Unterwegs mit leichtem Gepäck

Seinen Tod vor zehn Jahren nahmen nur Kenner der Literaturszene wahr. Demnächst wäre seines 100. Geburtstags zu gedenken. Wer war Fred Wander? Erinnerungen an einen Freund.

Wien – das ist die Welthauptstadt des Antisemitismus!“ Immer wieder hat Fred Wander seine Geburtsstadt so beschrieben; ohne Abscheu und ohne Hass – beiläufig und doch auch erschüttert von seiner eigenen Behauptung fiel dieser Satz. Es war der Befund über jene Stadt, in der der noch immer zu wenigen bekannte, 2006 verstorbene Schriftsteller seine ersten und letzten Jahre verbrachte. In den 1980er-Jahren begann unsere Freundschaft, die bis zu seinem Tod dauerte.

Spontan machte ich ihm eines Tages – das war vor etwa 20 Jahren – den Vorschlag, einige jener Orte aufzusuchen, an denen sich der von ihm angesprochene Hass gegen seinesgleichen manifestiert. Keine private Führung sollte es werden. In Beiträgen für den ORF könnte Fred Wander einem größeren Kreis von Menschen Wissenswertes über Wiens weit zurückreichende antijüdische Traditionen vermitteln. Fred führte uns vorerst zum Riesentor des Wiener Stephansdoms – unter dem gotischen Spitzbogen, für all jene verborgen, die ihren Blick nicht steil nach oben richten, in Stein gehauene mittelalterliche Darstellungen. Fred deutete in die Höhe: „Hier unter den Stühlen der Propheten, da wird die Unterwelt dargestellt, neben Monstren und Lemuren auf gleicher Ebene: ein Jude mit dem spitzen Hut – eine typische Darstellung des Spätmittelalters!“

Die katholische Kirche habe sich des Judenhasses bedient, erzählte er, bis weit ins 20. Jahrhundert, bis endlich Johannes XXIII. damit Schluss zu machen begann (diesen Papst schätzte der ehemalige „unorthodoxe Kommunist“ Wander besonders). Und noch einen gleich um die Ecke liegenden Ort suchten wir auf: den Wiener Judenplatz.

Zur Zeit unserer Dreharbeiten befand er sich gerade im Umbau. Davon unbetroffen – und wieder nur durch das Hochrecken des Kopfes zu erkennen, entdeckt man eine Inschrift an einem der ältesten Häuser Wiens, dem „Haus zum großen Jordan“. Aus der Zeit nach dem Wiener Judenpogrom des Jahres 1421 – der „ersten Wiener Gesera“ –, über die Schulter Fred Wanders, filmte der Kameramann die lateinischen Worte: Von Hebräerhunden ist da die Rede, deren Sünden durch das Wüten des Feuers gereinigt wurde. Eine Inschrift, die verschleiert, dass sich 1421 Wiener Juden der Zwangstaufe entzogen und den Freitod wählten, andere ungesühnt ermordet wurden, Frauen und Kinder auf der Donau ausgesetzt wurden. Hass und Dämonisierung, die historisch allmählich den Boden für den Antisemitismus des Nationalsozialismus aufbereiteten.

Kind ostjüdischer Einwanderer

Geboren wurde Fred Wander im Jänner 1917 in Wien – zu seiner Familie und Herkunft hatte er ein gebrochen-prekäres Verhältnis. „Ich war ein Kind ostjüdischer Einwanderer, völlig sich selbst überlassen, ein Kind der Straße“, schreibt er in seinem Buch „Das gute Leben“, seinen „Erinnerungen“, Ende der 1990er-Jahre. Sein Vater Jakob, als Vertreter dauernd auf Reisen, seine Mutter Bertha, die eigentliche Stütze der Familie – wenngleich keine „jüdische Mame“, die ihren Sohn nicht erdrückte, sondern gewähren ließ. Die Familie war 1911 aus Czernowitz nach Wien gezogen, gemeinsam mit den Großeltern. Der Großvater stammte aus dem „Stetl“ – von ihm, so Fred, habe er die Faszination des Erzählens: „Er erzählte mir als Kind die Märchen aus 1001 Nacht – auf Jiddisch.“

