Abwesend anwesend

In Wien gab und gibt es kaum ein theaterhistorisches Echo auf die Arbeiten des Autors Václav Havel. Die Zeit, da Havel die Wiener Burg sein Muttertheater nannte, ist längst der hierorts ausgeprägten vorsätzlichen Amnesie zum Opfer gefallen. Hinweise eines Zeitzeugen.

Am 9. Oktober 1976, ein paar Tage nach Václav Havels 40. Geburtstag, im zweiten Monat meiner Direktionszeit am Burgtheater, fanden die Uraufführungen von „Audienz“ und „Vernissage“ gemeinsam mit der der „Polizei“ von Slawomir Mrožek im Akademietheater statt. Dem Programmheft lag ein vierseitiges aktuelles Informationsblatt bei, mit Auszügen aus Havels „Offenem Brief“ an den Präsidenten der ČSSR Gustav Husák vom 8. April 1975 und aus dessen lügenhafter Rede in Helsinki anlässlich der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa einige Monate später.

Außerdem brachten wir an dieser Stelle zwei Briefe von Václav Havel an mich zur Kenntnis und die Einladung und die diplomatische Intervention des Bundesministers Sinowatz, dem schließlich vonseiten des Außenministeriums der ČSSR mitgeteilt wurde, Havel sei kein Repräsentant der tschechoslowakischen Literatur und könne nur als Privatmann um die Ausstellung eines Reisepasses ansuchen; die wurde freilich abgelehnt. Einen Tag vor unserer Premiere verweigerte die tschechoslowakische Post Havel sogar die Übermittlung eines Telegramms an Bundesminister Sinowatz.

Am Kopf aller vier Seiten des Informationsblattes stand der Satz: „Wir vermissen heute Abend Václav Havel.“

Wir haben ihn über zehn Jahre vermisst – bei allen sechs Premierenabenden, natürlich auch bei den Protestveranstaltungen im Burg- und im Akademietheater anlässlich seiner Verhaftungen und auch noch in Zürich bei der letzten Havel-Uraufführung in deutscher Sprache im September 1989. Zum Zeichen dafür, dass wir seine erzwungene Abwesenheit nicht hinnehmen wollten, kam beim Schlussapplaus immer ein großes Bild von Havel aus dem Schnürboden. Er war also abwesend anwesend und nahm in effigie den Applaus des Publikums entgegen. Anschließend riefen wir unseren Autor an und berichteten ihm.

Im Laufe der Jahre hatten sich die üblichen präventiven staatlichen Bedrohungen in die sichere Gefahr verwandelt, bei einer möglichen Ausreise nicht mehr in die Tschechoslowakei zurückkehren zu können. Nun ließ sich Havel keinen Reisepass ausstellen, damit er ihm nicht entzogen werden konnte. Wir vermissten ihn also weiterhin. Pavel Kohout zum Beispiel wurde bereits 1979 die Einreise in die Tschechoslowakei verweigert. Er blieb in Wien als Dramaturg und schilderte in einer großen internationalen Pressekonferenz im Burgtheater die Umstände seiner Ausbürgerung. Pavel Landovský erlebte das gleiche Schicksal und wurde ebenfalls Ensemblemitglied des Burgtheaters, lernte mühsam Deutsch, spielte in meiner Direktionszeit in sieben Jahren 17 Rollen, wurde als Autor mit dem Stück „Arrest“ uraufgeführt und war der unschuldige Anlass für die damals sensationelle kurzfristige Absage des Staatsgastspiels des Burgtheaters in Moskau, Leningrad und Tallin. Die UdSSR hatte Landovský im letzten Moment das bereits erteilte Visum wieder entzogen.

Die „tschechische Periode“ der Burg

Die sogenannte tschechische Periode des Burgtheaters fand 1989 nicht in Wien, sondern in Zürich mit Joachim Bißmeiers Inszenierung von Havels „Sanierung“ ihr erfolgreiches Ende – dank Havel und Klaus Juncker vom Rowohlt Verlag; sie beließen nämlich die Uraufführungsrechte beim Zürcher Schauspielhaus, trotz nachdrücklicher verlockender finanzieller Angebote seitens der Nachfolgedirektion in Wien, die post festum plötzlich ihre bis dahin verborgene Solidarität mit Dissidenten entdeckt hatte.

