Der Traum, den alle träumen

Ideologien, Parteiprogramme sind ihm suspekt. Und der Heiligenschein ist ihm ferner als die Fehlbarkeit. Zum 85. Geburtstag Desmond Tutus: Begegnungen mit dem Alterzbischof von Kapstadt und Friedensnobelpreisträger.

Gottergeben und zornig, versöhnlich und provokant, furchtlos und verzweifelt, schelmisch und sarkastisch kann sie sein, die pazifistische Größe unserer Zeit: Desmond Mpilo Tutu. Der Heiligenschein ist dieser Lichtgestalt ferner als die menschliche Fehlbarkeit. Und trotzdem ist dem anglikanischen Alterzbischof von Kapstadt, dem Friedensnobelpreisträger, dem Moses in der einstigen Apartheidwüste nur das Evangelium heilig. Ideologien, Parteiprogramme, Moden sind dem Mahner wider Geiz und Gier, Korruption und Hoffart suspekt.


24. Mai 1992, Worchester.Winter am Kap. Schwarzgraue Regenwolken umhüllen das anthrazitfarbene Bergmassiv, ziehen gen die weiß getünchte Kirche. Es ist wie ein Fluch: Mit der Rückkehr Nelson Mandelas und seines Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) zu den Landsleuten grassiert unter den Schwarzen eine unheimliche Gewaltwelle. Massaker in Pendlerzügen, Townships, Dörfern rafften bis dahin mehr als 4000 Menschen hinweg. Schlagzeilen wie „500 Tote an einem Tag“ signalisieren bürgerkriegsähnliche Zustände. Erst im März ist ein Mitarbeiter des ökumenischen Kirchenrates, mein Bekannter Sol Tsotsetsi, von einer Handgranate zerfetzt worden; er sollte vor der Goldstein-Kommission über die von ihm dokumentierte Polizeigewalt aussagen. Erzbischof Tutu protestiert, klagt an: „All das geschieht, um die weiße Minderheitsherrschaft aufrechtzuerhalten. Aber die, die für den Wandel kämpfen und große Opfer bringen, sind nicht mehr aufzuhalten.“

Die Gläubigen suchen an diesem dritten Sonntag im Mai im Festgottesdienst bei ihrem Oberhirten Zuflucht. Desmond Tutu steht mit den erzbischöflichen Insignien da und spricht vom Zwiespalt der menschlichen Seele: „In der einen Hand halte ich die Hand meines lieben Dieners, der durch das Leiden blind geworden ist. In der anderen Hand halte ich die Hand meines lieben Dieners, dem ich wegen seiner Grausamkeit und Sünden verborgen bleibe. Doch ich bin da, ich bin bei allen von euch.“

Gekrümmt, mit tief hereingezogenen Wollmützen, dicken Mänteln, als wären sie so vor dem Unheil besser beschützt, folgen die Menschen den Worten der Predigt. Desmond Tutu berichtet vom jüngsten Treffen bei Staatsoberhaupt Frederik Willem de Klerk, von Beweisen des Kirchenrates über Gewaltverbrechen der Polizei, von Dokumenten und Aufzeichnungen Sol Tsotsetsis, dessen Ermordung von der Polizei als „ein Unfall unter Terroristen“ nicht untersucht wurde: „Der Staatspräsident hat auf eine unsichtbare Bibel geschworen. Er sagte, dass unser Land von dieser Gewalt nichts gewinnen kann, genauso wenig von Sicherheitskräften, denen vorgeworfen wird, dass sie Gewalt orchestrieren. Aber wie passen diese Worte zur ,Low Intensity Strategy‘, in der Leute am Friedensprozess beteiligt sind und gleichzeitig von verdeckter ,Dritter Kraft‘ Furchtbares ausführen lassen?“

