Das Rätsel ÖVP

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Was habe ich mich an der ÖVP abgearbeitet! Ich habe ihren „Events“ beigewohnt und ihren Rednern zugehört, bis zum Abwinken übertrainiert von amerikafrohen Experten. Immer wieder stellte ich mir die Frage, wie man dem Bürgerlichen eine moderne Form geben, ja, wo man es überhaupt finden könnte. Und warum das die ÖVP nicht schafft.

Das größte Rätsel Österreichs ist die ÖVP. So sehr unterscheidetsich die österreichische von der deutschen Gesellschaft nicht. Warum krebst unsere große christlich-konservative Staats- und Europapartei inUmfragen bei 20 und bei Wahlen bei 25 Prozent herum?

Man kann das Problem der ÖVP bündig benennen: Es sind ihre Bünde, die sie zerreißen. Der mitgliedermäßig schwächste Bund, der Bauernbund, wedelt mit dem Hund. Die mitgliederstarken Angestellten haben wenig zu plaudern, und die Wirtschaft ist traditionell zerrissen zwischen einer katholisch-verantwortungsbewussten, EU-freundlichen Fraktion auf der einen und einer deutschnational-schärferen, jederzeit zur Koalition mit der FPÖ bereiten Fraktion auf der anderen Seite.

Diese Konstellation hat sich seit den 1950er-Jahren nicht verändert. Wahrscheinlich umgab sich die Partei damals zu sehr mit einem muffig-restaurativen Schein des Wiederaufbaus, während Bruno Kreisky danach in der Sonne der Moderneglänzte. Ihre kulturelle Hegemonie ging den Konservativen damals ganz verloren; der von ihnen betriebene EU-Beitritt vermochte kaum die Effekte der Affäre Waldheim zu kompensieren. Wolfgang Schüssels Wende im Jahr 2000 propagierte danachunwillentlich eine falsche Art von Modernität. Der Pakt mit Jörg Haider schien rechten Konservativen ein mutiger Tabubruch; eher linke Schwarze empfanden ihn als unmöglichen Einbruch in den Cordon sanitaire. Figuren wie der slicke Finanzminister Karl-Heinz Grasser, den Schüssel beinahe zum Spitzenkandidaten gemacht hätte, dessen „Nulldefizit“ samt „Schuldenbremse“, vor allem aber seine gnadenlose „New Egonomy“ diskreditierten die ÖVP weiter.

Die Finanzkrise samt anschließenden Bankenrettungen steigerte den Glauben an schwarze Wirtschaftskompetenz nicht unbedingt; gerettet werden mussten nur mehr schwarze Institute, die roten Banken waren bereits von der Bildfläche verschwunden. Von einer schwarzen Finanzministerin abgeschlossene Separatabkommen mit derSchweiz und Liechtenstein schonten Steuerhinterzieher, das desaströse und Milliarden teure Handling der Hypo-Alpe-Adria-Affäre mitsamt dubioser Verstaatlichung vermochtedas wirtschaftliche Ansehen der Partei ebenfalls nicht zu erhöhen.

Schüssels Nachfolger Josef Pröll versuchte eine Erneuerung der Partei auch in programmatischer Hinsicht, scheiterte aber nachkurzer Zeit an seiner Gesundheit. Sein Nachfolger Michael Spindelegger lieferte eine beklagenswerte Episode. Er blieb vor allemdurch sein äußerst merkwürdiges, von Spindoktoren einstudiertes Benehmen im TV-Studio in Erinnerung; wie ein Automat bewegte er sich mehrfach auf das Publikum zu, das vor ihm zurückwich, weil nicht klar war, ob er rechtzeitig haltmachen würde.

Das Führungspersonal wurde schwach und schwächer. Wie bei der SPÖ drängte jede Führung ihre Altvorderen – etwa den scharfzüngigen Ex-Vizekanzler Erhard Busek oder den klar formulierenden Ex-EU-Kommissar Franz Fischler – zum Schaden der Partei an denRand. Der nüchterne Reinhold Mitterlehner bietet nun einen sachlichen Lichtblick an der Spitze. Manchmal steht ihm aber doch die zynische Verzweiflung über die Zustände in der eigenen Partei ins Gesicht geschrieben. Vom neuen Bundeskanzler Christian Kern zu einem neuen Stil aufgefordert, versicherte er glaubwürdig, auch er wolle Schluss machen mit der ewigen gegenseitigen Behinderung. Postwendend musste er erleben, dass sein Klubchef Reinhold Lopatka die gleichen alten Spielchen weiterspielte.