Joachim Bißmeier, der Regisseur der letzten Uraufführung eines Havel-Stücks in deutscher Sprache, war in Wien der wichtigste Havel-Schauspieler gewesen. Er hatte Havels autobiografisch geprägte Bühnenfigur, den Ferdinand Vanĕk, so zwingend und glaubwürdig vergegenwärtigt, dass sie kraft seiner Gestaltung die Anwesenheit ihres Schöpfers bedeutet hatte, jedenfalls für uns und die Menschen, die für unser Theater erreichbar waren. So gewann unser trotziger Satz: „Den Havel können sie verhaften, den Vanĕk nicht!“ für uns seinen tröstenden Sinn.

Der festliche und denkwürdige Abschluss der für uns glücklichen Zeit, in der Václav Havel das Burgtheater sein Muttertheater – mateřské divadlo – genannt hatte, ereignete sich am 22. November 1990, als Václav Havel uns – nun als Staatspräsident – im Zürcher Schauspielhaus einen freundschaftlichen Besuch abstattete.

Es war ein aufregender Abend starker Begegnungen mit einigen mir und dem Schauspielhaus verbundenen Schauspielern, Regisseuren und vor allem Autoren aus Wien, aus Deutschland und aus der Schweiz. Natürlich war Friedrich Dürrenmatt gekommen, der zuvor bei der Verleihung des Duttweiler-Preises an Václav Havel seine legendäre Rede „Die Schweiz – ein Gefängnis“ als Laudatio gehalten hatte, vielleicht inspiriert von Havels Gedanken zum zehnjährigen Bestehen der Charta 77, dass nämlich die Grenze zwischen Macht und Machtlosigkeit innerhalb eines jeden Menschen verlaufe und jeder zugleich Gefangener und Gefangenenaufseher sei. Viele inwendig empörte Schweizer Honoratioren taten in anschließenden Gesprächen diese Rede mit gehöriger Entrüstung in den Kehlköpfen als unmittelbare Folge von Dürrenmatts jahrelangem Weinkonsum ab. Die Querulanten hatten offenbar Probleme mit dem Leben in der Schweizer Wahrheit.

Also: Friedrich Dürrenmatt vermisste Václav Havel – in der Schweiz.

Dürrenmatt war damals ein sehr geselliger Gast, der mit Havel und anderen Festteilnehmern gut gelaunte Gespräche führte. So bleibt er mir in Erinnerung, denn es war sein letzter Besuch in seinem Theater, dem Schauspielhaus Zürich. Er starb drei Wochen nach diesem Havel-Abend. Max Frisch, der Havel gern getroffen hätte, hatte sich entschuldigt, weil er keine Kraft mehr habe. Er folgte Dürrenmatt im Frühling des nächsten Jahres in den Tod.

Das alles ahnten wir an diesem Abend nicht, und so gab es heiter gelöste Begegnungen Havels mit Elias Canetti, mit Rolf Hochhuth, mit Golo Mann, mit den Schweizer Autoren Hugo Loetscher, Thomas Hürlimann, Nikolaus Meienberg, mit dem Verleger Daniel Keel und Havel-Regisseuren wie Michael Kehlmann. Und natürlich auch mit den guten Freunden Klaus Juncker vom Rowohlt Verlag und mit Rudolf Weys, dem großartigen Dramaturgen des Burgtheaters, den beiden Männern, die Havel auf seinem Weg in das Burgtheater treu und kundig begleitet hatten. Ich überreichte Havel als Geschenk einen „Autorenkoffer“ mit der Bitte, der Staatspräsident möge den Koffer dem Dramatiker in Prag mitbringen. Wir hatten uns zwar sehr gefreut, dem Staatspräsidenten zu begegnen, aber wir wollten den Dramatiker Václav Havel in Zukunft nicht vermissen. Der Staatspräsident bedankte sich mit einer Rede über seinen Rollenwechsel und über die Leichtigkeit der kritischen Arbeit und wies die anwesenden Künstler und Intellektuellen darauf hin, wie schwierig die Arbeit der Mächtigen ist im Vergleich zu der ihrer Kritiker.