Die nebeneinander Kauernden seufzen auf, einzelne murmeln etwas vor sich hin, andere scharren mit den Füßen auf dem Steinboden. Sie hadern mit der Strategie des Regimes: teilen, herrschen und polarisieren wie eh und je, Hass säen, vor allem zwischen den beiden ethnischen Königsnationen, zwischen Xhosa und Zulu, zwischen Mandelas ANC und Buthelezis Inkatha, die Menschen einschüchtern, ihnen suggerieren: „Schwarze massakrieren Schwarze, reißen das Land in den Abgrund.“ In dieser Pein soll die Stunde der weißen Retter schlagen. In Wahrheit sind de Klerk und Buthelezi Komplizen, die Zulu-Polizei erhält Order und Waffen von der südafrikanischen Polizei, man rekrutiert Todesschwadronen. Die Messe klingt aus. Desmond Tutu kommt mit ausgestreckten Armen auf mich zu, schildert nach den abgebrochenen Verhandlungen Mandelas Zorn, der erst kürzlich gesagt hat: „Wie sollen wir uns auf einen Friedensprozess einlassen, wenn die Regierung von de Klerk eine Doppelstrategie fährt: auf der einen Seite gegen uns Krieg führen und auf der anderen Seite mit uns über Frieden reden.“

Tutu nennt den strenggläubigen Präsidenten einen Mann mit zwei Gesichtern, versiert und undurchschaubar: „Jedes Mal, wenn einer von uns im Gespräch Fakten ansprach, reagierte er defensiv, beschuldigte uns, wir wollten die Polizei nur diskreditieren. Beschwichtigte, es gäbe in ihr vielleicht ein paar Bösewichte, aber der Polizeiapparat an sich sei völlig unbefleckt. Was für ein Wort für diese Sünder.“

Trotzdem bleibt er in seinem Glauben unerschütterlich, betet für die baldige Wiederaufnahme der Verhandlungen. Letztlich ist für ihn wie für Mandela Versöhnung „unteilbar“: „Zweifel gehören zum Glauben. Ich halte es mit Martin Luther King. Das Universum zieht zwar einen weiten Bogen, schlägt aber letztlich in die Richtung der Gerechtigkeit ein. Wir haben eine realistische Sicht der menschlichen Natur. Die meisten sind gut, widerstehen den Versuchungen aber einige sind sehr böse. Manche von ihnen sind schwarz, manche weiß. Menschen sind Menschen, weil sie Menschen sind.“


10. Mai 1994. Nationaler Freudentaumelunter blitzblauem Himmel. Glockenläuten,Musik liegen in der Luft, Menschenmassen drängen mit wehenden Fahnen in Pretorias Regierungsdistrikt Arcadia. Zeitungen titeln: „We are on top of the world“. Am Südende des afrikanischen Kontinents feiert die leidgeprüfte Nation nach Dekaden der Rassendiskriminierung ihre Neugeburt: vom Paria zum Hoffnungsträger, von de Klerk zu Nelson Mandela. Die Welt spricht vom „Wunder am Kap“. Nationale Zeitenwende. Das zweiflügelige Unionsgebäude, seit 1910 Monumentalsymbol „Afrikaans-Englischer“ Staatsdominanz, sein Rondeau mit der ReiterstatueLouis Bothas, die prächtigen Gärten sind an diesem denkwürdigen Tag Bühne des fulminanten Staatsaktes: Nelson Rolihlahla Mandela wird vor den Augen der Weltöffentlichkeit zum ersten Präsidenten des neuen Südafrikas vereidigt, und Desmond Mpilo Tutu wird den Festakt nicht nur segnen.

Im ersten Rang sitzen, unter Sonnensegeln aufgefädelt, die Honoratioren der hoffnungsfrohen Regenbogennation, dirigiert von einer farbigen Zeremonienmeisterin. Im Blickfang: Nelson Mandela im dunkelblauen Anzug, neben ihm seine ältere Tochter, Zenane, in Schwarzrot mit markantem Zylinderhut, die Frederik Willem de Klerk blass aussehen lässt und dessen Ehegattin Marike, mit hellem Tropenhelm, erst recht. Als der bisherige Präsident als nunmehriger Vizepräsident seine rechte Hand zum „So help me God“ hebt, bleibt die Miene der Ex-First-Lady starr; Farbige bleiben für die Strenggläubige der „Rest der Menschheit“; Erzbischof Tutu neigt in dieser Szene seinen Kopf, wippt während des höflichen Applauses mit seinem Zeigefinger am Kinn, stimmt in den frenetischen Jubel ein, als sich der Vater der Nation erhebt und der Eidesformel ein „I will, so help me God“ folgen lässt.

