, bis das Lokal 1873 geschlossen und das Gebäudedemoliert wurde.

Das Jahr der Weltaussstellung und die urbanen Entwicklungsschübe in den Folgejahren verhalfen Wiens Nacht-Image zu weiterer Breitenwirkung. Sogenannte Nachtkaffeehäuser entstanden. Sie waren durchgehend geöffnet und galten mit ihren frivolen Gesangs- und Tanzdarbietungen als „Ableger des Tingl-Tangls“. Hier konnte man, wie auf zahlreichen Plakaten angekündigt, das „Leben in Wien bei Nacht“ genießen. Den wohl anrüchigsten Ruf von allen hatte das in der Innenstadt gelegene Café Jautz, das den Beinamen „Wien bei Nacht“ trug und als „Hölle des Lasters“ galt.

Sexualität und Verbrechen, das war das vorherrschende Bild, das in der Öffentlichkeitbis dahin von „Wien bei Nacht“ zirkulierte. Nicht von ungefähr hatten inzwischen zahlreiche Zeitungen eine gleichnamige Rubrik auf ihren Lokalseiten eingerichtet, in der sie regelmäßig über Verhaftungen und kriminelle Vorfälle in Zusammenhang mit Prostituierten und „Strizzis“ berichteten.

Zudem gewann eine andere Facette der großstädtischen Nacht an Bedeutung. Mit dem Ausbau der öffentlichen Beleuchtung schob sich die ästhetische Dimension verstärkt ins Blickfeld. Die Lichter der rapide wachsenden Großstadt begannen sich zu einer neuen Sehenswürdigkeit zu entwickeln. Euphorisch sprach man immer öfter vom „Lichtermeer“ und vom „irdischen Sternenbild“, als welches das nächtliche Wien erscheine. In der Stadt selbst, vor allem in den Geschäftsstraßen mit ihren zahlreichen zusätzlich beleuchteten Auslagen, kam ob der „schimmernden Lichtflut“ geradezu Feststimmung auf.

Auf dieser beeindruckenden Bühne aus Licht und Schatten fand ab Ende des 19. Jahrhunderts eine neue Inszenierung und alltagskulturelle Aneignung urbaner Räume statt. Dazu gehörte endlich auch ein Nachtleben, das diesen Namen halbwegs verdiente. Varietés, Kabaretts und Tanzlokale bereicherten die nächtliche Infrastruktur der Stadt, was nicht zuletzt aus Sicht des aufstrebenden Fremdenverkehrs von Bedeutung war. Keineswegs fehlen durfte„Wien bei Nacht“ als Motiv von Ansichtskarten, die um 1900 zum populären Massenmedium gewordenwaren und entscheidend dazu beitrugen, das Bild der Stadt im In- und Ausland zu formen und zu verbreiten. Die Ikonografie von „Wien bei Nacht“folgte dabei bekannten Stereotypen. So gab es das Sujet der tanzenden Frauen und Mädchen, die mit verführerischen Blicken zu einem Besuch der Stadt einluden. Bisweilen begleitet von der unmissverständlichen Botschaft: „Verlockend schön ist hier die Nacht, /Sieh nur, wie jedes Mädel lacht, / Willst du wie ich mich amüsiren. / Musst du die Reise selbst risciren.“ Ein weiteres beliebtes Motiv zeigte einen Fiaker oder ein Autotaxi, in dem sich silhouettenhaft ein küssendes Paar abzeichnete, im Hintergrund Wiens nächtliche Stadtkulisse. Zum weitaus beliebtesten seriellen Motiv aber wurden Szenen, die an den damaligen Hotspots des erotischen Wienangesiedelt waren und diese auch als solche benannten: Praterstern, Novaragasse, Spittelberggasse, Graben, Kärntner Straße, aber auch Ringstraße, Rathauspark oder Stadtpark. Gezeigt wurden Verabredungen zwischen Männern und Frauen, teils humorvoll konterkariert oder durch Polizisten gestört. Wobei auch hier die Personen als Schattenbilder dargestellt wurden, eine grafische Methode, die sich in ihrer anonymisierenden und typisierenden Form als ideale Bildsprache für das mehr oder weniger anrüchige Nachtleben der Stadt bewährte.