Nun habe ich mich bei diesem Zürcher Abschluss der Wiener Havel-Zeit allzu ausführlich aufgehalten, verführt durch wiederkehrende Erinnerungen und nostalgische Melancholie. In Wien gab und gibt es kein oder kaum ein theaterhistorisches Echo auf die Arbeiten des Autors Václav Havel. Das betrifft natürlich auch den allgemeinen politischen Kontext. Die Wiener Jahre sind längst der grassierenden Gedächtnisschwäche und der hierorts ausgeprägten vorsätzlichen Amnesie zum Opfer gefallen, die bekanntlich die Herrschaft über die jeweilige Gegenwart sicherstellt. Schon Schnitzler hat seiner Heimatstadt ein Manko an Gedächtnis vorgeworfen, das zugleich ein Manko an Gesinnung sei. Die opportunistische Gedächtnislosigkeit einer überzeugungsfreien Gesellschaft, die zum Beispiel in Schnitzlers „Jungem Medardus“ eine wichtige Rolle spielt, ist dann im „Professor Bernhardi“ in individueller Ausprägung ein Grundthema des Stückes. Der Satz des Unterrichtministers Flint: „Man sollte kein Gedächtnis haben in unserer Stellung“, ist längst zu einer dauerhaft erfolgreichen Maxime avanciert – nicht nur in der kulturpolitischen Arena. Die damaligen Zensoren haben die Brisanz der Schnitzlerschen Diagnose selbstverständlich erkannt. Bei der Uraufführung des „Jungen Medardus“ im Burgtheater wurden die „peinlichsten“ Opportunismus-Stellen gestrichen, und eine Aufführung des „Professor Bernhardi“ war bis 1918 in Österreich überhaupt verboten. In dieser Verbotszeit schrieb übrigens Stefan Zweig seinen brandaktuellen Essay „Opportunismus – Der Weltfeind“.

Die über 100 Jahre alten, gewissermaßen „humanen“, aber eben auch sinnlosen Versuche, realistische Kunst zu verhindern, sind natürlich in keiner Weise mit der lebensbedrohenden Gewalt und dem bedenkenlosen Vernichtungswillen der faschistischen und kommunistischen Diktaturen zu vergleichen, aber auch sie zeigen, dass Menschen, die ihre Überzeugungen leben und sich nicht mit adoptierten Meinungen durchmogeln und die ihren Dissens mit den Unwahrheiten der Gesellschaft, in der sie leben, öffentlich bekunden, in jedem politischen System eine Provokation sind, sowohl für die Mächtigen wie für die Machtlosen, also auch für die Opportunisten und Mitläufer, die in der Lüge leben und die Havel die passiv Schuldigen nennt.

Ideologische Schattenboxer

Der Menschentypus der scheinbar ohnmächtigen Kleinbürger und die Opportunisten jeglicher Couleur, die Poseure von Überzeugungen, die ideologischen Schattenboxer, sie waren von Anfang an im Focus unserer Theaterabsichten, und deshalb stand Havel für uns in der Tradition der großen Opportunismus-Komödien von Gogol, von Tschechow und Gorki, von Schnitzler, Canetti, von Sternheim und natürlich von Nestroy, die eben auch unsere Hausautoren waren.

Havel war also im Kontext unserer Theaterkonzeption in erster Linie ein zeitgenössischer Autor, dessen Begleitung auf unserer Suche nach unserer Identität in einem glaubwürdigen Theater willkommen war, einem Theater, das ohne ideologische Verbrämung den Menschen, die sich ihm zuwenden, ihren Hoffnungen, ihrer Sehnsucht, ihren Träumen Gastfreundschaft gewährt und ihre Zweifel und ihre Not nicht abweist. Aus dieser, sagen wir, theaterprofessionellen Verwandtschaft ergab sich eine Partnerschaft, die zwar früh unsere Solidarität mit dem Autor in Not einschloss, aber nie zu einem „Hilfsprogramm“ oder einer „politischen Aktion“ degenerierte. Wir nahmen nie an Gesinnungswettläufen teil. Wir spielten nie den Dissidenten Havel, sondern immer den vortrefflichen Dramatiker, dessen Bühnensprache wir gut verstanden.

Dass aus der dramaturgischen Entscheidung für unseren Hausautor dann tatsächlich politisches Theater erwuchs, das war nicht unser Plan, sondern die Folge der politischen Zustände – auch der innenpolitischen in Österreich. Der wichtigste Aspekt, der unsere „kleine Ostpolitik“ bestimmte, war einfach der, dass wir den Eisernen Vorhang nicht als Kulturgrenze akzeptieren wollten. Wir waren überzeugt, dass Zusammenarbeit nützlicher ist als Solidaritätsadressen, und Boykottieren, Sichabgrenzen, gegenseitige Unkenntnis und Sprachlosigkeit nicht geeignet sind, die Welt zu verändern. Und wir wussten, dass die Mächtigen, wie Havel das gesagt hatte, das Wort fürchten und nicht das Schweigen. Wir planten daher die Zusammenarbeit mit Theaterleuten aus dem Osten, vorrangig mit solchen, die in ihrer Heimat keine beruflichen Möglichkeiten mehr hatten.