Und schließlich tritt der Erzbischof an das Mikrofon. Trägt unverblümt und fünfsprachig Ode, Gebet und Plädoyer in einem vor, historisch: „Vor unseren Augen offenbart sich ein Wunder, unsere Träume werden wahr. Ein neuer Morgen dämmert über unserem prachtvollen Land herauf, für Schwarze und Weiße, Farbige und Inder, für alle gemeinsam. Dass du dieses Land von der Sünde des Rassismus und der Unterdrückung befreit und uns alle gemeinsam befreit hast, dafür danken wir dir, Gott. Und für alle, die diesen Wandel initiiert und getragen haben, hier und anderswo.“

Am Tag danach ruft Tutu in Kapstadt den jubelnden Massen zu: „Hier kommt unser Präsident!“ Strahlend, mit einer weißen Rose am linken Revers, winkt der 76-jährige Staatspräsident seinen Landsleuten zu, die sind im siebenten Himmel, träumen von der Regenbogennation. Es ist der Traum eines friedlichen und gerechten Südafrika, den Madiba, ihr Heilsbringer, erfüllen soll. Seine Verheißungen scheinen nah: Häuser mit Wasser und Strom, sichere Jobs, gute Schulen und Krankenhäuser, „A better life for all“. Doch das Wunder entpuppt sich bald als nüchterner Kompromiss zwischen den alten und den neuen Eliten. Und die teilen, ob weiß oder schwarz, mit den Massen nicht freiwillig.


4. April 2014, ein Freitag
in Johannesburg. Pastorale Worte wie Blitz und Donner: „Früher habe ich Gott um das Ende der Apartheid angefleht. Heute bete ich um den Sturz des ANC.“ Der Schocker des prominenten Wutbürgers Tutu trifft vier Wochen vor den nationalen Wahlen den Nerv der Nation. Viele schwarze Südafrikaner fühlen sich 20 Jahre nach dem fulminanten Wahlsieg von Nelson Mandelas ANC von einer parasitär-korrupten Politkaste verraten. Skandale, Affären und Malaisen dominieren den Wahlkampf, während die Masse des Wählervolkes in Armut versinkt.

Desmond Tutu legt in einem TV-Statement nach: „Wie soll ich für einen Mann stimmen, der schwerer Korruption und unerträglicher Vetternwirtschaft bezichtigt wird. Jacob Zuma ist ein Fall für das Gericht, aber nicht für das Präsidentenamt.“ Als dieser, wenn auch mit Verlusten, wiedergewählt, dem Dalai Lama zum „Jubiläumstreffen der Friedensnobelpreisträger“ die Einreise nach Südafrika verweigert, gerät der Jubilar 30 Jahre nach der Preisverleihung in Oslo in Rage: „Dieser Haufen von Speichelleckern, die ich bedauerlicherweise meine Regierung nennen muss, liegt vor den chinesischen Machthabern, diesen Verächtern von Demokratie und Menschenrechten, auf den Knien. Schande, Schande.“

Trotzdem. Desmond Mpilo Tutu hat – wie sein Vorbild Martin Luther King – einen Traum. „Und ich glaube, Gott träumt diesen Traum auch. Wir alle träumen ihn. Ich gebe zu, das klingt ziemlich schlicht und sentimental. Aber in Wirklichkeit ist es sehr radikal. Es heißt, dass es keine Außenseiter gibt. Alle gehören dazu: Schwarze und Weiße, Reiche und Arme, Kluge und weniger Kluge, Schöne und weniger Schöne, Frauen und Männer, Lesben, Schwule, Heteros, einfach alle ohne Ausnahme. So wie wir geschaffen sind, so bilden wir die Welt, so gehen wir in ihr auf. Das ist Ewigkeit.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.09.2016)

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