Unrettbar – wie das Ich

Vom Untergang der Literatur – und vom Triumph der Poesie.

Seit ich auf der Welt bin, geht die Literatur unter. Das ist ein Vorgang von Dauer, der nicht aufzuhalten ist, wie das Verglühen der Sonne. Ich trage das Meine dazu bei. Was auch immer ich schreibe, dient der Abschaffung der Dichtung. Vielleicht sieht das nicht so aus, weil ich über meine Absichten ja Stillschweigen bewahre. Aber ich bin Teil eines großen Zerstörungswerks, das die Literatur, die sich selbst überlebt hat und deshalb noch weiter existiert, wenn auch im Modus eines kultivierten Untotseins, langsam, fast unmerklich auslöscht.

Gelesen wird Literatur nur noch von Menschen, die vom Lesen und darüber Schreiben leben. Das ist eine Tatsache, die durch das massenhafte Publizieren und Rezensieren von Literatur verschleiert wird. Hier wird ein Betrieb simuliert, der davon lebt, dass sich nur Eingeweihte in ihm tummeln. Die wissen ganz genau, was vor sich geht und sind darauf konzentriert, es nicht nach außen dringen zu lassen.

Die Schweigegelder sind vielleicht nicht hoch, verschaffen aber ein Auskommen und stärken den Status. Denn wir wissen ja alle und beten es nach, was Literatur ist: eine der größten Kulturleistungen. Und in einer untergehenden Kultur stirbt diese Leistung zwangsläufig mit. Das ist kein Kulturpessimismus, das ist eine freudige Erwartung.

Erkenntnis? Ständig auf der Flucht

Vom „Tod des Autors“ war vor Jahrzehnten noch die Rede. Der Autor werde im Murmeln eines anonymen Diskurses einfach untergehen, unter dem Motto: „Wen kümmert's, wer spricht?“ Aber dieser Tod ist nicht eingetreten, ganz im Gegenteil, eine stärkere Personalisierung, es geht immer darum, wer was wie und wo sagt, mit welcher Autorität seiner selbst und desjeweiligen Mediums, das für gewöhnlich kein Buch, sondern ein Massenmedium ist. Die Namen sind entscheidend, die Namen und das Erscheinungsbild. Was wirklich zum Tod verurteilt ist, ist die Literatur. Sie ist unrettbar wie das Ich.

Sollen wir das beklagen? Das liegt uns fern. Die Literatur nach der Moderne lebt davon, die alten Geschichten noch einmal zu erzählen, die vor der Moderne alle zum seligen Einschlafen gebracht haben, und weil sich unbewusst alle an alles erinnern, was jemals erzählt wurde, wollen alle wie Kinder die gleichen Geschichten noch einmal und immer wieder hören. Neue Erkenntnisse verschafft das nicht, das immer schon Gewusste wird aufs Freundlichste bestätigt. Aber die Erkenntnis ist längst aus der Dichtung ausgewandert und anderswo daheim. Unbekannten Aufenthalts. Vielleicht ständig auf der Flucht.

Aber wenn die Literatur auch dahinsiecht und zu schwach zum Sterben ist, so bleibt doch immer noch – die Poesie. Die Poesie ist dieses benannte Unnennbare, das jeder kennt, der sich wünscht, fliegen zu können. Wer sie aber begrifflich fassen möchte, dem löst sie sich beim Sprechen auf. Die Poesie bleibt bei uns, wenn uns alles verlässt, die guten Geister und das gute Geld.

Die Poesie ist tatsächlich unsterblich, sie überlebt die Sonne, weil sie älter ist als sie. Mit der Literatur hat sie weniger zu schaffen, als uns scheinen mag. Poesie ist – mit Friedrich Schlegel – der „Kuss, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang“, sie ist nicht etwas so Profanes wie Kunst, darum auch nicht zu besprechen, nicht auf die Tagesordnung zu setzen, nicht für die Eitelkeitspirouetten der Kunsttaxierer vorgesehen. Und sie gehört auch hier nicht hin. Um die Literatur muss uns nicht leid tun, welche neuen oder alten Medien sie auch immer finden wird in ihrer letzten Schwundstufe. Denn wir können ruhig sein: Gegen die Poesie ist kein Kraut gewachsen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.12.2016)

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