Der Mensch schuf Gott, Gott schuf den Menschen, und beide wurden von Michelangelo erschaffen

Die Fresken in der Sixtinischen Kapelle sind restauriert und fotografiert worden. Die Repliken stehen in Originalgröße bis 4. Dezember in der Wiener Votivkirche.

Die Menschen brauchten Götter, um sich auf Erden zurechzufinden. Als man sie hatte, wusste man endlich, warum man auf der Welt war: dank der Götter. Das ist nicht die ganze Wahrheit. Die erschließtsich erst, wenn zu den Begriffen Gott und Mensch die Anschauung kommt. Erstwenn man weiß, wie Gott und Mensch aussehen, weiß man, wie sie sind.

Michelangelo lüftete das Geheimnis: Gott sieht aus wie ein Mensch, der Mensch hat die Gestalt Gottes. Keinem Künstler vor, keinem nach ihm gelang ein solcher Geniestreich. Michelangelo war aber nicht übermächtig, sondern einKind seiner Zeit. Und die verlangte nach einer neuen Welt mit neuen Menschen und einem neuen Gott. In den tausend Jahren zuvor hatten die Menschen im Namen Gottes die Welt zur Hölle gemacht. Man sehnte sich nach dem Himmel auf Erden. Michelangelo malte ihn. Er gestaltete das Neue rückblickend auf das Alte, auf das antike Ideal. Man spricht von Rinascimento, von Renaissance, von Wiedergeburt.

Das Revolutionäre an Michelangelos Kunst ist, dass er das klassische Ideal, ohne welches er nichts wäre, in seinem Werk zerstört. Seine Körper strotzen derart vor Kraft, dass die Proportion verloren zu gehen droht, sich dann aber doch als die beste erweist. Das gelungene Kunstwerk legt fest, was schön ist. Durch das All brausend, erschafft Gott Sonne und Mond, gebieterisch, klug, geschäftig – die Klassik wird naturalistisch herausgefordert, aber nicht besiegt. Eine neue Schönheit entsteht.

Wissende Frau, ahnungsloser Mann

Sie ist doppelgesichtig: hier der neue, bürgerliche Mann, der dem Feudalismus die Herrschaft entreißen will; dort die Frau der Vorzeit, die, vom Herrschaftsgetümmel unberührt, ihren Gedanken nachhängt, wenn sie nicht gerade aufschreibt, was Gott ihr erzählt. Diesen Sibyllen, weisen Frauen, Prophetinnen, Traumdeuterinnen gehört Michelangelos besondere Liebe. Sie sind athletisch und doch von großer Anmut. Störte ein Mann sie bei ihrer Tätigkeit, packten sie ihn bei den Ohren und gäben ihn an der Garderobe der Sixtinischen Kapelle ab.

Ein einziges Mal steigt Gott auf die Erde herab, er steht Eva gegenüber, machtsie, die nur Körper war, zum beseelten Menschen und erlegt ihr ein Gebot auf, das ein Verbot ist: nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen. Erkenntnis mündet in Zweifel, also auch in Zweifel an Gott. Der weiß, dass er den Menschen schafft, damit dieser ihn abschafft. Auf Eva, so malt es Michelangelo, lastet die Menschheitsgeschichte. Nur einmal ist sie froh und schön: wenn sie gegen das Verbot verstößt.

Wie jeder Revolutionär erzählt auch Michelangelo die Geschichte neu. Der Gott, der Adam erschafft, ist wieder der imAll schwebende alte Mann, der einem attraktiven jungen Mann Leben einhaucht. Dieses wunderbarste aller Fresken der Welt stellt Adam dar als Inbegriff derSchönheit und Ahnungslosigkeit. Er weißnichts vom Baum der Erkenntnis, nichts vom Verbot. Und als sie aus dem Paradies vertrieben werden, ist Eva, die weiß, was geschah, verzweifelt, Adam, dernichts weiß, ist bloß schockiert. Die wissende Frau hadert mit dem Unheil, der ahnungslose Mann wird es anrichten. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2016)

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