Keine Sehnsucht nach Gayropa

Mindestens drei Jahrhunderte war Europa das leuchtende Vorbild, an dem Russland sich orientierte. Spätestens seit der Ukraine-Krise ist der Bruch perfekt. Die Russen verstehen und achten Europa nicht mehr. Und sie leiden darunter, dass es ihrer Ansicht nach degeneriert.

Es muss nicht verwundern, wenn Russen in einem Akt ihres facettenreichen Aberglaubens einen Handschlag über die Türschwelle hinweg verweigern. Innen und außen, das geht nicht zusammen und bringt nur Unglück. Vor allem in den ersten Jahren nach dem Ende der Sowjetunion, als Privateigentum aufkommen durfte und die als Kommunalkas bezeichneten Mehrfamilienwohnungen sich aufzulösen begannen, wurden die eigenen vier Wände zum Reich aller Träume. Das Kollektive, das vor der Wohnungstür begann, interessierte niemanden und sah entsprechend verwahrlost aus. Innen aber glänzte die Bude und wurde nach den bestmöglichen Standards renoviert. Das Kind hatte auch einen Namen: „Jewroremont“, sagte man von Kaliningrad bis Wladiwostok. Zu Deutsch: „Renovierung auf europäische Art.“

Die Bezugnahme auf Europa kam nicht zufällig, schließlich galt der heute angeblich alte Kontinent angesichts des innerrussischen Versagens und Chaos als jung, dynamisch, modern, zukunftsweisend – einfach als beispielhaft: „Man versuchte, als Gegengewicht zur Straße, wo es eher ruppig zuging, sich daheim ein inneres Europa zu errichten“, wird der aus Sibirien stammende Schauspieler und Autor Jewgeni Grischkowetz in einem bemerkenswerten Essay von Kerstin Holm in der aktuellen „Zeitschrift für Ideengeschichte“ zitiert: „Westeuropa war der Fluchtpunkt, nach dem man strebte, von dem man zu lernen versuchte, ein unerreichbares Ideal, das gleichwohl wichtiger war als das eigene Dasein und das eigene Land.“

Das alles liest sich wie eine Reminiszenz an eine ferne Zeit. Zwei Jahrzehnte später nämlich ist wenig übrig von dieser Verliebtheit in Europa. Zwei Jahrzehnte später ist Europa in Russland diskreditiert wie kaum je zuvor. Man weiß zwar nach wie vor, dass auf dem alten Kontinent das meiste besser funktioniert als zu Hause an der Wolga.

Und doch meint man, Europa mit seiner Entwicklung nicht mehr wiederzuerkennen. Was bleibt, ist Enttäuschung. Und wie so oft in Russland, äußert sie sich in einem überheblichen Spott: „Gayropa“ etwa ist einer der neuen Termini für die neue Sichtweise, weil der Westen Homosexualität der Heterosexualität gleichstellt und diese neue Ordnung auch Russland aufzwingen will.

Der Weg von Jewroremont bis Gayropa war ein kurzer. Zum Teil sind die neuen despektierlichen Lesarten Europas in Russland eine Folge der Verwerfungen mit dem Westen aufgrund der Krimannexion. Zum Teil sind sie auch eine Folge der Sanktionen respektive des russischen Importembargos auf westliche Agrarprodukte – Aktionen, die im Verein mit dem Ölpreisverfall zur schwersten Rezession seit den 1990er-Jahren und auch zu einer Zäsur in den Wirtschaftsbeziehungen geführt haben: Der Handel mit Europa brach empfindlich ein, und westliche Experten verlassen das Land, wie eine Berechnung des russischen Personalvermittlers „Unity“ zeigt. Ihr zufolge hat sich die Zahl der Firmen, die ausländische Spezialisten aufnehmen, binnen 2014 und 2016 von 30 auf fünf Prozent reduziert. Und weil der Rubel seit 2014 drastisch abgestürzt ist, reist heute auch die Mittelschicht weitaus seltener in den Westen als zuvor.

