Und gelacht habe ich, wo ich auch hätte weinen können

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Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? Über das Tragische und das Komische: zwei Blickwinkel auf ein und dieselbe Sache.

Zwei jüdische Attentäter warten an einer Straßenecke auf Adolf Hitler, sie wollen ihn mit einer Bombe in die Luft sprengen. Der Führer besucht ihre Stadt, die Zeremonie ist von der Partei bis ins Kleinste geplant. Auf die Minute genau sollte der Mercedes, in dem er, stehend, den Arm ausgestreckt, das Volk grüßt, jene Straßenecke passieren. Die Attentäter blicken nervös auf die Uhr. Bereits eine Minute über dem Termin! Eine weitere Minute darüber! Gar eine dritte Minute! Sagt der eine: „Wo er nur bleibt?“ Sagt der andere: „Es wird ihm doch nichts passiert sein.“

Über den Witz lacht auch, wer von der Geschichte des Judentums wenig Ahnung hat und glaubt, das Schicksal dieses Volkes lasse sich im Wesentlichen auf Verfolgung und Pogrom reduzieren. Dass hier das Komische des Tragischen bedarf, um überhaupt in Erscheinung zu treten, ist offenkundig. Und wer ohnehin immer schon der Meinung war, das Tragische und das Komische seien nur zwei verschiedene Blickwinkel auf ein und dieselbe Sache, findet in diesem Witz eine schwergewichtige Bestätigung.

Der französische Philosoph Henri Bergson vertritt in seinem berühmten Essay über das Lachen(„Le rire“) die These, alles Lachen sei im Kern ein Auslachen und als solches eine Form gesellschaftlicher Sanktion gegenüber einem Fehlverhalten, das zwar zu leicht ist, um von einem Gericht oder einer gerichtsähnlichen Institution oder Tradition geahndet, aber schwer genug wiegt, um nicht übersehen zu werden. Wer auf der Bananenschale ausrutscht, wird ausgelacht, weil er nicht achtgegeben hat, es aber für das menschliche Wohlergehen besser ist, achtzugeben. Bergson erwähnt das reine, unschuldige Kinderlachen nicht; entweder, weil er nicht daran glaubt, oder aber, weil er nur über Erwachsene und zu Erwachsenen spricht.

Wer aber wird in unserem Witz wofür bestraft? Und weiter: Angesichts oder fast angesichts des Verursachers der größten Verbrechen der Menschheit – was an dem zu ahndenden Fehlverhalten ist so leicht, dass es nicht vor einem Gericht verhandelt werden müsste, zum Beispiel in einem Prozess wie dem Nürnberger gegen die deutschen Kriegsverbrecher?

Wir lachen, weil sich ein potenzieller Mörder Sorgen macht um das Wohlergehen seines potenziellen Opfers, eines der größten Massenmörder der Geschichte. Aber was bedeutet das? Welcher Archetypusschwingt in uns mit, wenn wir lachen, wo uns doch zum Weinen zumute sein sollte? Was ist daran komisch? Was ist daran tragisch?

Nur damit kein Missverständnis entsteht:Nicht, was am Nationalsozialismus tragisch ist, wird gefragt, diese Frage erübrigt sich. Nichts am Nationalsozialismus ist tragisch, wenn wir die klassische Definition des Aristoteles anwenden, der auch Lessingfolgt, nach der die Tragödie das Aufeinanderprallen wenigstens zweier berechtigter, jedoch antagonistischer Interessen ist: Der Konflikt in einer Tragödie besteht ja gerade darin, dass beide Seiten recht haben, auch moralisch recht haben. Undauch nichts am Nationalsozialismus ist symbolisch, in nichts weist erüber sich hinaus, es gibt an ihm nichts zu deuten, er ist frei von allem Metaphysischen. Worin wahrscheinlich der Grund liegt, warum er sich mit so viel Pomp inszenierte. Er ist das monströse Als-ob. – Die Frage lautetvielmehr: Was ist nicht nur komisch, sondern auch tragisch daran, dass ausgerechnet derjenige, der den Verursacher des Bösen mit dem Tod bestrafen will, sich um dessen Wohlergehen Gedanken macht?