Dass Leute wie der Flüchtlingskoordinator Christian Konrad Fleisch vom Fleisch der ÖVP sind, wird kaum noch wahrgenommen. Konrad, ehemaliger Generalanwalt des Österreichischen Raiffeisenverbandes, machte einen exzellenten Job, tat all das, wozu die Regierung nicht imstande war, zeigte, dass auch 100.000 Flüchtlinge verkraftet werden können, aber er erledigte seine Arbeit so diskret, dass das Ergebnis in der öffentlichen Wahrnehmung nicht für die ÖVP zu Buche schlug.

Was habe ich mich an der ÖVP abgearbeitet! Ich habe ihren Rednern zugehört, egal ob sie als Kanzler staatliche Würde markierten oder als Prätendenten ihren Anspruch darauf anmeldeten. Ich habe von ihren Events berichtet, habe ihre offiziellen Staatsakte beobachtet, bei denen sie sich als Staatspartei feierte, ungelenk im Umgang mit Symbolen, aber bis zum Abwinken übertrainiert von amerikafrohen Experten.

Ich habe mit ihren Exponenten in Hinterzimmern diskutiert und auf großen Bühnen gestritten. Ich habe ein Gedicht über die Frage geschrieben, was denn das sei, das Bürgerliche. Immer wieder stellte ich mir die Frage, wie eine zeitgemäße bürgerliche Partei aussehe. Wie man dem Bürgerlichen eine moderne Form geben, ja, wo man es überhaupt finden könnte. Und warum das dieÖVP nicht schaffte.

Ist die ÖVP überhaupt konservativ? Ist sie christlich-sozial? Mit manchen Vertretern der ÖVP war es ein Vergnügen, darüber zu streiten. Klüger bin ich nach all den Gesprächen mit all den Kanzlern, Nationalratspräsidenten, Vizekanzlern, EU-Kommissaren und Ministern noch immer nicht (aber das kann man fast über jede Partei sagen, mit der man spricht).

Das neoliberale Paradigma, fürchte ich, regiert in alter Frische, und alle Finanzkrisen der Welt halten die ÖVP nicht davon ab, die Entfesselung der Wirtschaft ganz oben auf ihre Agenda zu setzen. Man behauptet, nicht populistisch zu agieren, und merkt nicht, dass man die klassische Figur des Populismus, nämlich die Gleichsetzung eines privaten Haushalts mit dem Staatshaushalt, zum Zentrum seiner Wirtschaftspolitik erklärt.

Es ist erstaunlich, wie wenig die ÖVP aus den Motiven macht, die den Aufstieg eines Typus Karl-Heinz Grasser befeuerten. Es gingzwar nicht ausschließlich, aber vornehmlich um Gier und schnelles Geld. Da war der Freiheitswunsch, den die Hayek-Adepten so geschickt für sich beanspruchen, auch ein Missvergnügen an den Verkrustungen eines Staates, der umstandslos mit einer solidarischen Gesellschaft identifiziert wurde. Wer gegen den sozialdemokratisch dominierten, überverwalteten, autoritären und als bevormundend empfundenen Staat war, musste sich, so schien es, neoliberal positionieren.

Diese Haltung führte, wir sahen es, auch Teile der Sozialdemokratie in Versuchung. Anders als den Champions dieses Denkens, ihren Parteigenossinnen Margaret Thatcher und deren weich gespülter Erbin Angela Merkel, gelang es der ÖVP zu keiner Zeit, solche Gefühle zu nutzen. Bereits auf dem Höhepunkt ihres Triumphs, der Kanzlerschaft Wolfgang Schüssels im Jahr 2000, war sie nur mehr drittstärkste Kraft im Parlament. Den einzigen Wahlsieg danach verdankte sie der Implosion von Jörg Haiders Partei.

