Ungarn kämpft, Österreich hilft

Ungarnfl�chtlinge
Ungarnfl�chtlinge(c) Hilscher, Albert / �NB-Bildarchi (Hilscher, Albert)
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Erinnerungen des Zeitzeugen Antal Festetics: In Urgarn zum Klassenfeind erklärt, wurde er mit der Familie 1951 in ein Straflager deportiert. Fünf Jahre später nahm er am Volksaufstand teil.

Als „Altösterreicher“, in Ungarn geboren, bin ich seit Anbeginn in meine beiden Heimatstädte Wien und Budapest gleichermaßen verliebt. Jedes Mal, wenn ich in einer der beiden dieser zauberhaften Donaumetropolen weile, packt mich ein schlechtes Gewissen, der anderen gegenüber untreu sein zu müssen. Durch die deutsche Muttersprache und die ungarische Vatersprache bikulturell geprägt, ist für mich die kürzlich bei der Fußballeuropameisterschaft gestellte Frage mehr als nur eine simple Pointe: Österreich–Ungarn, gegen wen spielen wir denn? Es hat auch seinen historischen Hintergrund, wenn im Wienerischen die lieben Nachbarvölker mit Spottnamen wie Piefke, Tschuschen oder Katzelmacher bedacht werden, nicht aber die Ungarn. Und es hat ebenfalls seine Geschichte, wenn in Budapest zwischen „deutschem Gast“ (német vendég) und „österreichischem Schwager“ (osztrák sógor) differenziert wird. Im Ungarischen galt einst dieses Wort über die angeheiratete Verwandtschaft auch für Leidensgenossen als Schicksalsbrüder. Für jene Pusztaburschen und Alpensöhne, die in den k. u. k. Kasernen ihren langen Wehrdienstgemeinsam erleiden mussten. Und als vor 60 Jahren, 1956, der ungarische Volksaufstand von sowjetischen Panzern blutig niedergeschlagen wurde, hat der „österreichische Schwager“ der Welt vorgemacht, was dieser Begriff bedeutet: spontane Hilfeleistung in einem Ausmaß, wie man es in unserm Zeitalter selten noch erleben kann.

Wegen „gräflicher“ Abstammung zum Klassenfeind erklärt, bin ich seinerzeit als 14-Jähriger mit meiner Familie während der kommunistischen Diktatur 1951 zur Zwangsarbeit in ein Straflager nahe der rumänischen Grenze deportiert worden. Fünf Jahre später, 1956, brach gegen die sowjetische Unterdrückung der Freiheitskampf aus, an dem ich als Angehöriger der ungarischen Nationalgarde teilgenommen habe. Was für uns damals in der Volksschule, einschließlich Zwangsmitgliedschaft bei den „Pionieren“ (= Jungkommunisten), als Pflichtlektüre befohlen wurde, hat sich für die Diktatur während des Volksaufstandes als Bumerang erwiesen: des führenden bolschewistischen Literaten AleksandrFadjejews Roman über „Die junge Garde“. Er beschrieb darin den Guerillakampf von Schülern in Moskau gegen die Nazi-Besetzer. Wie man etwa Molotow-Cocktails bastelt oder mit Handgranaten zielsicher umgeht. Das hat uns Schüler damals in Budapest begeistert, und wir tauften uns gegenseitig nach den Helden von Fadjejews Kriegsroman. Zur handfesten Anwendung unserer dadurch gewonnenen Partisanenkenntnisse kam es dann ganz unerwartet während der Revolution 1956in Budapest, politisch allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen – gegen die Rote Armee gerichtet!

Strategische „Schubumkehr“

Als zweite strategische „Schubumkehrer“ von historischer Dimension hat sich allerdings auch der Gegenschlag der Sowjets erwiesen. Im ungarischen Geschichtsunterricht wird traditionell stolz auf die trickreiche Kampftechnik der Magyaren gegen die Germanen zur Zeit der Eroberung Pannoniens vor mehr als 1000 Jahren verwiesen. Auf den Blitzangriff folgte eine Scheinflucht, worauf der Gegner als Verfolger glaubte, schon gesiegt zu haben. Er wurde jedoch unbemerkt hinterrücks eingekreist und, derart in die Zange genommen, schließlich niedergemetzelt. Mit genau dieser Kampfstrategie der Steppenvölker haben sowjetische Panzer in Budapest 1956 den Volksaufstand in Blut erstickt. Nach dem Einmarsch erfolgte zunächst der Rückzug auf den Stadtrand, und wir glaubten bereits, dass unser bewaffneter Widerstand erfolgreich war. Dann aber formte sich hinterrücks eine Panzerzange um Budapest und bald danach war das erste kriegerische Aufbegehren im Lager der unterdrückten Satellitenstaaten des Sowjetimperiums niedergeschlagen.

Es war ein Freiheitskampf David gegen Goliath, der die ganze Welt in Atem hielt. Die blutige Bilanz: 2740 Tote, 25.000 in die Sowjetunion verschleppte und 200.000 in den Westen geflüchtete Personen. Nun war das Transitland Österreich in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit gerückt, und es hat die Prüfung in Mitmenschlichkeit großartig bestanden! Beim Vergleich mit der zurzeit ablehnenden Haltung Ungarns Flüchtlingen gegenüber wird ein psychogeografischer Aspekt übersehen: Jene, die damals aus Transleithanien nach Cisleithanien wechselten, kamen nicht aus fernen mediterranen oder äquatorialen Ländern. Es waren unmittelbare Nachbarn, nicht selten sogar Verwandte, die über die erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts bestehende Grenze zum österreichischen „Schwager“ zu flüchten gezwungen waren und von diesen so herzlich aufgenommen wurden.

