Wo geht's hier zur Realität?

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Realpolitik, Gesinnungsethik, Verantwortungsethik, Führerdemokratie, Populismus. Über Hintergrund und Karriere einiger jüngst sehr erfolgreicher politischer Begriffe.

Die Abstimmung über EU-Austritt oder -Verbleib Großbritanniens wird noch viele Jahre in Europas kollektivem Gedächtnis haften bleiben. Es ist nämlich ein Lehrstück der Politik. Wie sich all jene Politiker, die diese maßlose Kampagne erfolgreich in Szene gesetzt hatten, dann aus der Verantwortung geschlichen haben, ist einigermaßenbemerkenswert. Sie wollen ganz offenkundig nicht die Verantwortung für das übernehmen, wofür sie kampagnisiert haben. Sie wussten vermutlich von vornherein, wie verantwortungslos und realpolitisch surreal war, wassie taten. Was sie von ihrem Handeln freilich nicht abgehalten hat.

Realpolitik ist ein durchaus seltsamer, obgleich erfolgreicher Terminus. Sein Erfinder, der Bismarck-Anhänger August Ludwig von Rochau, der 1853 eine Streitschrift „Grundsätze der Realpolitik“ vorlegte, ist heute vergessen, aber der Begriff, der mit einer positiven Konnotation des Realistischenspielt, hat sich gehalten. In den Zeiten der 1968er-Bewegung wurdeer durch Sprüche wie„Seien wir realistisch, fordern wir das Unmögliche!“karikiert. Das Problem ist nicht nur: zu sagen, wasdas „Reale“ ist und ob esso klar bestimmt werdenkann; sondern auch: dass der Ausdruck tautologisch ist. Politik lässt sich nämlich dadurch bestimmen, dass sie sich auf die Realität von Machtverhältnissen und Interessenlagen bezieht. Das Reale, auf das die Realpolitik abzielt, ist die schiere Macht. Es geht darum, einen Machtvorteil zu erlangen, um ein bestimmtes Ziel durchsetzen zu können.

Wer sich mit dem Phänomen der Realpolitik beschäftigt, der ist erstaunt, dass es immer wieder die gleichen Texte und Autoren sind, die bei derartigen Reflexionen zurate gezogen werden. Wer etwas über die Kultur des Demokratismus und über den Gegensatz zwischen den Vereinigten Staaten und Europa begreifen will, der ist mit Alexis de Tocqueville noch immer gut bedient; wer die Technik der Macht studieren möchte, für den bleibt Machiavelli ein lesenswerter Autor; wer verstehen möchte, dass benachteiligte und verängstigte Gruppen jene wählen, die sie mit hundertprozentiger Sicherheit betrügen werden, der liest Karl Marx' wunderbaren Text über den „18. Brumaire des Louis Napoleon“; und wer vorhat, etwas über die Dilemmata massendemokratischer Politik zu erfahren, für den ist Max Webers „Politik als Beruf“ bis heute ein Kompendium für eigene Reflexionen.

Obwohl der Begriff „Realpolitik“ bei Max Weber keine prominente Rolle spielt, bildet es doch den heimlichen Hintergrund seines Essays. Wer die Politik als „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“ sieht und wer systematisch zwischen Verantwortungs- und Gesinnungsethik unterscheidet, der befindet sich direkt im Textkosmos jenes ausführlichen programmatischen Aufsatzes, den Max Weber im Jahr 1919 vorlegte. Der Grundton Webers, der doch immerhin als einer der geistigen Väter der ersten Republik auf deutschem Boden gilt, ist aus heutiger Sicht überraschend skeptisch und desillusioniert. So spiegelt der Text, ähnlich wie bei Thomas Mann und übrigens auch bei Sigmund Freud, den mühsamen Übergang von autoritären Konzepten zu einer liberalen Staatsauffassung. Weber gibt Leo Trotzki, dem Mitbegründer des bolschewistischen Russland, uneingeschränktrecht, wenn dieser konstatiert, dass jeder Staat auf Gewalt gegründet sei, verbindet diesen Gedanken jedoch mit der Forderung nach einem Gewaltmonopol für den Staat.