Die Regierung Kreisky und der Bundespräsident Kirchschläger, aber auch Politiker wie Bruno Aigner unterstützten unsere „Ostpolitik“. Wir hatten das ganz besondere Glück, unter Fred Sinowatz, dem besten Unterrichtsminister der Zweiten Republik, arbeiten zu dürfen, einem hochgebildeten, wahrhaft toleranten, autarken Politiker, der sich nicht von den beispiellosen Hetzkampagnen der „Kronen Zeitung“ und der FPÖ beeinflussen ließ und der sein Denken und Handeln nicht, wie das heute politisch üblich ist, an Umfrageergebnissen orientierte, die nämlich eine mehrheitliche Ablehnung unserer Dissidentenpolitik wegen angeblicher Verletzung der Neutralität signalisierten. – Ich denke also heute auch an Fred Sinowatz und die vielen Weggefährten und Freunde, die mich in den Havel-Jahren begleitet haben und die nicht mehr leben.

Friedrich Heer, der zu ihnen gehört, hat einmal gesagt, er habe viel Trost erfahren aus dem Lande der Toten, und er sprach von der Dankbarkeit gegenüber dem Gelebten. Heute, als alter Mann, verstehe ich ihn.

Apropos Friedrich Heer

Apropos Friedrich Heer: Der weit über die Grenzen Österreichs berühmte Geisteswissenschaftler und bedeutende Schriftsteller, der Dramaturg, der größte intellektuelle Luxus, den sich das Burgtheater in seiner ganzen Geschichte je geleistet hat, hatte in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag. Seiner wurde nicht öffentlich gedacht. Er fiel durch das Erinnerungsmuster der Gedenk-, Geburts- und Todestage, die längst das selbstverantwortliche Gedächtnis ersetzt haben.

Friedrich Heer war ein österreichischer Dissident.

Ich denke im Sinne Friedrich Heers dankbar an die kostbaren Begegnungen mit Václav Havel in Prag, in Zürich, in Berlin, im Schloss Laný und schließlich auch in Wien. Hier wiederholte Havel übrigens im Gespräch mit seinem Freund Jiři Gruša im Palais Ferstel seine Behauptung, er sei ein kleiner Irrtum der Geschichte. Ich hoffe von ganzem Herzen, es kommt in Zukunft nicht zu einem Urteil eines bedeutenden Nachgeborenen, das über diese bescheidene „historische Koketterie“ hinausgeht. Ich denke an das Urteil von Friedrich Nietzsche über Goethe; das lautete: Goethe sei in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen.

Viele begnügen sich inzwischen mit der Bewunderung des Politikers Havel und werden unendlich traurig, wenn sie an seine Nachfolger auf dem Hradschin denken. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an einen Brief Havels an mich, in dem er 1983 geschrieben hat: „Ich denke, dass Sie nicht nur ein einfaches menschliches Interesse für das Schicksal Ihres schon Stammautors fühlen, aber dass Sie dieses Interesse als einen Ausdruck Ihrer Überzeugung, dass geistige und bürgerliche Freiheit unteilbar ist, verstehen. Es gibt Werte, die gelten und keine Staatsgrenze haben können und die wir alle verteidigen müssen.“

Wir alle vermissen Havel eben auch in der Politik, nicht nur auf den Bühnen. Aber hier und heute sollten wir bei der Eröffnung dieser hoffnungsvollen Ausstellung über den Dramatiker Václav Havel die Worte von Milan Kundera bedenken, der geschrieben hat: „Ich frage bei jeder Gelegenheit Havels politische Bewunderer: Kennen Sie seine Stücke? Denn obwohl Havel zu Recht zum politischen und moralischen Repräsentanten seiner Nation geworden ist, bleibt die Begabung des Dramatikers ein Wesenszug seiner Persönlichkeit. Eben seine Stücke geben dem Politiker Havel Dimensionen, ohne die man ihn nicht verstehen kann.“ ■

Václav Havel: Die Ausstellung

Das Wiener Theatermuseum (Lobkowitzplatz 2; täglich außer Di 10–18 Uhr) zeigt derzeit die Ausstellung „Seine Freiheit, unsere Freiheit. Václav Havel und das Burgtheater“. Achim Bennings Beitrag gibt in Auszügen die Rede wieder, die er zur Ausstellungseröffnung hielt.

Näheres zu Leben und WerkHavels enthält Carol Rocamoras Band „Acts of Courage: Václav Havel's Life in the Theater“ (Smith & Kraus, Hanover).

Achim Benning, Jahrgang 1935, war von 1976 bis 1986 Direktor des Wiener Burgtheaters. Sein Buch „In den Spiegel greifen“ ist in der Edition Steinbauer, Wien, erschienen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2016)

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