Wo Verse töten

Die 16 Zeilen seines „Stalin-Epigramms“ kosteten den russischen Lyriker Ossip Mandelstam (1891 bis 1938) das Leben. Und heute, wie steht es heute um die Freiheit des Worts?

Als der russische Lyriker Ossip Mandelstam (1891 bis 1938) im November 1933 einigen Freunden sein „Stalin-Epigramm“ vortrug, besiegelte das sein Schicksal. Die Geheimpolizei erfuhr davon, er wurde verhört, verhaftet, gefoltert, vor Gericht gestellt. Es gab keine gedruckte Fassung für die Gerichtsverhandlung. Mandelstam schrieb dem Richter mit dessen Füller das Gedicht auf. 1934 wurde er zu drei Jahren Verbannung verurteilt. Seine Frau Nadeschda durfte ihn begleiten, zuerst nach Tscherdyn, dann nach Woronesch.

Wie es ihm in der Verbannung erging, schrieb er Anfang 1937 einem Freund: „Das ist nicht ,befristeter Aufenthalt in Woronesch‘, ,administrative Verbannung‘ und so weiter. Sondern das ist: Ein Mensch, der eine äußerst schwere psychische Krankheit hinter sich hat (genauer, einen kräftezehrenden und finsteren Wahnsinn), beginnt sofort nach dieser Krankheit, nach einem Selbstmordversuch, physisch verkrüppelt – wieder mit der Arbeit. Ich habe mir gesagt – recht haben die, die mich verurteilt haben. Ich habe Hals über Kopf gearbeitet. Dafür hat man mich geschlagen. Verstoßen. Moralisch gefoltert. Trotzdem habe ich gearbeitet. Für ein Wunder gehalten, dass man mich arbeiten ließ. Anderthalb Jahre später war ich Invalide. Um diese Zeit hat man mir ohne jedes Verschulden alles genommen: das Recht auf Leben, auf Arbeit, auf ärztliche Behandlung. Ich bin versetzt in die Lage eines Hundes, eines Köters . . . Ich bin ein Schatten. Mich gibt es nicht. Ich habe nur noch das Recht zu sterben.“

Nadeschda Mandelstam hat diese Ereignisse festgehalten – in ihrem bewegenden Buch „Das Jahrhundert der Wölfe“. Man presste Mandelstam noch eine „Ode an Stalin“ ab, dann durfte er 1937 nach Moskau zurückkehren, aber Stalin gab keine Ruhe, diese Ode konnte das Leben des Dichters nicht mehr retten. Er wurde 1938 erneut verhaftet und wegen angeblich „konterrevolutionärer Tätigkeit“ zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Seiner Frau sagte der Dichter: „Weine nicht. Nur bei uns schätzt man die Lyrik so, dass man für einen Vers erschossen werden kann.“ Mandelstam starb an Typhus in einem Transitlager in der Nähe von Wladiwostok.

„Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr, / Wir reden, dass uns auf zehn Schritt keiner hört, / Doch wo wir noch Sprechen vernehmen, / Betrifft's den Gebirgler im Kreml. / Seine Finger sind dick und, wie Würmer, so fett, / Und Zentnergewichte wiegt's Wort, das er fällt, / Sein Schnauzbart lacht Fühler von Schaben, / Der Stiefelschaft glänzt so erhaben. / Schmalnackige Führerbrut geht bei ihm um, / Mit dienstbaren Halbmenschen spielt er herum, / Die pfeifen, miaun oder jammern. / Er allein schlägt den Takt mit dem Hammer. / Befehle zertrampeln mit Hufeisenschlag: / In den Leib, in die Stirn, in die Augen – ins Grab. / Wie Himbeeren schmeckt ihm das Töten – / Und breit schwillt die Brust des Osseten.“ 16 Zeilen (Deutsch von Kurt Lhotzky) brachten dem Dichter den Tod. Diese Verse wurden zu einem der wichtigsten politischen Gedichte des 20. Jahrhunderts. Man fand es übrigens nach 1989 in den KGB-Archiven.

