Stille über der Piazza

Vor 500 Jahren entstand das erste Ghetto für jüdische Bürger – in Venedig. Eine Reportage aus der Lagunenstadt samt Besuch der großen Ghetto-Ausstellung im Dogenpalast.

Er wirkt unscheinbar und unschuldig: noch so ein typisch italienischer rechteckiger Platz. Nur der vergilbte Schriftzug über der Casa Israelitica di Riposo und das Schildder Locanda del ghetto liefern den ersten Hinweis darauf, dass man doch an einem besonderen Ort angekommen ist: im Herzen des Ghettos von Venedig, das vor 500 Jahren hier entstanden ist. Man hört viele unterschiedliche Sprachen, junge Männer in weißen Hemden und schwarzen Käppi huschen vorbei – und dennoch hängt eine gespenstische Stille über der Piazza. Im Schatten des einzigen Baumes sammeln sich Touristen aus aller Welt. Man hört Englisch, Spanisch, Hebräisch. Eine Gruppe von Israelis hat es sich an den Holztischen der Locanda del ghetto bei Bier und Kaffee gemütlich gemacht. Man schaut auf das kleine bescheidene Gebäude, in dem das Altersheim der jüdischen Gemeinde untergebracht ist.

Dieses Haus grenzt an eine Wand, die auf mehreren eisernen Relieftafeln in eindringlichen Szenen an die Verfolgung und Vernichtung der etwa 200 venezianischen Juden zwischen Dezember 1943 und Oktober 1944 erinnert. Auch auf der anderen Seite des Altersheims prangt eine breite Gedenktafel in Eisenguss: Hier sind die Namen der Ermordeten aufgelistet. Der Eingang zum idyllischen Gartenlokal Kosher Restaurant Ghimel Garden schließt hier gleich an: Trauer und Freude sind wie so oft in der jüdischen Geschichte knapp beieinander.

Doch wie begeht man heute als Stadt Venedig, als jüdische Gemeinde einen Jahrestag, der den Ausschluss eines Teils der Bevölkerung in ihrer eigenen Heimatstadt markiert? Dessen Bezeichnung zum Inbegriff der Isolation und Diskriminierung über fünf Jahrhunderte wurde? Vor dieser Aufgabe standen Politiker und Historiker in Venedig anlässlich eines „Jubiläums“: Vor 500 Jahren wurde das erste Ghetto für jüdische Bürger eingerichtet. „Ich betrachte es als Gelegenheit zum Nachdenken“, sagt die Historikerin Donatella Calabi. Sie kuratierte die Ausstellung im Dogenpalast am Markusplatz mit dem Titel „Venedig, die Juden und Europa 1516–2016“, die bis November zu sehen ist. Zahlreiche Räume des Palastes wurden für die Schau bereitgestellt. Sie bietet einen Einblick in das Lebender Juden vor 500 Jahren und bereitet auch das politisch-historische Umfeld auf: von der Entstehung bis zur Auflösung des Ghettos im Jahre 1797.

Der Ausstellungsort ist gut gewählt, war es doch die Verordnung des Dogen LeonardoLoredan vom 29. März 1516, die den künftigen Lebensraum der venezianischen Juden auf einer Insel festgelegte: „Alle Juden müssen zusammen innerhalb der Hofnachbarschaft der Gießereien in der Pfarrgemeinde San Girolamo leben; damit sie nachts nicht herumstreunen können, werden an den Brücken am Rand der alten Gießerei (Ghetto vecchio) und der neuen Gießerei (Ghetto novo) Tore angebracht, die morgens mit dem Glockenschlag von San Marco geöffnet und um Mitternacht verschlossen werden müssen. Vier christliche Aufseher, die von der Regierung bestimmt und von den Juden bezahltwerden gemäß einem von uns festgelegten Preis, haben diese Tore zu bewachen.“

Napoleon brachte die Bürgerrechte

Durch zwei hohe Mauern und Wassertore wurde die Eingrenzung vervollständigt. Die Bewachung galt Tag und Nacht, die Juden trugen auch die Kosten von zwei Booten, die unentwegt um die Insel kreisten. Schwere Strafen erwarteten Juden, die nachts außerhalb des Ghettos angetroffen wurden. Ausnahmslos mussten alle Juden – damals lebten etwa 700 in Venedig – nach Cannaregio auf das Gebiet der Kirchengemeinde San Girolamo umziehen, wo bis dahin ein Dutzend Kupfer- und Eisengießereien angesiedelt waren. Das Wort Ghetto erhielt für alle Zeiten eine neue Bedeutung.