Um Webers Zurückhaltung gegenüber der Nachkriegsdemokratie und ihren Grundlagen zu verstehen, muss man sich zwei historische Ereignisse vor Augen halten: den nach dem Ersten Weltkrieg vollzogenen Übergang von einer elitären Honoratiorendemokratie hin zu einer massendemokratischen Gesellschaft, die auf dem allgemeinen Wahlrecht beruht; und den Kampf der radikalen Linken gegen die „bürgerliche Demokratie“ von Weimar. Dass es um diese geschehen war, als sich zu den linksradikalen Verächtern die rechtsradikalen gesellten, hat Max Weber nicht mehr erlebt.

„Politik als Beruf“ lässt sich nur vor diesem historischen Hintergrund begreifen. Ganz offenkundig fördert der Eintritt in eine neue Form von Staatlichkeit (repräsentative Demokratie) von Anfang an deren problematische Seiten, die Weber am Beispiel der demokratischen Vorbildstaaten des 19. Jahrhunderts (England, USA) demonstriert. Die Massendemokratie konstituiert im Gegensatz zur Honoratiorendemokratie Parteien als Wahlmaschinerien, sie fördert plebiszitäreMomente, die durch den Journalismus Rückenwind erhalten, und sie bringt einen neuen Typus von Politikern hervor, den Weber als „Demagogen“ bezeichnet.

Er unterscheidet drei Legitimationsgründe staatlicher Herrschaft: Tradition und die „Autorität“ des „ewig Gestrigen“; Legalitätals Glauben an bestimmte legale Spielregeln; und „Gnadengabe“. Dieses Charisma verbindet der Mitbegründer der Soziologie mit der Figur des Propheten, des siegreichen Kriegsführers, aber auch des modernen plebiszitären Demagogen. Dass Weber das Charisma für das durchschlagendste Moment des Politischen hält, ist augenfällig, anscheinend bedarf die moderne Massendemokratie eines solchen Elans, aber diesen gilt es, so lässt sichWebers Grundüberlegung zusammenfassen, zu sublimieren und zu kanalisieren. Ansonsten ist dem, was wir heute Populismusnennen, die Tür geöffnet, auch Korruptionund Klientelpolitik, die Weber als negative, wenngleich beinahe unvermeidbare Begleiterscheinungen der plebiszitären Demokratie ansieht. Dass er die Idee der Rechtsstaatlichkeit so sehr in den Hintergrund stellt und sie, an dieser Stelle ähnlich wie Hans Kelsen, positivistisch auf den Glauben an eine Regelprozedur reduziert, ist so bedenklich wie bemerkenswert. Weber begreift die moderne Massendemokratie als eine plebiszitäre Demokratie, in der zwei Figuren bestimmend sind: der demokratische gewählte „Führer“ und der Journalist.

Nun nimmt Weber mit Blick auf den krisenhaften Zustand der neuen demokratischen Verfassung in Deutschland eine weitere Unterscheidung vor, wenn er dem Gesinnungsethiker den Verantwortungsethikergegenüberstellt. Auch wenn er beiden eine ethische Grundhaltung zuspricht, so sind die Sympathiegewichte ungleich verteilt. Weber lässt keinen Zweifel an seinem Vorbehalt gegenüber einer politischen Ethik, die Politik nach dem Maßstab der Bergpredigt verstehen will und die dabei Gefahr läuft, Mittel ins Werk zu setzen, die diesen Grundsätzen fundamental zuwiderlaufen und nicht selten in der Maxime gipfeln, wonach der Zweck die Mittel heiligt. Dass dieser Vorwurf an die radikale Linke seiner Zeit gerichtet ist, versteht sich von selbst, obschon sich natürlich behaupten lässt, dass sich der politische Marxismus stets als „realpolitisch“ verstanden hat, was Trotzkis realpolitischer Friedensschluss in Brest-Litowsk anno 1917 übrigens sinnfällig macht.