Das aufgeschriebene Wort. Worte eben. Nur Worte. Nichts als Worte? Zunehmend gefällt manchen Herren dieser Welt nicht, was aufgeschrieben wird. „Everyone has the right to freedom of opinion and expression“, heißt es in der Menschenrechts-Charta der Vereinten Nationen von 1948. Der UNO sind 193 Staaten beigetreten. Beschämenderweise schränken davon 113 Nationen willkürlich die Meinungs- und Ausdrucksfreiheit ein. Der Jahresbericht für 2015 von Reporter ohne Grenzen meldet für das Jahr 110 getötete hauptamtliche Journalisten, außerdem wurden 27 Bürgerjournalisten und sieben Medienmitarbeiter getötet. Ende 2015 waren weltweit 54 Journalisten entführt, 153 hauptamtliche Journalisten waren in Haft, zusätzlich 161 Bürgerjournalisten und 14 Medienmitarbeiter. PEN International mit seinen Writers-in-Prison-Committees in 62 Ländern setzt sich für gefangene und gefährdete Schriftsteller ein, ebenso wie etwa Amnesty International, Reporter ohne Grenzen und Human Rights Watch.

Auch dem Emir von Katar hat ein Gedicht nicht gefallen. Im „Arabischen Frühling“ gab es einen katarischen Dichter, der sich mit den Herrschenden anlegte. Der 1975 geborene Mohammed al-Ajami wurde am 16. November 2011 in Katar festgenommen und in das Gefängnis von Doha eingeliefert. Das Gedicht „Tunesischer Jasmin“ war der aktuelle Anlass. Erst nach vier Monaten Isolationshaft wurden die Haftbedingungen erleichtert. Am 29. November 2012 wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt wegen „Beleidigung des Emir“ und wegen „Anstiftung zum Sturz des herrschenden Regimes“. In der Revision wurde das Urteil auf 15 Jahre reduziert.

Das Gedicht ist zu einem Schlüsseltext des „Arabischen Frühlings“ geworden: „Herr Premierminister Muhammed Gannouchi, / Für uns sind Sie nicht legitim, mit Verlaub“, heißt es da. Und: „Ach, es sollte mal knallen in Ländern der brutalen Dynastien. / Wie lange, ihr Sklaven der Eitelkeit, sollen die anderen noch vor euch knien?“ (Deutsch von Mahmoud Hassanein und Hans Thill.)

Eine PEN-Delegation reiste vergeblich nach Katar, Mohammed al-Ajami wurde vom amerikanischen, deutschen und österreichischen PEN zum Ehrenmitglied ernannt. Und die Proteste zeigten Wirkung: Am 15. März dieses Jahres kam der Dichter frei. Viereinhalb Jahre war er im Gefängnis, weil er die politischen Zustände in den arabischen Staaten für nicht zuträglich hielt. Das geschah in einem Land, in dem die Welt im Jahre 2022 die Fußball-WM austragen will . . .

Immer noch sind vier Ehrenmitglieder des österreichischen PEN in Haft: Jimi'e Kmeil (Journalist, in Haft seit 2005), Eritrea; Mahvash Sābet (Bahá'í-Führerin, in Haft seit 2008), Iran; Mohammad Sadiq Kabudvand (kurdischer Publizist, in Haft seit 2007), Iran; Alaa Abd El Fattah (Blogger und Aktivist, in Haft seit 2013), Ägypten. Immerhin sind im vergangenen Jahr vier inhaftierte Ehrenmitglieder des österreichischen PEN dank weltweiter konzertierter Aktivitäten freigekommen.

Manche Schriftsteller wollen nur schreiben. In Zeiten wie diesen, in denen es den Herrschenden zunehmend nicht gefällt, was geschrieben wird – wie wir gerade in der Türkei erleben –, ist es problematischer geworden, nur an die schriftstellerische Selbstverwirklichung zu denken. „Wenn ich nicht für mich bin, wer ist dann für mich? / Solange ich aber nur für mich selber bin, was bin ich? / Und: Wenn nicht jetzt, wann sonst?“, so Rabbi Hillel, 30 vor Christus bis circa 9 nach Christus. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.12.2016)

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