So paradox das heute klingen mag, das venezianische Ghetto gewährte den jüdischen Händlern, Gelehrten und Flüchtlingen aus anderen Regionen Europas eine gewisse Sicherheit. Auf diese „größte Rechtssicherheit, die Juden in Europa im 16. Jahrhundert hier hatten“, verweist nicht nur die Ausstellung, sondern auch ein Blick in die Geschichtsbücher: In Venedig lebte die jüdische Bevölkerung hinter Schloss und Riegel, aber auf Basis von Verträgen. Diese waren eindeutig erpresserisch und ausbeuterisch. Doch sie boten innerhalb des Ghettos relative Autonomie und völlige Religionsfreiheit. Durch die Aufenthaltsgarantien in der Stadt, mit den Pflichten und Rechten, den Verboten und Freiheiten, für die entsprechend bezahlt wurde, erwarben die Juden Sicherheiten, die sie kaum an anderen Orten fanden. Daher blieb die Lagunenstadt auch nach 1516ein Anziehungspunkt für verfolgte Juden aus ganz Europa. Die Stadtregierung förderte die Handelsbeziehungen der jüdischen Venezianer und ließ ihnen alle Möglichkeiten, Geld zu verdienen – so kam sie in den Genuss erhöhter Steuereinnahmen. Und auch die ärmeren christlichen Venezianer liehen sich gerne billiges Geld von den jüdischen Pfandleihern.

Im Ghetto fanden nicht nur die Juden aus Deutschland Schutz, die frühesten und ärmsten Zuzügler, die ihren Lebensunterhalt oft als Lumpensammler verdienten. Auch Juden aus dem Osmanischen Reich kamen hierher und viele zwangsweise zum Katholizismus bekehrte spanische Juden, die in Venedig zu ihrem Glauben zurückkehren konnten. Venedig wurde zum Zentrum für religiöse Studien, jüdische Literatur und den einzigartig illustrierten jüdischen Buchdruck. Die jüdische Gemeinde brachte bedeutende Thora-Gelehrte und Rabbiner hervor wie Leone da Modena oder Simone Luzzatto. Letzterer stammte aus einer Familie, die im 16. Jahrhundert aus der Lausitz nach Venedig eingewandert war und maßgeblich an der Entstehung der ersten deutschen Schul,italienisch Scola, beteiligt war.

Die im Laufe des 16. Jahrhunderts im Ghetto erbauten fünf Synagogen für die sogenannten Nationen fallen im Stadtbild kaum auf, da sie wegen des Verbots, Gotteshäuser auf venezianischen Grundstücken zu bauen, entweder in der äußeren Form wie Wohnhäuser oder auf deren Dächern errichtet wurden. 1528 entstand im Ghetto novo die Scola Grande Tedesca und 1531 die Scola Canton,die beide von aschkenasischen Juden aus Mitteleuropa frequentiert wurden. Beide sindnoch intakt: Die Grande Tedesca ist wegen ihrer fünf Rundbogenfenster gut zu erkennen, und die Canton befindet sich auf dem Dach des Jüdischen Museums. Die anderen drei Synagogen zeugen von der vielfältigen Zusammensetzung der jüdischen Bevölkerung: 1571 entstand die Scola Italiana, die an ihrer kleinen Kuppel zu erkennen ist. Im Ghetto vecchio befinden sich die Scola Levantinasowie die Scola Spagnola, die größte der venezianischen Synagogen. Mitte des 17. Jahrhunderts erreichte die jüdische Bevölkerung mit 5000 Einwohnern ihren Höchststand, das waren etwa drei Prozent der Gesamtbevölkerung. Aus Platzmangel wurden die ersten sieben-, achtstöckigen Häuser Venedigs erbaut.

Doch das Ghetto ging gemeinsam mit der Blütezeit Venedigs zugrunde. Während der Türkenkriege bis 1699 hatten die Juden immer unverschämtere Geldpressungen der venezianischen Obrigkeit bedienen müssen, sodass die Selbstverwaltung ständig am finanziellen Abgrund balancierte. Viele Händler wanderten zu den toleranteren Türken ab. Napoleon löste die Republik Venedig, die Serenissima, mit dem heruntergekommenen Ghetto einfach auf. Französische Truppen brachten den Juden die Bürgerrechte: Am11. Juli 1797 wurden die Tore auf dem Campo de Ghetto feierlich verbrannt. Es heißt, dass Bürger und Rabbiner ausgelassen ums Feuer tanzten. Kein Wunder, dass venezianische Juden ihren Söhnen danach gern einen Namen gaben, der sonst in Venedig verhasst war: Napoleone.

