Armenien heute: Als der Ararat verloren ging

Was Kim Kardashian und Charles Aznavour mit dem Genozid am armenischen Volk verbindet. Armenien heute: Nachrichten aus einem Land der Steine – und der Rohbauruinen.

Wird über Armenien gesprochen, folgen meist wenige Assoziationen, die in ihrer Dialektik jedoch sehr weitauseinanderklaffen: Der Genozid der Jungtürken an dem armenischen Volk in den Jahren von 1915 bis 1922 und, um nur ein Beispiel zu nennen, die alternative Metal-Band „System of a Down“, allen voran Leadsänger Serj Tankian. Aber auch Charles Aznavour, der als Schahnur Waghinak Asnawurian in Paris geboren wurde, darf sich in diese Assoziationen reihen. Beide wuchsen in der Diaspora auf und haben immer wieder auf ihre armenischen Wurzeln hingewiesen.

Natürlich werden in diesem Kontext auch die Kardashians genannt, allen voran Kim Kardashian-West. Die Popkultur-Familie besuchte Jerewan vor zwei Jahren, wie mir Chris Bohjalian, ein US-amerikanischer Autor mit armenischen Wurzeln, beim jüngsten Literary Ark Festival, dem jährlich stattfindenden internationalen Literaturfestival in Armeniens Hauptstadt, bestätigte. Chris Bohjalian steht hier exemplarisch für einen der rund drei Millionen Menschen, die sich als Armenier definieren, aber nicht in Armenien leben oder nie dort gelebt haben und zum Teil nicht oder nur partiell die armenische Sprache beherrschen.

So auch der Romancier aus Vermont, der mit „The Sandcastle Girls“ (erschienen im Doubleday Verlag) im angloamerikanischen Raum einen veritablen Verkaufserfolg verzeichnen konnte und in allen wichtigen Feuilletons der USA und Großbritanniens besprochen wurde. Der Roman greift ein Genozid-Schicksal auf und verankert die Geschichte vorwiegend in der syrischen Stadt Aleppo, wohin nach 1915 Hunderttausende Armenier geflohen waren, um dem sicheren Tod durch die Jungtürken zu entkommen. Der Handlungsort Aleppo war in jüngster Zeit vor allem durch den andauernden Syrienkrieg in den öffentlichen Fokus gerückt.

In dem Roman „The Sandcastle Girls“ (das Werk wurde bislang nicht ins Deutsche übersetzt) werden wir daran erinnert, dass Syrien während des Ersten Weltkriegs eine zentrale Rolle als Fluchtort für das vertriebene armenische Volk spielte und in Aleppo Tausende verwaiste Kinder aufgenommen wurden. Eine ganze elternlose Generation wuchs nach dem Völkermord in der Diaspora in Syrien und auch in Nordamerika heran: Die Zahl der verwaisten armenischen Kinder wird auf mehrere Hunderttausend geschätzt.

Armenien ist eines der Länder, die sich manchem Betrachter erst nach dem Aufenthalt erschließen. Zumindest erging es mir so. Diesem Umstand verdanke ich eine beglückende Nachbetrachtung, eine, die anhaltend ist und kleine Mysterien birgt. Eine Frage, die mir nicht beantwortbar erscheint, tut sich in diesen Nachbetrachtungen auf: Habe ich den Berg Ararat, das Nationalsymbol der Armenier, während meines Aufenthalts in Armenien gesehen – oder nicht? Ich versuche zu rekonstruieren. Hat sich mir der schneebedeckte Ararat während der Reise tatsächlichgezeigt, oder wünschte ich mir das nur? Oder habe ich ihn zwar gesehen, aber einfach nicht wahrgenommen und so die Erinnerung daran nicht abgespeichert?

Recherchen ergeben, dass auf jedem Bild, das Jerewan auf Prospekten, Plakaten, in Reiseführern und im virtuellen Netzzeigt, eindeutig der heilige Berg der Armenier im Hintergrund zu erkennen ist, und zwar so explizit sichtbar, dass man geneigt ist, an Fotomontage zu denken. Unabhängig von Jahreszeit und Blickrichtung thront er da, der Ararat. In diesen klaren und scharfen Umrissen, wie das Bergmassiv mit seinen zwei Hauptgipfeln von allen Fotos leuchtet, kann das nicht ganz der Realität entsprechen.

Der Ararat, wie weite Gebiete im Westen des ursprünglichen armenischen Territoriums, wurde vor 100 Jahren von den Jungtürken einverleibt und so zu türkischem Staatsgebiet. Die Hauptstadt Jerewan, eine der ältesten Städte der Welt, und das Araratmassiv trennen heute die türkische Staatsgrenze und rund 50 Kilometer fruchtbare Ebene. Entlang der gesamten türkisch-armenischen Staatsgrenze sind Grenzübertritte nicht erlaubt. Das Araratmassiv ist von Armenien aus nicht zugänglich und nur auf großem Umweg über das nördliche Nachbarland Georgien respektive über einen ebenso großen Umweg im Süden über den Iran zu erreichen. Die theoretische Wegstrecke würde sich jeweils auf die 14-fache Distanz ausweiten. Das Unsichtbare wird also dort sichtbar, wo jahrhundertelange Verwurzelung und Zwangsentkoppelung untrennbar miteinander verbunden sind und das greifbar Nahe in weite Ferne rückt.