Bis der spätere Fred Wander selbst Bedeutendes schrieb, sollten allerdings noch mehr als 40 Jahre vergehen. Als Gelegenheitsarbeiter schlug er sich in Wien durch, streifte in der Freizeit durch die Stadt, erkundete die letzten Winkel Wiens, von den brüchigen Rändern beim „Friedhof der Namenlosen“ bis zu den Weinbergen. Dem Judenhass, den Schmähungen konnte er damit zeitweise entgehen.

Im März 1938 wurde es dann für den 21-Jährigen gefährlich: Österreich wurde von deutschen Truppen besetzt, viele Wiener jubelten Hitler zu. Fred erinnerte sich an ein folgenreiches Gespräch in diesen Tagen: „Es war in der Mariahilfer Straße unweit der Zieglergasse, da wurde ich ungewollt Ohrenzeuge eines Gesprächs. Zwei Leute unterhielten sich vor der Auslange eines Reisebüros – zeigten auf der Karte auf eine Stelle: ,Hier, bei Nauders, da müsste es noch möglich sein!‘, meinte einer von beiden.“ Er sei wie elektrisiert gewesen, habe umgehend beschlossen, es auch zu versuchen. Ohne sich von seiner Familie zu verabschieden, habe er das Nötigste gepackt und sich eine Bahnkarte gekauft; genau bei Nauders flüchtete er dann in die Schweiz.

Die Schweiz spielte im Leben von Fred Wander eine ambivalente Rolle – zuerst gewährte sie ihm Asyl auf seiner Flucht nach Paris, als er allerdings nach Hitlers siegreichem „Westfeldzug“ 1942 in die Schweiz zurück flüchtete, wurde er von der Schweizer Polizei interniert und an das Vichy-Regime ausgeliefert. Wieder war er mit dem Zug unterwegs – unter ganz anderen Umständen allerdings. Züge brachten ihn nach Aufenthalten in verschiedenen Internierungslagern in Frankreich schließlich nach Auschwitz.

Insgesamt 13 Konzentrationslager überlebte er – bis er im April 1945 im Lager Buchenwald von der US-Armee befreit wurde. Das Leben und Überleben im Konzentrationslager, den Alltag unter Todesgefahr, dieses – wie Fred Wander es nennt – „besessene Wachsein angesichts der ständig drohenden Auslöschung“ beschreibt er in seinem bedeutendsten Werk, das er erst 1971 veröffentlichte: „Der siebente Brunnen“ setzt den von der Gaskammer, dem Erfrieren, Verhungern und Erhängen bedrohten Mithäftlingen ein literarisches Denkmal. Eine Erkenntnis: Nicht die Starken überlebten, sondern oft scheinbar Schwache, solche, die, geschult durch die Kunst der Beobachtung und des Ausweichens, wussten, wie man dem Furor der „Gestiefelten“ – den SS-Wachtruppen, entkommt. Die waren keine Monstren, wie fälschlich angenommen, sondern ganz normale Deutsche, Söhne von Arbeitern, Bauern und Kleinbürgern.

„Der siebente Brunnen“, benannt nach einer Ode an das Leben von Rabbi Löw aus Prag, ist kein finsteres Buch, sondern ein Bekenntnis zum Leben unter widrigsten Umständen. Das erzählende Ich bewahrt immer eine gewisse Distanz, die aus literarischen und existenziellen Gründen für den Autor offenbar unabdingbar war. Die literarische Distanz ermöglichte dem Autor die notwendige Objektivität, dabei zu sein, ohne direkt zur Hauptperson zu werden. Die existenzielle ermöglicht das Ausblenden von Erinnerungen, die für den Wahrheitsgehalt des Textes unmaßgeblich sind, für Fred Wander als Autor allerdings individuell weggeschoben wurden. Ein Beispiel dafür ist die Tatsache, dass er nie genau erforschen wollte, unter welchen Umständen seine Eltern ermordet wurden.

Nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Buchenwald wollte Fred Wander nach Paris, die Stadt hatte für ihn ihre magische Anziehungskraft bewahrt – Außenseiter wie er fühlten sich dort wohl. In Mannheim wartete er 1945 auf einen Transport nach Paris – der verspätete sich mehr als zwei Tage, Wander machte einen Spaziergang durch die zerbombte Stadt, als er zurückkam, war der Transport bereits abgefahren. „Da begriff ich, dass Paris nicht mein Schicksal sein sollte!“ Und wieder landete er in Wien, keiner aus seiner Familie war mehr hier, alle waren ermordet, nur sein Bruder Otto hatte in Frankreich überlebt.

Die Schicksale der kleinen Leute

Arbeit fand Fred Wander bei einem kommunistischen Boulevardblatt, dem „Abend“. Chefredakteur war Bruno Frei. Der erkannte und förderte Wanders Talent. In seinen Reportagen schilderte Wander die Schicksale der kleinen Leute, wurde langsam im Schreiben geschult. Im Dezember 1952 lernte er Elfriede Brunner, später bekannt als „Maxie“, kennen (sie wird 1977 mit ihren Frauenporträts „Guten Morgen, du Schöne“ bekannt werden). Er trennte sich von seiner ersten Frau.

1955 bekam er ein Literaturstipendium am neu gegründeten Leipziger Literaturinstitut und übersiedelte Ende 1958 in die DDR. Erst 1983 kehrte er nach Wien zurück. Er knüpfte Freundschaften fürs Leben mit Autoren wie Christa Wolf. Obwohl er davon überzeugt war, im „besseren Teil Deutschlands“ zu leben, entgingen ihm die Verdrehung sozialistischer Ideen, die leeren Parolen, die Entmündigungen durch ein auf die Förderung von Jasagern getrimmtes System nicht. Und doch: Während man an seiner Literatur in Österreich nicht interessiert war, hier in der DDR publizierte man ihn, ohne ihn zu zensieren.

Dem „Siebenten Brunnen“ folgte noch eine Reihe weiterer Bücher: „Ein Zimmer in Paris“ – die Erzählung handelt in den 1970er-Jahren mit Rückblenden in die Zeit der Emigration und kehrt wieder in das Frankreich vor der Besatzung zurück, beschreibt das Gefangensein und das Aufbegehren angesichts des herannahenden Faschismus. Wander entwickelt eine „literarische Technik der Beschwörung“. Ähnlich auch in seinem 1991 veröffentlichten Roman „Hotel Baalbek“, der in Marseilles spielt. Auch darin bleibt er seiner Liebe zur Schilderung von Extremsituationen treu. In einer Art apokalyptischem Kaleidoskop tummeln sich Fremdenlegionäre, Antifaschisten, jüdische Schneider und NS-Kollaborateure auf engstem Raum.

Fünf Jahre nach dem Tod von Maxie – 1983 – kehrte Fred Wander mit seiner dritten Frau, Susanne, nach Wien zurück. Als wir uns zuletzt begegneten, an einem kalten Wintertag in Penzing, da zauberte er wieder mit Worten diese „realfiktive Welt“ seiner Wanderjahre herbei, beschwor wie ein jiddischer Zaddik die Freiheit und Schönheit des Lebens im Angesicht der ihm noch verbleibenden Zeit. Ich weiß nicht, warum, aber plötzlich musste ich an eine Passage in seinen „Erinnerungen“ denken; da heißt es: „Ich bin unterwegs, mein Gepäck ist leicht.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.12.2016)

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