Der Prozess der Entfremdung setzte aber schon früher ein. Die Entfernung von Europa gehe bereits seit mindestens 15 Jahren – und zwar seit der Machtübernahme durch die ehemaligen KGB-Offiziere rund um Kremlchef Wladimir Putin – vor sich, schreibt Lev Gudkov, Chef des führenden russischen Meinungsforschungsinstituts „Levada-Centre“, ineiner soziologischen Analyse mit dem Titel „Die Russen lieben Europa nicht mehr“: Hätten sich 1997 noch 71 Prozent der Bevölkerung für „Europäer“ gehalten, so 2008 nur noch 21 Prozent. „Die Orientierung der öffentlichen Meinung an Europa wurde langsam schwächer und ging im Frühjahr 2014“ – zur Zeit der Krimannexion – „praktisch zu Ende“, so Gudkov.

Das ist umso bemerkenswerter, bedenkt man, dass Europa nicht nur in den ersten postsowjetischen Jahren, sondern de facto über Jahrhunderte der modellhafte Horizont war, an dem sich Russland orientierte. Manchmal in der Gestalt des Wettbewerbs wie unter Sowjetdiktator Stalin, dessen Losung „Europa ein- und überholen“ selbst auf den Werkmaschinen in russischer Abkürzung eingraviert war: „D.I.P“ (dognat' i peregnat'). Allein in der Beziehung zu Europa nämlich, das als „Wunderspiegel“ fungiert habe, habe sich die russische Nationalkultur formiert und sei sich ihrer selbst bewusst geworden, so Gudkov.

Schon vor Zar Peter dem Großen hat sich Russland ein Beispiel an Europa genommen. Er aber machte sie um 1700 vollends zum Programm, ehe die deutschstämmige Zarin Katharina die Große massenhaft Deutsche in Russland ansiedelte und das Land gleichzeitig zur „europäischen Macht“ erklärte. Gewiss, die „Europäisierung Russlands wurde gewaltsam oktroyiert und hat nur bei der aufgeklärten Schicht stattgefunden“, sagt der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew im Gespräch: 100 Kilometer außerhalb von Moskau sei heute noch nicht einmal Peter der Große angekommen.

In der Tat war die Europaliebe vielfach ein Elitephänomen und später eines der Mittelschicht, die mit dem Ende der Sowjetunion entstand und ins Ausland zu reisen begann, von wo sie europäische Standards – wie das Anhalten vor dem Zebrastreifen – nach Hause mitbrachte. Und in der Tat war Europa über die Jahrhunderte nicht nur Vorbild, sondern mindestens so sehr auch ein Gegenüber, an dem man sich gerieben hat.

Nirgends trat das klarer zutage als Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich die sogenannten Slawophilen und die sogenannten Westler darüber zerfleischten, ob Russland in seiner Entwicklung nun vor oder hinter Europa liege und wer von beiden das antike Erbe und den christlichen Glauben – beides Säulen der europäischen Zivilisation – in reinerer Form bewahrt habe.

Europa als Wunderspiegel hatte also auch eine negative Seite: Der Vergleich habe Russland die eigene Rückständigkeit gezeigt, einen Aufholwettbewerb aus dem Gefühl der Minderwertigkeit erzeugt, das die Russen zeitweise mit einem Gefühl der moralischen Überlegenheit kompensiert hätten, so der Soziologe Gudkov: Die Idealisierung Europas sei immer wieder in eine Angst umgeschlagen, dass Europadas Überleben der russischen Kultur gefährde. So spätestens angesichts der Massendemonstrationen im Anschluss an die Parlamentswahlen 2011, als die jüngste Abkehr von Europa einen ersten Höhepunkt erreichte. Bis dahin habe Putin „wirklich geglaubt, dass er im Westen Freunde hat“, erklärt der Schriftsteller Jerofejew: Im Umstand, dass der Westen aber die „eigenartige Revolution der Mittelschicht gegen das Autoritäre“ unterstützt hat, habe Putin einen Verrat gesehen. Ebenso im Maidan-Protest Ende 2013 in der Ukraine.

Was folgte, war eine immer gezieltere Diskreditierung Europas mit allen Mitteln der staatlichen Propaganda. Der Prozess erreichte einen weiteren Höhepunkt in der konfrontativen Zeit vor und während der Olympischen Winterspiele Anfang 2014 in Sotschi. Und auch wenn er sich bei Weitem nicht nur in der Homosexuellenfrage äußerte, so war sie doch symptomatisch für ihn.