Wir lachen unter und leiden über unserem Niveau. Lachen erniedrigt uns oft, Leid aber erhöht uns immer. Warum eigentlich? Und geht es nur uns so, uns Abendländern? Wie wird das Lachen in anderen Kulturen gewichtet? Wie das Leid? Kultur heißt: eine Betrachtungsweise schaffen. Komödie sei Tragödie plus Zeit, sagt Woody Allen. Mit genügend zeitlichem Abstand können wir über alles lachen, sogar über das Leid, vielleicht sogar vor allem über das Leid. Wenn uns die Legende berichtet, der heilige Laurentius habe, als ihn die Feinde des Christentums auf den glühenden Grill gelegt haben, nach ein paar Minuten gesagt, man könne ihn umdrehen, die eine Seite sei durchgebraten, dann lachen wir; und während wir lachen, sind wir ohne Erbarmen, ohne Mitleid. – Dürfen wir dennoch mit gutem Gewissen das Lachen als etwas Gutes nicht nur akzeptieren, sondern sogar begrüßen? Oder sollte man das Lachen, wie es manche religiöse Fanatiker fordern, verbieten?

Viele Symbole hat unser Abendland aufgestellt wie Standarten, um uns die Analyse der Verhältnisse dort zu ersparen, wo uns die Analyse in einen hermeneutischen Zirkel führt, in dem wir uns drehen wie ein gefopptes Nagetier. Das Symbol über allen abendländischen Symbolen aber ist das Kreuz. Durch die beiden Gitterstäbe des Kreuzes betrachten wir die Welt bis heute; ob uns das bewusst ist oder nicht; ob wir glauben, dass uns das Christentum nichts angeht, oder ob uns das Bildnis des Schmerzensmannes berührt, wie es die Menschen über 2000 Jahre berührt hat.


Der Gott des Abendlandes
ist ein Gefolterter, ein Leidender; daraus ergibt sich zwingend, dass Leid uns erhöht. Kultur ist eine Betrachtungsweise der Welt – wir betrachten seit 2000 Jahren die Welt unter dem Aspekt des Leidens. Schopenhauer war der Meinung, Erkenntnis setze die Fähigkeit mitzuleiden voraus. Ohne Mitleid sind wir in uns versponnen, sind wir tatsächlich Monaden, sind wir nicht überlebensfähig, weil wir Mängelwesen in jeder Stunde eines auf das andere angewiesen sind. Mein Landsmann, der von mir hochgeschätzte Freund und Psychiater Reinhard Haller, sagt: „Das Böse beginnt dann, wenn der Mensch sich nicht in andere hineinfühlt.“

Aristoteles, der Menschheitsoptimist,schreibt am Beginn seiner „die Nikomachische“ genannten Ethik: „Jede Handlungscheint ein Gut zu erstreben, weshalb man das Gute treffend als dasjenige bezeichnet hat, wonach alles strebt.“ Ich verstehe das so, dass jeder Mensch, zumindest im Zustandals Handelnder, meint, das Gute zu tun und zu wollen. Hier nistet sich Ideologie ein. Es wurde für Jesus getötet, für die Weltrevolution, für die Reinheit der Rasse, es wird für Allah getötet. Ich halte es für möglich, dass auch jener junge Mann, der vor zwei Monaten in einer französischen Kleinstadt einem 80-jährigen Priester an dessen Altar die Kehle durchschnitt, glaubte, er tue etwas Gutes.


Doch dann hören wir Johnny Cash singen:„I shot a man in Reno, just to watch him die . . .“ Nur um ihn sterben zu sehen. Und wir geben Johnny Cash, der gewiss kein Optimist war, recht vor Aristoteles.

Dieses Böse ist uns unerklärlich. Weil es kein Motiv und Ziel zu haben scheint. Weil es interesselos scheint. Weil es nichts für sich haben will: der Bauer, zu dem der Engel kommt und sagt, du darfst dir wünschen, was du willst, und dann wünscht er sich nicht einen neuen Traktor oder mehr Land oder mehr Vieh, sondern dass die Ziege des Nachbarn verreckt. Auch wenn es immer schon unter uns war, dieses Böse – das absolut Böse, wie es Kant nennt –, hat es merkwürdigerweise erst sehr spät in unserer Literatur Einzug gehalten. Der klassische bürgerliche Bösewicht, Mephisto, wirkt neben Adolf Eichmann wie ein Feuilletonist, ein blendender Feuilletonist zugegeben, aber ein Feuilletonist.