Ich selbst war nach Ausbruch des Volksaufstandes bei der Nationalgarde auch zur Fahrzeugkontrolle an den Kriegsschauplätzen abkommandiert worden, und ich hatte dabei unerwartet einen großen Fang. US-Senator Clairborn Pell kam mit „Medikamenten“, wie er behauptete, um diese Kardinal Josef Mindszenty persönlich zu überreichen. Der große, mutige Erzbischof von Ungarn wurde gerade erst aus dem kommunistischen Kerker befreit. Ich habe den Senator aus dem Weißen Haus mit dem Kardinal aus dem Zuchthaus bekannt gemacht. Die wichtigtuerische „Apothekerhilfe“ war freilich nur ein Alibi, um mediale Präsenz der Amerikaner dort zu zeigen, wo sie sich besser nicht hätten zeigen sollen. Als Gegenleistung nahm mich der Senator in seinem Straßenkreuzer nach Wien mit. Ich besuchte meine Verwandtschaft, organisierte einen Waffentransport für die Nationalgarde und wollte zwei Tage später zurück nach Budapest; es kam aber anders – nämlich ein Anruf, ich sollte besser in Wien bleiben. Weil das Foto, auf dem ich zusammen mit Kardinal Mindszenty abgebildet bin, in die Hände der Verräter geraten war. Es waren die vor der Volkswut zu den Sowjets geflüchteten ungarischen „Stasi“-Agenten um János Kádár, der nach Wiederherstellung der Panzerdiktatur als Anführer des blutigen Rachefeldzugs gegen seine eigenen Landsleute in die Geschichte eingegangen ist.

Was aber hat der Westen, haben die Amerikaner getan? Sie haben uns zum Freiheitskampf über den Sender „Free Europe“ mit Versprechungen und Durchhalteparolen zuerst angefeuert, dann aber im Stich gelassen. Das zeitgleiche Suez-Kanal-Abenteuer der Westmächte gegen Ägyptens Kanalsperre gab Kreml-Chef Nikita Chruschtschow „moralisch“ freie Hand für das Blutbad in Budapest. US-Präsident Eisenhower gab schließlich der Sowjetunion 1956 praktisch grünes Licht für die Niederschlagung des ungarischen Freiheitskampfes.

Ja, wir waren 1956 die Verlierer, aber das Opfer war nicht umsonst. Rückblickend betrachtet war es der Anfang vom Ende der Sowjetdiktatur, denn seinen 1989 erfolgten Zusammenbruch hat bereits die ungarische Revolution 1956 programmiert. Und es war für die westlichen Salonkommunisten der erste tiefe dialektische Schock, und massenhafte Parteiaustritte waren die Folge. Palmiro Togliatti zum Beispiel, Gründer und Chef der KP Italiens, war in seiner Weltanschauung zutiefst erschüttert.

Und Albert Camus hatte mit seinem legendären Aufschrei weltweites Echo: „Das ungarische Blut ist ein so großer Wert Europas und der Freiheit, dass wir jeden Tropfen davon zu hüten haben. Besiegt und in Fesseln geschlagen, hat Ungarn mehr für Freiheit und Recht geleistet, als irgendeine andere Nation während der vergangenen 20 Jahre. Um aber der westlichen Gesellschaft, die sich so lange Augen und Ohren verstopft hatte, die geschichtliche Lektion begreiflich zu machen, musste das ungarische Volk Ströme seines Blutes vergießen. Die ungarischen Arbeiter und geistig Schaffenden sind es, die uns den tieferen Sinn dieses Glaubens verstehen lehrten. Wenn auch ihr Schicksal die Knechtung und Verbannung ist, haben sie uns ein königliches Erbe anvertraut, aber wir müssen es erst verdienen: die Freiheit, die sie nicht bekamen, aber für uns an einem einzigen Tag zurückgewonnen haben.“

Die Lehre aus dem Volksaufstand

Für uns Freiheitskämpfer war die Lehre aus dem Volksaufstand, dass auf die Großmächte kein Verlass sein kann, aber die kleinen Nachbarvölker sich in der Not helfen können, und wie das geht, hat Österreich der Welt vorgemacht: spontan, unerschrocken, großzügig. Wien war ein Leuchtturm in der Freiheit, der „österreichische Schwager“ ein Vorbild der Toleranz und Menschlichkeit.

Ich persönlich begegnete damals einem Gleichaltrigen, der in Wien mit der Tafel „Freiheit für Ungarn“ eine Demonstration angeführt und im Flüchtlingslager Traiskirchen Hilfe geleistet hat. Es war Heinz Fischer. Der Sozialdemokrat brandmarkte stets konsequent jede Form von Diktatur, war aber kein blinder Bolschewikenfresser. Und wie mustergültig Fischer später als Staatsoberhaupt seines Amtes waltete, sollten wir aktuell im Auge behalten. Wir sollten aber vor allem nicht vergessen, was gute Nachbarschaft grenzüberschreitend bedeuten kann. In guten wie in schlechten Zeiten! ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.10.2016)

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