Dabei ging der Westen Putin gehörig auf den Leim. Mit dem gesetzlichen Verbot der „Propaganda nicht traditioneller sexueller Beziehungen“ unter Minderjährigen konnte er sicher sein, dass der Aufschrei in Europa massiv werden würde. Vielleicht hat er unterschätzt, dass es auch zu Boykottaufrufen gegen die Olympischen Spiele kommen würde.

Ein Ziel aber hat er erreicht: Das eigene Volk konnte er in einer Dichte hinter sich sammeln wie schon lang nicht mehr. Ein gleich großer oder vielleicht sogar größerer Coup zur inneren Konsolidierung gelang ihm kurz später dann nur noch mit der Annexion der Krim.

Will man das heutige Bild von Europa in Russland zusammenfassen, so sieht es folgendermaßen aus:

1. Die traditionelle Familie wird zerstört, unter anderm durch Homosexualität.

2. Europa lässt zu, dass durch die Aufnahme der Flüchtlinge die eigene Kultur zerstört wird.

3. Europa geht seit Beginn des 20. Jahrhunderts seinem Untergang entgegen.

4. Europa ist berechnend und kühl, Russland hingegen von geistigen Werten beseelt und emotionell.

5. Europa hasst und fürchtet die Russen.

6. Europa ist politisch korrekt, aber deswegen um nichts weniger verlogen.

Nicht weiter verwunderlich, dass die Verschlechterung in der Beziehung zum Westen in den vergangenen beiden Jahren mit einem starken Anstieg des patriotischen Stolzes einhergegangen sei, schreibt Gudkov. Geäußert wird er – wohlgemerkt – durchaus auch als Bedauern darüber, dass das Vorbild so weit gesunken sei. Was vor wenigen Jahren noch attraktiv war, stößt plötzlich ab.

Es ist der europäische Lebensstil, der irritiert. Ja, noch mehr irritiert, dass er propagiert und – gemeinsam mit den USA, von denen sich Europa zum Bedauern der Russen nicht emanzipieren will – in die Welt hinausgetragen wird. Die Russen nämlich hatten sich von Europa holen wollen, was sie von Europa zu brauchen glaubten. Und sie hatten es sich in dem Tempo holen wollen, in dem das Neue der eigenen Entwicklung entsprechend auch verdaut werden konnte. Aber missioniert zu werden? Nein.

Selbst Intellektuelle wie Grischkowetz haben die Wende vollzogen. In der „Zeitschrift für Ideengeschichte“ bringt er das Drama auf den Punkt: Seit Europa seine eigene Kultur sukzessive aufgebe, könne man es nicht mehr lieben, meint er. Und genauso wenig könne man es dafür lieben, dass es anderen Ländern seine Genderdoktrin und politische Korrektheit oktroyieren wolle, egal in welcher Entwicklungsphase diese sich befinden.

Und was liebt und bevorzugt man dann? Geht es nach den Umfragen des „Levada-Centre“, so plädierten 2015 wieder ganze 55 Prozent für einen „besonderen eigenen Weg“, während im Jahr 2013 nur noch 37 Prozent dafür waren. Auch hatten sich 2013 noch 31 Prozent für einen Weg der europäischen Zivilisation ausgesprochen, 2015 nur noch 17 Prozent.

„Niemand weiß, welcher Weg der eigene sein soll, Hauptsache es ist der eigene“, so Gudkov: Der eigene Weg beschränke sich darauf, eine Barriere zwischen sich und dem Westen zu errichten. Aber es ist laut Gudkov noch komplexer: Die Barriere schwäche nämlich den Minderwertigkeitskomplex ab, der aus dem unangenehmen Bewusstsein komme, „dass Russland nichtbereit ist, ein moderner, entwickelter Rechtsstaat zu werden“.

Heute weist den Russen nicht Europa den Weg, heute weist ihn der Kremlchef selbst, wie Igor Bunin, Chef des Moskauer Zentrums für politische Technologien, meint: „Die Leute identifizieren den ,eigenen besonderen Weg‘ mit Putin.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2016)

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