Eichmanns Charakter entspricht in der Literatur Mister Verloc, dem Protagonisten in Joseph Conrads „Der Geheimagent“ (dass auch er mit Vornamen Adolf heißt, ist ein anachronistischer Witz). Ich lasse mich gern korrigieren, aber ich glaube, in diesem außerordentlichen – auch außerordentlich spannenden – Roman begegnen wir dem Bösen zum ersten Mal in Form von Dumpfheit, Gleichgültigkeit, geistloser Bereitschaft zum Gehorsam, in Form der absoluten Mitleidlosigkeit – nämlich dem banalen Bösen, das schrecklicher ist als die schrecklichsten Höllengestalten eines Hieronymus Bosch oder eines Dante Alighieri, nämlich weil es uns so schrecklich ähnlich sieht. Der Begriff stammt von Hannah Arendt, das wissen wir alle, sie hat ihn geprägt, als sie vom Prozess gegen Eichmann in Jerusalem berichtete. Avner Werner Less, der israelische Polizeioffizier, der 1960 und 1961 die Verhöre Eichmanns leitete, erzählt, einmal habe ihn Eichmann nach seinen Verwandten gefragt, und als er antwortete, ein Großteil sei von seiner, Eichmanns, Abteilung in die Todeslager transportiert worden, habe Eichmann unter dem Tisch die Hacken zusammengeschlagen und „Herzliches Beileid“ gesagt, und er habe es nicht zynisch gemeint.

Mephisto ist der überkluge Zyniker;Mister Verloc hingegen stellt den Zyniker in seinem Naturzustand dar, bevor ihm das Bewusstsein die mephistophelischen Geistesblitze liefert – Verloc verkörpert das Böse aus Langeweile, das nur ein Mittel gegen diese Langeweile zu kennen glaubt, nämlich die Vernichtung, die Destruktion.

Dieses Böse zu lenken ist, so hat sich herausgestellt, einfach. Das erste Lockmittel ist die Sprache. Sprache ist immer vieldeutig, und die deutsche Sprache ist es in besonderem Maße. Denken wir nur daran, wie viele eklatant unterschiedliche Bedeutungen ich einemVerb geben kann, indem ich ihm verschiedene Präfixe voranstelle. Exempel – richten:berichten, verrichten, zurichten, anrichten, einrichten und so weiter. Dann: nichts leichter, als mit der Wahrheit zu lügen, aber auch mit einer Lüge die Wahrheit zu sagen; jeder kann Beispiele dafür nennen, dass eine Lüge so lange vorgetragen wurde, bis sie fast jeder für eine Wahrheit hielt, oder dass eine Wahrheit durch ständiges Wiederholen einem so auf die Nerven ging, dass man sie nicht mehr glauben wollte. Wie man mit rhetorischen Mitteln den Sinn eines Wortes in sein Gegenteil verkehren kann, dafür ist die Rede des Antonius in Shakespeares „Julius Cäsar“ das beste Beispiel; der Begriff „ehrenwerter Mann“ ist für alle Zeiten diskreditiert.

Das Wort „Gutmensch“ sollte ursprünglich auf satirische Weise jemanden bezeichnen, der so tut, als ob er gut wäre, und dieses Gutsein wie einen Heiligenschein über sich trägt, in Wahrheit aber nicht gut, allenfalls dumm ist. Inzwischen ist es ein Schimpfwort, das ganz gezielt und nur noch gegen jene gerichtet wird, die tatsächlich Gutes tun.
Aber kehren wir zurückzu unserem Witz: Wer die Thora liest und sich Gedanken über die Geschichte von Abraham und der Opferung seines Sohnes Isaak macht, der kommt der Bedeutung unseres Witzes vielleicht näher. An keiner anderen Stelle des Tanach wird die Thematik von Mord und Mitleid auf so schonungslose Weise zur Diskussion gestellt. Und diese schonungslose Weise greift der Witz auf, in Form einer Verdrehung freilich.