Warum fasst die bürgerliche Partei nicht Tritt, nicht einmal im Angesicht keineswegs titanischer politischer Gegenspieler? Warum glaubt ihr keiner, was sie so verzweifelt wie verbissen artikuliert, dass doch sie die Staatspartei sei und nicht die Partei der verhassten, von vielen als proletenhaft empfundenen Roten? Antwort: weil sie nicht imstande ist, sich als jene christdemokratische Partei darzustellen, die sie in ihrem Parteiprogramm zu sein behauptet.

Ein moderner, christlich-sozial akzentuierter Kapitalismus (was immer das ist) könnte mehr Zulauf haben als eine postfeudale Partei, in der vor allem die Agrarpolitiker – sprich: die Vertreter der Agrarindustrie – und lokale Potentaten das Sagen haben. Hört man das Adjektiv „bürgerlich“, denkt man noch an jene gewissen Revolutionen, deren Slogans „Freiheit“, „Brüderlichkeit“und, ja, „Gleichheit“ lauteten. Da mutet es seltsam an, wenn die ÖVP-FührungGleichheit als Wettbewerbshindernis betrachtetund in „Chancengleichheit“ uminterpretiert, stattendlich den Versuch zu machen, die Sozialpartnerschaft, der sie in ihrem Grundsatzprogramm huldigt, auf moderne Weise mit Leben zu erfüllen. – In England entwickelte der Philosoph und Theologe Phillip Blond das Konzept des „Red Tory“ (mit dem er bei David Cameron nicht reüssierte), in den USA hatten George W. Bushs Berater die Idee des „Compassionate Conserativism“; Richard Nixons Sozialprogramme sähen heutzutage linksradikal aus. Man verlangt ja nicht, dass die ÖVP, die ihre randständigen Denker nicht einmal ignoriert, mit der Idee eines New Deal daherkommt. Aber eine neu definierte, aktualisierte und attraktive Vorstellung eines rheinischen oder auch donauländischen Kapitalismus dürfte es schon sein.

Wo ist die christdemokratische Leitidee, wo der zündende Funke der Erneuerung, der aus dem engstirnigen Ringen zwischen einem als unsozial denunzierten Staat und einer zum Allheilmittel hochgejazzten Wirtschaft herausführt? Wolkige Phrasen à la „Wachstum statt Schulden“ zählen nicht!

Ich kenne Regierungsmitglieder der ÖVPnoch aus zivilgesellschaftlichen Initiativen, in denen es Menschen verschiedenster politischer Präferenzen darum ging, Schwarz-Blau zu verhindern. Sie schienen mir an einer Modernisierung von Sozialpartnerschaft interessiert, sie dachten über einen gerechteren, sozialen, digitalen Kapitalismus zumindest nach. Man hört von ihnen in der Öffentlichkeit diesbezüglich nichts. Mag sein, dass, wer sich ideologisch bewegt, seine politische Karriere verwirkt. Das wäre ein Armutszeugnis.

In Rom gibt der neue Papst der Kirche ein sozialeres, antikapitalistisches und ökologisches Profil; juckt so etwas eine katholische Partei in Österreich gar nicht? Was machtsie aus dem Potenzial jener Christen, die – bis hin zum Kardinal, wenn der nicht gerade „Kronen-Zeitung“-Kolumnen schreibt – sich auf die Seite von Flüchtlingen schlagen? Verglichen mit der ÖVP, mutet die Caritas, die doch katholisches Herzland sein müsste, an wie eine linksradikale Oppositionssekte. Die Innenminister und -ministerinnen der ÖVP versuchten oft genug, mit Härte gegen Schwache billig Punkte zu machen. Rechtsstaat ist das eine, aber Missbrauch des Rechtsstaats zu Propagandazwecken das andere.

Die Wahl zum Bundespräsidenten vor dreieinhalb Monaten wies darüber hinaus auf ein West-Ost-Gefälle hin. In den moderneren westlichen, von der ÖVP dominierten Bundesländern Tirol und Vorarlberg und im Roten Wien siegte Alexander Van der Bellen. Kann es sein, dass im Westen des Landes eine andere, progressivere Art von Unternehmerschaft und auch eine andere Art Mittelstand existieren? Und warum kann die ÖVP die beiden anderswo nicht für sich mobilisieren? Wollen die Untertanen im Osten noch immer mit härterer Hand regiert werden?

