Wenn der Handlauf mitreist

Zunächst Kaufhausattraktion, heute „Nahfördermittel zur Bewältigung dauernd flutender Menschenströme“: eine kleine Kulturgeschichte der Rolltreppe.

Ein Blick in die Geschichte zeigt: Stadt und Mobilität sind untrennbar miteinander verbunden, zahlreiche Verkehrsinnovationen nahmen von hier ihren Ausgang, permanente Bewegung gilt bis heute als Kennzeichen für Urbanität. Doch viel zu oft denken wir dabei nur an die Horizontale. Dass die Eroberung der Vertikalen mindestens genauso wichtig war und ist, wird gerne vergessen. Aufzug und Rolltreppe sind hier als wesentliche Erfindungen zu nennen, wobei Letzterer das Verdienst zukommt, die Menschenzirkulation nochmals deutlich gesteigert zu haben. Der Wegfall der Wartezeit erhöhte die Transportkapazitäten beträchtlich. Rolltreppenfahren – uns heute zutiefst vertraut – entwickelte sich vom anfangs städtischen Vergnügen zur städtischen Notwendigkeit, in Wien genauso wie in anderen Metropolen der Welt.

Als Vorläufer können jene stufenlosen Rollbänder gelten, die auf den Weltausstellungen von Chicago (1893) und Paris (1900) für Aufsehen sorgten. In Paris avancierte das 3,8 Kilometer lange „Trottoir Roulant“ zur viel beachteten Sensation. Der elektrisch betriebene „rollende Gehsteig“ erreichte eine Geschwindigkeit bis zu acht Kilometern pro Stunde. Allerdings noch ohne nennenswerte Steigungen zu überwinden. Dies geschah erst mit dem vom amerikanischen Konstrukteur Jesse W. Reno entwickelten stufenlosen Steigband („Inclined Elevator“), das erstmals 1903 auf Coney Island eingesetzt wurde. Die Bewältigung des Transports erfolgte hier analog zum Fließband der industriellen Massenproduktion. Andere Techniker, George A. Wheeler und Charles D. Seeberger, experimentierten mit beweglichen Treppenstufen. Ihre Patente erwarb die Firma Otis, entwickelte sie weiter und ging damit in Produktion. Erneut war es die Pariser Weltausstellung des Jahres 1900, bei der die erste moderne Rolltreppe unter der Bezeichnung „Escalator“ derÖffentlichkeit vorgestellt wurde.

Europa blieb zunächst relativ skeptisch gegenüber der mobilen Treppe, sei es mit oder ohne Stufen. Es überwogen die Sicherheitsbedenken, Konkurrenz zum direkt und geradlinig funktionierenden Aufzug sah man grundsätzlich keine. Rolltreppen wären bestenfalls eine Ergänzung zum Aufzug, aber keinesfalls ein Ersatz. Auch die allzugroße Nähe zum Förderband, Symbol eines ausschließlich ökonomisch fundierten Effizienzstrebens, war aus europäischer Sicht ein Makel der neuen Erfindung.

Die Maximierung der Transportleistung bestimmte den Einsatzort der ersten Rolltreppen: in Fabriken, Bahnhöfen und Warenhäusern. Gerade das moderne Warenhaus mit seinen großflächigen, übereinanderliegenden Verkaufsetagen war prädestiniert für die Anwendung der Rolltreppe, konnte man doch damit das gesamte Gebäude effizient mit Kunden durchfluten. Kaufhäuser in New York zeigten dies vor, in Europa standen die Pioniere in Paris (Grand Magasin du Louvre 1898, Bon Marché 1906), London (Harrods 1903), Leipzig (Confectionsgeschäft August Polich 1899) und Berlin (Wertheim 1901).

Wien reihte sich in den Reigen der frühen Anwender ein. Es war das im Oktober 1904 eröffnete „Modenhaus A. Gerngroß“, in dem man erstmals einen „rollenden Teppich“ bestaunen konnte. Das nach Plänen des Architektenduos Fellner und Helmer in der Mariahilfer Straße errichtete, mondänste und größte Kaufhaus der Monarchie setzte bei seiner Verkehrserschließung auf zwei pompöse Freitreppen, fünf luxuriöse Glasaufzüge und eben jene Rolltreppe, mit der man vom Parterre ins Mezzanin gelangen konnte. Die ausführlichen Medienberichte über die Eröffnung des „Prachtbaus“ erwähnten sie denn auch stets als besondere Novität.