Doch die Freude währte nur kurz, denn die Habsburger beendeten den Traum von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Auch deshalb beteiligten sich die Juden an der Risorgimento-Bewegung: Im vereinigten Königreich Italien erlangten sie 1866 die völlige rechtliche Gleichstellung.

Einer, der an die ruhmreiche jüdische Vergangenheit in dieser Stadt anknüpfen will, ist Shaul Bassi. Der Professor für englische Literatur an der Ca'Foscari-Universität in Venedig kann seine familiären Wurzeln bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen. Er ist auch der umtriebige Direktor des Beit Venezia, eines internationalen Lernzentrums für jüdische Kultur und Wissenschaften. Zu diesem Zweck ist er Partnerschaften mit israelischen und amerikanischen Universitäten eingegangen. „Europäer und Israelis schicken ihre Kinder auf Sommercamps, aber ich glaube, es wäre auch interessant, sie an Orte zu schicken wie zum Beispiel das Ghetto in Venedig, wo offensichtlich Unterdrückung vorherrschte, aber gleichzeitig ein unglaublicher kultureller Aufbruch und Koexistenz gelebt wurden.“ Bassi, der auch an der Ausstellung im Dogenpalast mitgewirkt hat, möchte an die Zukunft der Gemeinde in Venedig glauben. „Ich habe so viele restaurierte Synagogen gesehen – aber ohne Juden. Hier waren die Opferzahlen nicht so hoch, die Mehrzahl der jüdischen Einwohner hat überlebt. Das heißt, es wäre doch wirklich schade, wenn wir verschwinden würden!“

Italiens jüdische Gemeinden heute

Heute leben etwa 28.400 Juden in ganz Italien, im Jahr 1931 waren es noch 48.000. Bereits 1939 hatten sich etwa 4000 taufen lassen, und Tausende verließen ihre Heimat, sodass vor der Shoah rund 35.000 Juden im Land waren. Die Schreckensbilanz der Nazis und der italienischen Faschisten summiert sich auf eine Opferzahl von 7750 Juden. Einige osteuropäische Überlebende der Shoah siedelten sich nach 1945 in Italien an, andere wanderten 1948 nach der Staatsgründung nach Israel aus. Rund 3000 Juden aus Libyen kamen in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren nach Italien.

Rom zählt mit 13.000 jüdischen Bürgern zur größten Gemeinde im Land, aber auch die Städte im Norden – wie Mailand (8000) oder kleinere Gemeinden wie Turin (900), Florenz (1000), Livorno (600) – verfügen übereine ansehnliche Infrastruktur an jüdischen Schulen und Vereinen. Akademische Hochschulen für Rabbiner gibt es in Rom, Turin und Mailand. Kleinere Gemeinden finden sich verstreut über den ganzen italienischen Stiefel.

Um das religiös-orthodoxe Leben in Venedig muss sich Professor Bassi nicht sorgen, darum kümmert sich seit 25 Jahren die Lubawitscher-Chabad-Gemeinde. Ihre Mitglieder betreuen die jüdischen Gäste jener Stadt, in der wichtige heilige Schriften des Judentums zum ersten Mal gedruckt wurden. Koschere Restaurants, eine ebensolche Bäckerei und geregelte Gebetszeiten am Sabbat und zu den Feiertagen sind heute selbstverständlich.

„Juden empfinden keinerlei Nostalgie für das Ghetto“, sagt der Vorsitzende der italienischen Union jüdischer Gemeinden, Renzo Gattegna. „Das Ghetto steht für Ausgrenzung.Wir feiern nicht, wir erinnern an eine bleibende Tragödie.“ Ein Besuch auf dem Campo de Ghetto novo bringt die traurige Geschichte von gestern wie auch das unbeschwerte Heute in seiner ganzen Ambivalenz zutage. ■


Die Ausstellung „Venedig, die Juden und Europa 1516–2016“ ist bis 13. November im Dogenpalast zu sehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.09.2016)

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