Ein besonderes Sujet war die sogenannte Porzellanfuhr, ein küssendes Paar in einem langsam dahintrottenden Fiaker darstellend. Die Bezeichnung bezieht sich auf die Aufforderung, die der Kutscher vor Fahrtantritt erhielt, was bedeutete, er solle gemächlich und so vorsichtig wie möglich fahren. Derartige Sondertouren, bei denen das gepolsterte Wageninnere zum Liebensnest umfunktioniert wurde, waren seit dem 18. Jahrhundert beliebt und allseits bekannt.

Zu all dem erschien auch eine Vielzahl an topografischen Ansichtskarten, die einzelne Stadtteile und prominente Sehenswürdigkeiten im Lichterglanz ästhetisierend hervorhoben. Das Image „Wien bei Nacht“ hatte sich endgültig etabliert, wenngleich die Sperrgeld-Problematik weiter bestehen blieb. Und weiter bestehen blieb auch die Stadtnacht als Raum der nicht nur symbolischen Konfrontation von Freiheit und Ordnung, Anziehung und Abstoßung. Doch wie ging beides zusammen, das spärliche Nachtleben und das boomende Nacht-Image? Diente Letzteres vielleicht gerade dazu, Ersteres zu überdecken?

Der Erste Weltkrieg brachte einen Rückschlag: Das sich in der Stadt ausbreitende Elend bescherte „Wien bei Nacht“, so der Schriftsteller Erich Walter, eine „ganz eigene, düstere Note“. Erst in der unmittelbaren Nachkriegszeit kam das Nachtleben allmählich wieder in Schwung, angefeuert von der lange ersehnten und diesmal endgültigen Abschaffung des hausmeisterlichen Sperrgeldes. Wohnungsmieter erhielten einen eigenen Haustorschlüssel.

„Das Nachtleben ist im Werden“, verkündete „Der Bummler“ euphorisch. Die neue Monatszeitschrift bot sich an als „Führer durch Wien bei Nacht“ und brachte Inserate von jenen Vergnügungslokalen, Bars und Cafés, die bis vier Uhr früh offen hielten. Eine andere damals ins Leben gerufene Zeitschrift, „Das neue Wien bei Nacht“, verstand sich demgegenüber als aufklärerisches Organ. Geboten wurde Investigativjournalismuszur Lage des erotischen Wien.

Die Sprache wurde expliziter, auch in der Populärmusik. „Komm, die Nacht gehört der Sünde!“ (Franz Lehár) und „Wien wird bei Nacht erst schön“ (Robert Stolz) sind nur zwei der damals beliebten Lieder, die den Soundtrack zu „Wien bei Nacht“ der 1920er- und 1930er-Jahre lieferten. Die Anziehungskraft der Nacht schien stärker denn je – bei Einheimischen genauso wie bei Touristen. Letztere konnten schon bald unter dem gleichnamigen Motto eine dreistündige Autobusrundreise unternehmen, die von der Innenstadt in den Prater und von dort auf den Cobenzl bis nach Grinzing führte.

Die städtische Fremdenverkehrswirtschaft hatte entscheidenden Anteil an der Implementierung des Blicks auf die nächtliche Metropole. Dieser wurde, ermöglicht durch Verbesserungen bei Technik und Filmmaterial, durch eine immer breitere Palette an fotografischen Nachtaufnahmen motivisch weiter vervielfältigt und damitgleichzeitig auf Jahrzehnte hinweg standardisiert. Die Grenzen von „Wien bei Nacht“ waren relativ rasch ikonografisch und moralisch abgesteckt. Bedenken schienen nicht angebracht, wie Ludwig Hirschfeld, Journalist der „Neuen Freien Presse“ und Verfasser des launigen Reiseführers „Wien. Was nicht im Baedeker steht“ mutmaßte. Denn beim Nachtleben zeige sich eindeutig, dass der Wiener die „Sperrstunde der Moral niemals ganz vergisst“. ■


Im Wien Museum Karlsplatz läuft ab
15. September die Ausstellung „Sex in Wien. Lust. Kontrolle. Ungehorsam“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.09.2016)

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