Es ist möglich, dass die Europapolitik die Scheidelinie darstellt, nicht mehr der Arlberg. Alles löst sich auf, wenn Kernbereiche der ÖVP sich in Opposition zum westeuropäischen Teil der Europäischen Union begeben, und zwar nicht aus Gründen inhaltlicher Kritik an der EU, sondern aus innenpolitischem Machtkalkül. Die von Außenminister Sebastian Kurz initiierte Balkankonferenz samt anschließender Sperre der Balkanroute wird mittlerweile als Fanal gefeiert, das auch die deutsche Willkommenspolitik umgedreht habe. Das tat wohl eher Merkels in vieler Hinsicht zweifelhaftes, aber wirkungsvolles Abkommen mit der Türkei.

Der europäische Kollateralschaden war gegen den Imagegewinn der schwarzen Zukunftshoffnung Kurz abzuwägen. Der junge Außenminister kommt allein aufgrund seines guten Aussehens, seiner Eloquenz und seiner Jugend bei nationalen und internationalen Medien gut an. Seine rasche Auffassungsgabe und sein kooperativer Stil machten ihn schnell populär; als österreichischer Außenminister kann man international nicht viel falsch machen, dachte man, national mit vielen Videos voller Weltprominenz aber durchaus punkten. „Man kann uns nichts vorwerfen“, diesen schönen österreichischen Satz hat Sebastian Kurz bereit, auch wenn er Österreich – im heurigenFrühjahr – gerade mit der Slowakei, Bayern, Ungarn und mit Großbritannien (noch unter Cameron) zu einer Art Anti-EU-Block innerhalb der EU zusammenbrachte, samt telegenen Bildern und feierlichen Gesten. Kurz ist fleißig, er ist lernfähig, geschickt, intelligent. Er bedient sich bei englischen Torys, dem Erfolgsmodell in der EU, wenn es um Ideen gegen Sozialmissbrauch geht. Von David Cameron bezog er die Idee mit dem Sozialtourismus, von Boris Johnson das australische Modell der Einwanderung. Das alles könnte, ja müsste man als moderner Konservativer anders akzentuieren. Wer so schnell lernt, dem ist manches zuzutrauen. Proeuropäisches, Demokratieerhaltendes eher nicht.

Gewiss trug die europäische Willkommenspolitik, verkörpert durch Angela Merkel, unrealistisch optimistische Züge. Sie war geradezu absurd widersprüchlich, wenn man ihre menschenrechtliche Haltung gemeinsam mit Deutschlands Wirtschaftspolitik betrachtet, die den gesamten Kontinent überfordert. Gewiss war es falsch, die Grenzen bedingungslos zu öffnen; andererseits war das als Akt der Ersten Hilfe geboten. Auch die Willkommenskultur ist widersprüchlich. Gastfreundschaft war noch bis vor Kurzem ein zivilisatorischer Grundwert; mittlerweile ist das Aussperren höher angesehen. Gastfreundschaft muss man sich leisten können, sagen die einen, aber sie übersehen, dass die demografische Situation Deutschlands Zuwanderung gebietet.

Wie auch immer. Dem Parteivorsitzenden der ÖVP sitzt der nächste Kronprinz auf der Schulter. Ostentativ weigerte sich Kurz, eine Wahlempfehlung für Van der Bellen abzugeben, obwohl gerade ihm bewusst sein müsste, was ein rechtsextremer Präsident Norbert Hofer bedeutet. Der einzige mögliche Schluss daraus ist: Sebastian Kurz hält sich die schwarz-blaue Option offen. Nach derzeitigem Stand der Dinge würde das bedeuten: Vizekanzler Kurz, Kanzler Strache. Die ÖVP würde das nicht überleben, wohl auch nicht eine eventuelle Halbzeitlösung. Der Rücktritt von Werner Faymann und der neue Kanzler Christian Kern lassen solche Pläne etwas übereilt erscheinen.

So ist das mit der ÖVP. Man versucht über Grundsätzliches nachzudenken, schon ist man beim Personal angelangt. Aber die Herrschaft ist längst außer Haus. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.09.2016)

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