Die Gesinnungsethik verfehlt Weber zufolge das entscheidende Moment des Politischen. Es gibt keine Politik, in der es nicht um Macht geht. Politik ist niemals unschuldig. Um deren hässliche Seite zu beschneiden und zugleich Mittel und Zweck in ein angemessenes Verhältnis zu bringen, bedarf es einer Verantwortungsethik, die für die Macht einsteht, die sie einsetzt, und zugleich für die getroffenen politischen Entscheidungen. Sie kommt ebenjener Realpolitik beträchtlich nahe, freilich mit dem einschneidenden Unterschied, dass sie programmatisch für sich reklamiert, ein ethisches Ziel zu verfolgen und auf dem Feld von Macht und Politik mit ethisch vertretbaren Mitteln vorzugehen. Die Realpolitik lässt sich nämlich durchaus mit reiner Machtpolitik in Einklang bringen, das heißt: mit einer Form von Politik, die an „ethischen“ Setzungen nur den eigenen nationalen oder individuellen Vorteil, den „sacro egoismo“ etwa des italienischen Faschismus und des Duce, aufweist. Wir können Putin, Erdoğan oder Orbán nicht vorwerfen, dass sie schlechte Realpolitiker sind.

Dass es nicht nur traditionelle Legitimationsgründe autoritärer Herrschaft, sondern auch moderne plebiszitäre Formen einer solchen absolutistischen Machtpolitik geben kann, hat Weber, der 1919 noch immer darauf setzte, dass ein politischer Führer ein „Held“ sein müsse, nicht mehr erlebt. Wohl aber sein ungarischer Schüler Karl Mannheim, der nach 1918 einen anderen politischen Weg eingeschlagen hat als sein Freund Georg Lukács, ebenfalls ein Max-Weber-Schüler, der sich 1918 der kommunistischen „Gesinnungsethik“ anschloss. In seinem 1929 auf Deutsch erschienenen Buch „Ideologie und Utopie“ führt Mannheim, nicht ohne eine gewisse Faszination, den „Fascismus“ als ein neues politisches Phänomen vor, das sich von anderen Orientierungen wie Liberalismus, Chiliasmus, Konservatismus oder Sozialismus unterscheidet. Neben der Emphase für die Bewegung spielt dabei die Idee des charismatischen Führers eine Rolle, der nur ein Ziel kennt: die Nation.

Befinden wir uns noch in der gleichen Welt wie Mannheim oder Weber? Ja und nein. Wir leben noch in ihrer Welt, weil ihre Analysen, ähnlich und doch anders als die postmarxistische Theorie des Politischen, davon ausgehen, dass politische Erscheinungen wie Populismus, Korruption und Klientelismus oder die Idee der illiberalen Demokratie ebenso wenig wie Faschismus, Nationalsozialismus oder Kommunismus von außen in das demokratische System eindringen, sondern sich aus den Widersprüchlichkeiten der Massendemokratie ergeben. Die moderne westliche Demokratie enthält Momente der Selbstdestruktion: Der Populismusist das andere, dunkle Gesicht einer politischen Herrschaftsform, die historisch einen Kompromiss darstellt. In ihrem repräsentativen und konstitutionellen Aspekt steht sie derIdee einer direkten Demokratie (Rätesystem, System bindender Volksabstimmungen) entgegen, weil sie so beschaffen ist, dass es professionelle Politiker und Parlamente gibt, die für politische Entscheidungen die Verantwortung übernehmen. Von ihrem „demokratischen“ Aspekt her besehen, sind die linken wie rechten Forderungen nach „direkter“ Demokratie nur die logische Konsequenz eines politischen Systems, das Weber als plebiszitärbeschrieben hat.

Webers Aufsatz macht unmissverständlich die Konsequenzen einer solchen Entwicklung deutlich: Triumph des Demagogentums und der Massenmedien, Verlust an Verantwortlichkeit. Der direkten Demokratie wohnt eine negative Dialektik inne. Das Unbehagen in und an der Politik entzündet sich ja nicht zuletzt daran, dass die demokratischen Bürger unserer Tage der politischen Macht nicht mehr jene Folgsamkeit entgegenbringen, die Weber noch für ganz selbstverständlich hielt. Das dürfte ein entscheidender Grund für die Anziehungskraft der direkten Demokratie sein: Protest und Revolte gegen das „System“ der Repräsentation und der Berufspolitik. Die negative Dialektik besteht darin, dass der basisdemokratische Protest – auch Orbán ließ die Massen vor demParlament aufmarschieren – sehr leicht in eine gelenkte Führerdemokratie umschlägt,die durch das Charisma des Führers eine unkritische Gefolgschaft erlangt.

