Wer streichelt da Migranten?

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Martin Leidenfrosts „Expedition Europa“: Verstreute Beobachtungen vom ungarischen Nachbarn: ein Liebespaar, "Wahlkampf" um das Referendum und ein skurriler Nachbarschaftsstreit.

Die folgenden Beobachtungen hängen nur lose zusammen, durch Motive wie „Nachbarschaft“ und „Migration“, vor allem aber weil sie alle von Ungarn handeln. Da ist einmal dieses Liebespaar auf dem Theaterfestival Nitra, das ich dauernd anschauen muss. Die beiden sind blond, schön und slawisch, und ihre Liebe ist gar unwahrscheinlich. Die Frau ist eine Barfly in ihren Dreißigern, eine PR-Frau slowakischer Nationalität. Der Mann ist ein leiser, athletischer Engel in seinen Zwanzigern, ein serbischer Bodybuilder ungarischer Nationalität. Sie lernten einander im Sommer 2015 kennen. Angerührt von der humanitären Situation, ließen sie alles liegen, um den Flüchtlingen an der serbisch-ungarischen Grenze zu helfen. Sooft ich sie nun sehe, sitzen sie, trinken, rauchen. Er schweigt meistens, blickt ins Leere, nie jedoch abwesend, verträumt. Leute wie sie werden im heutigen Ungarn als „Migrantenstreichler“ verhöhnt. Gedanke eins: Gerade weil ich nicht mehr zu den Migrantenstreichlern gehöre, muss ich neidfrei eingestehen, dass dieses Lager den edleren Menschenschlag anzieht.

Dann ist da die Kampagne zu Viktor Orbáns sonntäglichem Referendum gegen die Flüchtlingsquote. Ich schnuppere nach Ungarn runter. Die Versammlungen, auf denen die Staatspartei quer durchs Land eine Powerpoint-Präsentation gegen Zuwanderung abspult, heißen wörtlich übersetzt „Anrainerforum“.

Domingo gegen Hundegebell

Es ist dies ein richtiggehender Wahlkampf. Bis auf die Umgebung der Kathedrale ist Esztergom mit Plakaten tapeziert. „Gehen wir kein Risiko ein!“, steht auf den Farben der Trikolore, „stimmen wir mit NEIN!“ Die Opposition ist mindestens so präsent: „Zu Hause bleiben! In Europa bleiben!“ Gedanke zwei: Deutschland 2015, das war eine autoritär anmutende Willkommensmassage durch Staatsparteien und Medien. Ungarn 2016 ist das Spiegelbild dazu.

Schließlich ist da ein Nachbarschaftsstreit. Ich fahre in die slowakische Nachbarstadt Štúrovo zurück. Der Streit hat keinen ethnischen Subtext, denn Štúrovo ist zu 68 Prozent ungarisch, und alle Beteiligten sind ungarische Muttersprachler. Der Konflikt begann mit einem Zuzug: Eine Möbelhändlerin kaufte ein ungewöhnlich großes Haus in der ärmlichen Kossuth-Straße. Diese Eva N. konnte nicht ertragen, dass der Hund der Nachbarin fortwährend kläffte. Zureden half nicht, also begann sie, den Köter im Jahr 2000 mit klassischer Musik zu übertönen. Ab 2003 spielte sie nur noch eine einzige Arie, anderthalb Minuten Placido Domingo, zwölf Jahre lang. Da Eva N. die Nachtruhe und die 50-Dezibel-Grenze einhielt, waren die Anrainer hilflos. Eva N. wurde zum Phantom, sie äußerte sich ausschließlich in Blogs über die „Dummheit“ des „Abschaums“ von Štúrovo. Erst 2015 drehte sie die Boxen ab.

Als ich eintreffe, wirkt die Kampfzone leblos. Heruntergelassene Rollos, der Vorgarten des „singenden Hauses“ vertrocknet. Ich klingle bei den Nachbarn von links. Ihre Einfahrt ist ungenutzt, Blumentöpfe in gezirkelten Abständen. Begleitet von zwei kleinen Kläffern,kommt Frau P. vor die Tür. Die hagere Alte mit den braun gefärbten Augenbrauen ist eine Schlüsselfigur: Irgendwann starb nämlich der Kläffer der Nachbarin von rechts, damals drehte Eva N. die Musik ab. Ich frage die Nachbarin von links, was ich nicht fassen kann: „Wie konnten Sie sich in dieser Situation ausgerechnet einen Hund zulegen?“ Frau P. antwortet schnippisch: „Warum sollten wir keinen Hund haben?“ Ich frage sie weiter: „Haben Sie nie überlegt wegzuziehen?“ Da wird die sonst gestenarme Ungarin von Bewegungen durchschüttelt: „Keinen Moment!“ Gedanke drei: Auch wenn diese Nachbarn innerlich verrecken, geht keiner weg. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.10.2016)

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