Wasser in der Wüste

Kunst darf vor der Politik nicht zurückschrecken, meint der ungarische Pianist András Schiff, seit Jahren österreichischer und britischer Staatsbürger. Über Brexit und Karajan, Trump und Furtwängler: ein Gespräch.

András Schiff, bei politischen Umschwüngen sind Künstler meist die Ersten, die mit Repressionen zu rechnen haben. Weil, wie der Pianist Wilhelm Kempff formulierte, die Stille des Geistes stärker ist als der Lärm der Motoren?

Es ist komisch, dass Sie ausgerechnet Wilhelm Kempff erwähnen, der zweifellos ein großartiger Pianist war. Aber als politischer Mensch und Künstler? Dazu ein Witz: Seine Witwe hat ihre Lebenserinnerungen geschrieben. Der Titel? „Mein Kempff“. Unsere Zeiten sind schlimm genug, aber im Vergleich mit den 1930er-Jahren sind sie kinderleicht. Wie haben sich die Menschen damals gehalten, was hätten wir damals getan? Ich hätte mein Leben in Auschwitz beendet. Es ist auch nicht richtig, darüber zu moralisieren. Aber es stört mich enorm, wie man über Furtwängler urteilt, der nie ein Nazi war, wogegen die Leute bei Karajan – kein überzeugter Nazi, nur ein großer Karrierist und Opportunist – viel großzügiger sind. Nicht zu reden vom Fall Karl Böhm!

Wie viel können Kunst und Kultur tatsächlich bewegen? Künstler sind nur eine Minderheit in einer Gesellschaft.

Es wäre naiv zu glauben, dass Kunst und Künstler viel bewegen können. Aber einige Tröpfchen Wasser in der Wüste sind viel mehr als nichts. Meine großen Beispiele sind Toscanini, die Brüder Busch, Thomas Mann – alle Nichtjuden, die ruhig hätten zu Hause bleiben können, haben es aber nicht getan. Mit ihrer exemplarischen Haltung haben sie sehr vielen Menschen Mut und ethische Haltung gegeben. Oder Béla Bartók: Er konnte es im faschistischen Ungarn nicht ausstehen, ging in die Emigration in die USA, wo ihn kaum jemand verstanden hat. Er starb unter den furchtbarsten Bedingungen, aber sein Charakter, sein Gewissen ist absolut sauber geblieben. Oder der wunderbare Pablo Casals, der das Spanien von Franco nicht anerkannt hat. Das sind meine Helden, nicht Kempff, Karajan und Böhm.

Sie treten sein einiger Zeit nicht mehr in Ihrem Heimatland Ungarn auf, dessen Regierung sie wiederholt scharf kritisiert haben. Hätten Sie mit Schwierigkeiten zu rechnen?

Offiziell könnte ich ruhig in Ungarn auftreten. Aber ich wurde im Internet und in inoffiziellen Portalen bedroht, man würde mir die Hand abhacken, wenn ich dort erschiene. Welche Hand? Das Konzert für die linke Hand von Ravel habe ich nicht im Repertoire . . .

Was können Künstler konkret tun, um gegen politische Fehlentwicklungen, vor allem für die Freiheit der Kunst zu protestieren? Können auch Hinweise auf tragische Künstlerschicksale Menschen wachrütteln?

Ich sehe es als meine Pflicht, meine Stimme zu erheben, wenn wo Schweinereien passieren. Still zu bleiben und wegzuschauen ist gemütlicher, es fällt nicht auf, man bekommt keine Ohrfeigen. Ein paar Beispiele: Ich bin britischer Staatsbürger, geadelt von Queen Elizabeth, halte den Brexit für eine absolute Katastrophe. Soll ich deshalb nicht mehr in Großbritannien – notabene nach dem Austritt von Schottland und Nordirland wird es Kleinbritannien heißen – auftreten? Das wäre Unsinn, weil es eine enge Sache war. Alle meine Bekannten und Freunde haben dagegen gestimmt, ich auch. Dagegen möchte ich in den USA mit einem Präsidenten Donald Trump unter keinen Umständen musizieren – das kann kommen.