Erbaut wurde der „rollende Teppich“ von derLeipziger Maschinenfabrik Unruh & Liebig, die bereits mehrere Geschäftshäuser, etwa das erwähnte Leipziger Kaufhaus Polich, ausgestattet hatte. Und wie reagierte die Wiener Bevölkerung auf die neue Einrichtung, die bis zu 3000 Personen pro Stunde befördern konnte? Noch Jahrzehnte später erinnerte man sich schmunzelnd an die zahlreichen Hoppalas, die der „Laufteppich“ provozierte: „Ganz Wien sprach von ihm, aber weniger des praktischen Wertes wegen, sondern wegen der ,Hetz‘, die für alle besonders dann eintrat, wenn sich ihm ein unbeholfener Mensch tollkühn anvertraute, durch den Schwung aber einen ,Stern riss‘ und schließlich auf dem ,Rückenende‘ oben anlangte.“ Die Firma Gerngroß selbst war stolz auf ihre diesbezügliche Vorreiterrolle und promotete die technische Errungenschaft von Beginn an intensiv in ihren Werbeeinschaltungen.

Das Warenhaus blieb auch lange Zeit der einzige Anwendungsort in Wien – und weiterhin Pionier. Denn im November 1940, mitten im Weihnachtsgeschäft und mitten im Krieg, wurde im „Kaufhaus der Wiener“ (das Unternehmen war „arisiert“, umgebaut und der Name Gerngroß eliminiert worden) die erste wirkliche, das heißt gestufte Rolltreppe der Stadt eröffnet. Es war eine feierliche Zeremonie, bei der der Generaldirektor und alle Angestellten anwesend waren. Ein rotes Band wurde durchschnitten und der Elektromotor sodann in Gang gesetzt. Gleich vier Rolltreppen führten nun mit einer Geschwindigkeit von 0,45 Metern pro Sekunde durch alle Geschoße. Die Benützung der Anlage war, so bemühte man sich zu versichern, völlig unbedenklich. In den Zeitungen las man vom „gemütlichen Hochklettern über vier Stockwerke“ und vom „Schweben durchs Warenhaus“.

Es war ein beeindruckend neues Fahrgefühl: „Die Stufen sind ein hölzerner Teppich. Man betritt ihn im Tiefparterre und geht auf Reisen, obwohl man ganz ruhig steht. Unermüdlich rollt das hölzerne Lattenband von unten nach oben, verwandelt sich dort, wo man es betritt, im Handumdrehen in richtige Stufen und trägt Hunderte, ja Tausende Menschen von der Spielwarenabteilung zur Herrenkonfektion und von den Parfümeriesalons zu den Musikalientischen. Die Hände können sich dabei links und rechts an ein Geländer halten, das die Reise mitmacht, und am oberen Ende springt man nicht etwa auf festen Boden, sondern wird automatisch und gefahrlos abgesetzt.“

Uniformierte Helferinnen informierten höflich über den richtigen Gebrauch des neuen Beförderungsmittels, das sogleich von Tausenden ausprobiert wurde. Das Fahrerlebnis prägte sich tief ein ins kollektive Gedächtnis der Stadt. Auch diesmal erinnerteman sich noch Jahrzehnte später an die quietschenden Geräusche, die die bewegten Holzstufen mitder Zeit verursachten, und an den Lernprozess, dermit deren Benützung verbunden war. Sich am mobilen Handlauf festzuhalten und auf die Stufen und nicht auf die Zwischenräume zu treten fiel so manchen anfangs schwer.

In den Wiederaufbaujahren nach dem Zweiten Weltkrieg verbreitete sich die Rolltreppe über das Warenhaus hinaus und hielt Einzug an anderen hochfrequenten Orten der Stadt. Zunächst in der Wiener Börse. Hier wurde im April 1954 der „Ring-Basar“ eröffnet, eine Verkaufsmesse, bei der insgesamt 70 Firmen ihre neuesten Produkte ausstellten. In ganz Wien affichierte Plakate zeigten eine extralange Rolltreppe, die zukunftsfroh hinauf in den heiteren (Konsum-)Himmel führte. In den darauffolgenden Jahren waren es die unterirdischen Passagen, die unter der Ringstraße eröffnet und jeweils mit gleich mehreren Rolltreppen bestückt wurden. Den Anfang machte im November 1955 die Opernpassage. Erneut war die Inbetriebnahme der Rolltreppe, begleitet vom Klicken zahlreicher Pressefotografen, eine viel beachtete Sensation. Neugierige strömten in Massen heran und probierten sie aus. Rolltreppenfahren als neues und billiges Sonntagsvergnügen, wie die „Arbeiter-Zeitung“ formulierte: „Niemand wollte zu Fuß in die Opernpassage hinuntersteigen. Kinder aller Altersklassen kamen auf ihre Rechnung: Man konnte, wenn man die Menschen beobachtete, feststellen, dass Einzelne Dutzende Male auf und ab fuhren, um das neueste Gratisvergnügen auszukosten. Die Opernpassage als billigstes Ringelspiel von Wien!“