Die Populisten sind natürlich meilenweit davon entfernt, Verantwortungsethiker zu sein, und ob sie Gesinnungsethiker sind, lässt sich füglich bezweifeln. Sie verfolgen keine hehren Ziele, und auch die Erlangung imperialer Größe wie bei Nationalsozialismus und Faschismus ist in den Hintergrund getreten. Sie verfolgen kleine und kleinliche Ziele. Ihre Ressource sind die Animositäten: Missgunst, Neid, Angst vor dem Neuen, Wut gegen die Eliten, überkommene Identitätskonzepte (die klassische Heimat und der Nationalismus). Die Stagnation messbaren Wohlstands löst nicht nur Existenz- und Abstiegsängste, sondern auch Identitätskrisen aus. Dabei entsteht ein Bild etwa von Österreich, das eher der wirtschaftlichen Realität von Moldawien als der eines reichen Landes in Europa entspricht. All dies formt sich zu Feindbildern wie der EU und „denen da oben“ und zu der Ansicht, dass es „uns“ ohnedie viel besser gehen würde. Aber hier geht es nicht um Gesinnungen wie zum Beispiel in der klassischen Arbeiterbewegung, deren Trägerübrigens durchaus nichtohne Klassenstolz auf ihren Status als industrielle Produzenten waren.

Die rechten Demagogen von heute polarisierennicht deshalb, weil sie irgendwelche nennenswerten oppositionellen Programme und Alternativen,eine „Gesinnungsethik“,besäßen, sondern weil sie es auf jene Elemente der modernen Demokratie abgesehen haben, ohne deren Zestörung ihr Projekt einer illiberalen Demokratie undenkbar ist: konstitutioneller Rahmen; Wahl von verantwortlichen professionellen Politikern; Menschenrechte, die die Legitimation des demokratischen Regelwerks bilden. Ihre Feindschaft ist gegen den Kompromiss gerichtet, weil dieser ihrem Anspruch auf Volksführerschaft zuwiderläuft. Der ungarische Publizist Péter Urfi hat dies in einem Vortrag an der Universität Wien am Beispiel von Orbán sehr einleuchtend veranschaulicht. Führerbewegungen wie Orbáns Fidesz reklamieren für sich den Anspruch, alle positiven Elemente „ihres“ (homogen gedachten) Volks zu enthalten, von daher bedarf es eigentlich keiner anderen Parteien. Wenn das so ist, dann kanneine Niederlage nur das Ergebnis von Machenschaften und Verschwörungen oder ein Missverständnis sein.

Neben dem ansteigenden Druck des Plebiszitären ist auch eine Ökonomisierung des Politischen am Werk: All die politischen Techniken des Feilschens um Kompromisse zwischen divergierenden Interessen von einzelnen Gruppen und Ländern können ihre strukturelle Ähnlichkeit mit dem ökonomischen Tausch schwer verleugnen. Über die zunehmende Einflussnahme ökonomischer Gruppen hinaus sehen wir die schon von Weber angesprochene Transformation der Politik in eine geschäftliche Transaktion.

Vor einiger Zeit warb eine österreichische Versicherungsgesellschaft mit dem Slogan „Ihre Sorgen möchten wir haben“. Der Spruch beschreibt präzise die Machtlogik eines Populismus, der über die programmatischen linken und rechten Ränder hinausgeht: Diese Sorgen bringen Stimmen und damit Macht – jenseits von Gewissen und Verantwortung. Die neuen Führer, die sich anmaßen, das „Volk“ oder „die Österreicher“ zu präsentieren, wollen nämlich weder Verantwortung übernehmen, noch sind sie wirklich Gesinnungstäter. Sie wissen nur, dass ihre Parolen Stimmen bringen. „Den bestehenden Zustand darf man wohl eine ,Diktatur, beruhend auf der Ausnutzung der Emotionalität der Massen‘, nennen“, hat Max Weber vor hundert Jahren geschrieben. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2016)

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