Und wie steht es mit Österreich? In den Zeiten von Haider habe ich Stellung genommen, dazu stehe ich nach wie vor. Viele Menschen haben mir das nie verzeihen können. Die Wiener Philharmoniker, eines meiner Lieblingsorchester, mit dem ich oft musiziert habe, haben mich seit 2000 deshalb nie wieder eingeladen, das steht in den Lebenserinnerungen von Hans Landesmann. Die Lage im Lande ist wieder sehr heikel. Hoffentlich gewinnen diesmal Anständigkeit und reine Vernunft.

Nachdem sie 1982 im Wiener Konzerthaus die Bach'schen Goldberg-Variationen aufgeführt hatten, wurden Sie buchstäblich über Nacht ein Begriff, und schon hatten Sie ein Etikett: der Bach-Spieler. Das ist Ihnen geblieben, obwohl Ihr Repertoire bis in die Gegenwart reicht, sämtliche Mozart-, Beethoven- und Schubert-Sonaten umfasst, viel Schumann, Janáček, Bartók, Sie als Liedbegleiter und Kammermusiker auftreten.

Bei aller Liebe zu Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert und einigen anderen: Es steht für mich außer Frage, dass Johann Sebastian Bach der allergrößte Komponist ist. „Bach-Spieler“ ist für mich ein großes Kompliment.

Sie haben wiederholt betont, dass Sie die Schönheit der Musik der Hässlichkeit unserer Zeit entgegensetzen wollen, verweisen in diesem Zusammenhang aber auch auf die Brüche in der Musik, ihre Abgründigkeit und Zerrissenheit.

Schönheit allein ist ein leeres Wort. Wahrheit ist besser: Wahrheit und Dichtung. Man darf keine Angst vor den Abgründen haben. Zum Beispiel bei Schubert. Es ist aber schade, dass heutzutage ausgerechnet der göttliche Schubert ein Opfer der Psychiatrie geworden ist. Die Menschen suchen Suizidprogramme in jedem Takt. Nehmen wir zum Beispiel das Forellenquintett: Was ist hier depressiv?

Seit den 1990er-Jahren treten Sie auch als Dirigent auf, meist mit dem von Ihnen gegründeten Ensemble Andrea Barca. Haben die Erfahrungen des Dirigenten Schiff den Pianisten Schiff beeinflusst?

Ich bilde es mir nicht ein, dass ich Dirigent bin, ich kenne meine Grenzen. Mahler-Symphonien, Wagner-Opern, „Ein Heldenleben“ von Strauss werden Sie nie mit mir hören. Ich bin aber ein Musiker, und als solcher habe ich bei Bach, Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert am Klavier und in der Kammermusik wesentlich mehr Erfahrung als die meisten „Profidirigenten“. Diese große Musik liebe ich leidenschaftlich, und aus meinen Erlebnissen als Dirigent hat der Pianist Schiff enorm profitiert.

Welche sind Ihre nächsten großen Projekte, gibt es Pläne für Wien und Salzburg, wo Sie einige Zeit Ihren Wohnsitz hatten?

Bei den Salzburger Festspielen werde ich nächstes Jahr den Bach-Bartók-Janáček-Schumann-Zyklus in drei Konzerten im Mozarteum wiederholen. Ein nächstes Projekt ist späten Klavierstücken von Brahms gewidmet, aber nicht ausschließlich, weil es meiner Meinung nach keine gute Idee ist, nur Brahms an einem Abend zu spielen. Ich werde diese Stücke abwechselnd mit Bach, Mozart, Beethoven, Schumann und Mendelssohn aufführen – ganz im Sinne von Johannes Brahms. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2016)

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