Mit Augenzwinkern kommentierten Karikaturisten den überschwänglichen Gebrauch des neuen Verkehrsmittels, Georg Kreisler verfasste ein ironisches Loblied auf den „dernier cri“ in einer ihm ansonst eher altväterisch anmutenden Stadt. Wie bereits 50 Jahre zuvor wurde die Rolltreppe erneut zum Inbegriff von Fortschritt und Modernität. Auch die Albertina-, Bellaria- und Schottentorpassage sowie die unterirdische Station Südtiroler Platz wurden in der Folge mit Rolltreppen ausgestattet und von der Bevölkerung ebenso begeistert aufgenommen.

Absoluter Star der Nachkriegszeit aber war die längste Rolltreppe Wiens im Ausstellungs- und Einkaufszentrum (AEZ) an der Landstraße. Das im November 1957 eröffnete Gebäude war eines der ersten modernen Einkaufszentren der Stadt, bestückt mit neuester Technik. Hier konnte man sich dem Rolltreppenfahren so richtig hingeben. Davon abgesehen enthielt es auch einen Autolift, der die Fahrzeuge der Kunden vollautomatisch nach oben zum Parkplatz auf dem Dach beförderte.

Architekten und Stadtplanern wär längst klar, dass die Rolltreppe ein ideales „Nahfördermittel zur Bewältigung dauernd flutender Menschenströme“ darstellt. Bahnhöfe und Flughäfen wurden damit ausgestattet, die einstige Kaufhausattraktion verbreitete sich im ganzen Stadtgebiet. Hochfrequente Verkehrsknotenpunkte waren letztlich nur mehr mit Rolltreppen effizient lenkbar; sie stellten, wie man beim Ausbau der U-Bahn Anfang der 1980er-Jahre erkannte, einen „bedeutenden Ordnungsfaktor der Verkehrsströme“ dar und boten zudem „jenen Komfort, den ein Massenverkehrsmittel benötigt, um genügend attraktiv zu sein“. Mit den Jahren verpuffte so ihr Neuigkeitswert, Rolltreppenfahren wurde zur Gewohnheit, zu einer im urbanen Alltag zutiefst vertrauten Fortbewegungspraxis.

Heute sind in Wien etwa 1000 Fahrtreppen in Betrieb. Als stadtspezifische Besonderheit laufen sie allerdings mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Während jene in der Zuständigkeit der Österreichischen Bundesbahn mit den üblichen 1,8 Stundenkilometern unterwegs sind, fahren die Wiener Verkehrsbetriebe mit ihren Anlagen deutlich schneller, nämlich mit 2,3 Stundekilometern. Was international gesehen noch immer relativ langsam ist, gibt es in anderen Städten wie Hongkong oder Prag doch Rolltreppen, die mit 2,7 oder sogar 3,2 Stundenkilometern dahinrasen. Zumindest für Europa bemüht sich die EU daher um einheitliche Standards und Normgeschwindigkeiten.

Wie sehr der Wiener Bevölkerung die Rolltreppe inzwischen ans Herz gewachsen ist, zeigte sich im November 2015, als man über Facebook zu einer besonderen „Rolltreppenparty“ einlud. Die – nach einjährigemStillstand – Wiederinbetriebnahme einer Anlage am Schottentor wurde gefeiert und kurzerhand zum Unterhaltungsevent stilisiert. Tausende Interessierte kamen und zelebrierten vergnügt die nun wieder mögliche Fahrt auf den mobilen Stufen. Und dabei war es fast so, wie in den 1940er- und 1950er-Jahren, als das Emporheben auf den Stufen einer feierlichen Elevation glich, gewürzt mit einer großen Portion Humor. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.12.2016)

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