Lassen Sie mich ein wenig ausholen:Gott stellt Abraham auf die Probe, indem er ihm befiehlt, Isaak, den einzigen, über alles geliebten Sohn, auf den der Patriarch und seine Frau Sara so lange gewartet haben, auf einen Berg zu führen und ihn dort zu töten und ihm, seinem Gott, als ein Brandopfer darzubringen. Das heißt, der Vater soll dem Sohn die Kehle durchschneiden und anschießend die Leiche verbrennen.

Was tut Abraham? Er reagiert mit nahezu mechanischer Unterordnung. Er lehnt sich nicht auf. Er fragt nicht einmal nach. Er weint nicht. Er hat keine schlaflose Nacht. Jedenfalls wird nicht davon berichtet.

Es heißt im Buch: „Er selbst nahm das Feuer und das Messer in die Hand und führte seinen Sohn auf den Berg.“

Nach einer Weile sagt Isaak, der noch ein Knabe ist, ein Kind: „Vater, hier ist Feuer und Holz. Wo aber ist das Lamm für das Brandopfer?“ Und Abraham lügt. Er lügt, indem er die Wahrheit sagt. Er sagt: „Gott wird sich das Opferlamm aussuchen, mein Sohn.“

Das ist einerseits die Wahrheit, andererseits ist es eine Lüge. Die Lüge liegt im Tempus. Gott hat sich das Opferlamm nämlich bereits ausgesucht. Der Text ist von unübertrefflicher Schlichtheit und Kälte.

Es heißt weiter: „Als sie an den Ort kamen, den ihm Gott genannt hatte, baute Abraham den Altar, schichtete das Holz auf, fesselte seinen Sohn Isaak und legte ihn auf den Altar, oben auf das Holz.“

Der Mord an seinem Sohn erscheint Abraham als eine Notwendigkeit, der zu widersprechen ebenso sinnlos wäre, wie ein Naturgesetz zu leugnen. Gott schafft die Gesetze, alle Gesetze. Mitleid wäre unbotmäßig und dumm. Gott also ist der Täter. Schuldgefühle vonseiten des Menschen wären unbotmäßig und dumm.

Doch wie geht es weiter? Abraham strecktseine Hand aus und nimmt das Messer, um seinen Sohn zu schlachten, und in ebendiesem Augenblick ruft der Engel des Herrn vom Himmel herab, er solle dem Kind nichts zuleide tun.

Gott ist der Täter, und der Täter hat Mitleid. Abraham ist nur das Werkzeug.


In dem Witz von den beiden Attentäternverhält es sich ähnlich – und doch diametral anders. Die beiden Juden sind zweifellos Werkzeug. Aber sind sie zugleich auch Täter? Ich sage: nein. Der Täter ist ihre Moral. – Gut, das kann man immer sagen; das sagt jeder Terrorist, sei's der im Dienst der Weltrevolution, sei's der im Dienst einer Religion. Aber in unserem Fall sollten wir genauerhinsehen. In der modernen Welt fallen Moral und Gesetz nicht immer und nicht notwendig in eines. Es wird manches als unmoralisch empfunden, was vom Gesetz nicht geahndet, und manches vom Gesetz geahndet, was nicht als unmoralisch empfunden wird.

Zu Abrahams Zeiten waren Moral und Gesetz eins, und dieses Eine ging von Gott aus. Dieses Eine war Gott.


In aufgeklärter Zeit gilt Mord sowohl als unmoralisch als auch als ungesetzlich. Auch zu Zeiten des Nationalsozialismus gab es Gesetze, und Mord stand unter Strafe. Jedoch, wie wir wissen, nicht jederMord. Nicht der Mord an sechs Millionen Juden, nicht der Mord an Sinti und Roma, nicht der Mord an Homosexuellen und an Geisteskranken. Um diesen Mord zu verurteilen, war also eine Moral nötig, die über dem nationalsozialistischen Gesetz stand, ja, die sich gegen das Gesetz richtete. – Und was sagte diese Moral? Sagte sie, du darfst nicht töten, und zwar keinen Menschen darfst du töten, keinen Juden, keinen Zigeuner, keinen Homosexuellen, keinen Geisteskranken, jedoch auch keinen Soldaten einer anderen Nation, ja nicht einmal einen Nationalsozialisten – niemanden und unter gar keinen Umständendarfst du töten? – Nein, das sagte diese Moral nicht. Sie sagte: Du darfst keinen Menschen töten, nur den Tyrannen, den darfst du töten. Und zu den beiden jüdischen Attentätern sagte sie: Ihr müsst den Tyrannen töten!

Diese Moral befiehlt ihnen also den notwendigen Mord. Wie Gott dem Abraham den notwendigen Mord befohlen hat. Diese Moral ist der Täter. Wie Gott der Täter ist. Die beiden Juden sind das Werkzeug dieser Moral. Wie Abraham das Werkzeug Gottes ist.

In der Geschichte aus dem Bereschit, dem 1. Buch Mose, überfällt Gott ein unbotmäßiges Mitleid mit Isaak – merkwürdigerweise nicht mit dessen Eltern Abraham und Sara –, und der Engel des Herrn – in Stellvertretung Gottes (vielleicht, weil der sich schämte?) – befiehlt, das Kind leben zu lassen. Unbotmäßig ist das Mitleid deshalb, weil es Gottes eigenem Plan, seinem eigenen Gesetz, seiner eigenen Moral – wenn er denn eine hat – widerspricht.

Im Witz sorgt sich einer der Attentäter um Hitler. „Es wird ihm doch nichts passiert sein.“ Und seine Sorge ist ebenso unbotmäßig. Wie viel Böses würde verhindert, wenn dem Tyrannen tatsächlich etwas passiert wäre! Wie viele Menschleben könnten gerettet werden, wenn diesem einen „etwas passiert“ wäre!

Was könnte dem Führer, dem Erzverbrecher, passiert sein? Dass er von anderen Attentätern getötet wurde, bevor die beiden Juden zum Zug kamen? Dann würde der Erfinder des Witzes die Sorge des Juden anders ausgedrückt haben. Nein. Gemeint ist die sogenannte höhere Gewalt – ein Unfall oder ein Infarkt oder ein Hirnschlag, oder dass ihm ein Dachziegel auf den Kopf gefallen ist. Mit solchen Gedanken im Sinn pflegt man zu sagen: „Es wird ihm doch nichts passiert sein.“

Aber wer wäre schuld an einem Unfall, einem Infarkt, einem Schlag? Wer hätte dem Dachziegel befohlen zu fallen? Die Antwort lautet: eine über dem Menschen stehende Instanz, die höhere Gewalt. Gott eben. Oder wie sich Hitler ausgedrückt hätte: die Vorsehung.

Das ist das Kuriose an diesem Witz, das ist das Witzige an diesem Witz, darin liegen seine Tragik und seine Komik, und zugleich wird darin, wie ich meine, das Tragikomische der menschlichen Existenz aufgezeigt: Vor dem Gedanken, Gott könnte Hitler hinweggerafft haben – zum Beispiel mithilfe eines Infarkts –, zeigen sich die beiden Attentäter oder zeigt sich zumindest einer von ihnen solidarisch und mitleidig mit dem Tyrannen. Nun geht es nämlich nicht mehr um Unterdrückte versus Tyrann, Juden versus Hitler, nicht um eine höhere Moral versus nationalsozialistische Gesetzgebung, sondern um Mensch versus Gott. Insofern ist dieser Witz die Fortführung der Abraham-Isaak-Geschichte hinein in unsere aufgeklärte Zeit, in der, wie wir wissen, selbst der Beruf des Generals keinen ausreichenden Schutz mehr bietet.


Noch ein anderer Gedanke
erheischt Aufmerksamkeit, und der bringt nichts Versöhnliches mit, nämlich: dass die Sünden des Menschen Hitler nicht von einem Gott gerächt werden sollen, sondern von Menschen. In dem „Es wird ihm doch nichts passiert sein“ schwingt auch die Empörung mit, Gott könnte dem rächenden Menschen zuvorgekommen sein. Es gibt Verbrechen, die sind zu groß, als dass ihre Behandlung Gott überlassen werden könnte, dem alttestamentarisch rächenden nicht und dem verzeihenden Gott des Evangeliums schon gar nicht.

Dieser Gedanke fügt der Geschichte einen weiteren komischen Aspekt hinzu: Ein Mensch meint, etwas besser zu wissen und besser zu können als sein Gott. Das allerdings ist der theologische Witz schlechthin. Nietzsche freilich hätte über diesen Witz nicht gelacht. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.10.2016)

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