Tatsächlich ist das Vulkanmassiv in seiner eindeutigen Dimension vorwiegend an klaren Herbstmorgen zu sehen, bevor sich möglicher Smog und Nebeldunst über der Stadt ausbreiten. Der Ararat bleibt das Nationalsymbol der Armenier, und als solches wird er konsequent in die Wahrnehmung montiert. Die Landesflagge zeigt den heiligen Berg samt den Umrissen der Arche Noah, die laut Bibel ebendort, auf urchristlichem Territorium, gelandet sein soll. So sichtbar der Berg mit den Armeniern seit je historisch verbunden war und ist, meinem Auge bleibt er verborgen. Eine Leerstelle auch. Das Sichtbare im Unsichtbaren.

Was im Land der Steine und der Rohbauruinen aus jüngster Zeit jedoch nicht nur sichtbar, sondern geradezu körperlich spürbar ist, sind die Auswirkungen des Genozids an den Armeniern in den Jahren von 1915 bis 1922. Nach einer nur wenige Monate dauernden anschließenden Unabhängigkeit wurde das Land von der damals frisch gegründeten Sowjetunion einverleibt. Diese Tragiken haben sich in jedem einzelnen Bewohner des Landes nachhaltig manifestiert. Dies geschieht bewusst und unbewusst zugleich. Für mehrere Generationen war dieses TraumaMotor des Landes und hat seinen Rhythmus mitbestimmt. Eine gigantische Wunde klafft da, eine Wunde, die nicht geschlossen werden kann. Diese Wunde von rund eineinhalb Millionen getöteter Armenier.

Zwei zentrale Bilder tun sich in der Auseinandersetzung mit Armenien für den Betrachter auf: der Ararat (weiterhin für mich unsichtbar) und der Genozid (sichtbar). Obwohl die Auswirkungen des Genozids auf den Einzelnen nicht gegenständlich abgebildet werden können, zeigt sich der Völkermord als das Sichtbare im Unsichtbaren. Imagination (als Rückschau vom Heute in das Jahr 1915) und Manifestation bilden eine Einheit, werden zur Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, die von der Türkei weiterhin rigoros ignoriert wird.

Das Genozid-Mahnmal Tsitsernakaberd (Schwalbenfestung) auf dem gleichnamigen Hügel im Norden Jerewans dokumentiert die einschneidenden Ereignisse in der Geschichte der Armenier. Der Genozid und seine verheerenden Auswirkungen haben ein nachhaltiges, starres Prinzip evoziert, ein Prinzip der Unbeweglichkeit. Die anschließende, fast 70-jährige Fremdherrschaft durch die UdSSR hat dieses Prinzip noch verstärkt. Relativ konfliktfrei wurde 1991 die Armenische Republik nach dem Zerfall der sowjetischen Großmacht ausgerufen und Lewon Ter-Petrosjan als erster Präsident ins Amt gewählt. Auch Ter-Petrosjan wurde, wie viele Nachkommen der Überlebenden des Völkermordes, im syrischen Aleppo geboren.

International wird das Verbrechen an dem armenischen Volk auch durch die Anti-Völkermord-Konvention von vielen Staaten anerkannt (Österreich und Deutschland unterzeichneten diese Konvention 2015), andererseits wird es aber auch nicht angetastet. Die Wunde wird zwar wahrgenommen, aber nicht berührt und versorgt. Damit wird Armenien zumindest ein Stück weit gezwungen, weiterhin im Prinzip der Starre zu verharren. Und trotzdem, die notwendige Beweglichkeit, die das Land dringend braucht, um dieses 100-jährige Trauma zu durchbrechen, muss von innen heraus, aus armenischer Kraft kommen. Politische und wirtschaftliche Isolation erschweren diesen Umbruch, um das semiautoritär geführte Land aus der Resignation zu führen. Im Herbst des Vorjahres hat sich Armenien durch einen Wirtschaftspakt weiter an Putins Russland gebunden.

Dass Armenien mit Georgien das einzige christliche Territorium am Brandherd Kaukasus hält, macht die Lage nicht gerade einfacher. Die Auseinandersetzung mit Aserbaidschan um Gebietsansprüche am Berg Karabach rücken die Region immer wieder international in den Fokus. Bessere Infrastruktur und Energiegewinnung bleiben zentrale Themen, die eng mit einem wirtschaftlichen Aufschwung verbunden wären. Armeniens Stromversorgung bleibt ein Sorgenkind und hält nachts weite Straßenzüge in der Hauptstadt Jerewan im Halbdunkel. Diese nächtlichen Einsparungsmaßnahmen, die dunklen Straßen, fanden mehrfach Einzug in Gedichte und Geschichten.

Seit einigen Jahren wird armenische Literatur, vorwiegend Gegenwartsliteratur, in kleineren und größeren Anstrengungen nach Europa getragen und unter anderem in die deutsche Sprache übersetzt. Aber wie lässt sich heute armenische Literatur abbilden?

Über die Unmöglichkeit, zeitgenössische armenische Literatur als Begrifflichkeit festzumachen, schreiben auch die in Frankreich lebenden Autoren Anahit Vanetissian und Mkrtich Matevossian in einem Artikel für die Plattform „Transcript“: „Ein Armenier wird bei der Definition weit ausholen und mit der Entstehung des Alphabetes im fünften Jahrhundert beginnen“, schreibt hierVanetissian und macht damit auch deutlich, wie sehr sich Armenier mit kulturhistorischen Bezügen identifizieren. Einen Querschnitt armenischer Literatur zeigen zum Beispiel die Anthologie „Bitte Regen! Neue armenische Literatur“, herausgegeben von Herbert Maurer (Edition Diwan im Wieser Verlag), und die Grazer Literaturzeitschrift „Lichtungen“ (Heft 132), um nur einige dieser Bemühungen zur Wahrnehmung zeitgenössischer armenischer Lyrik zu nennen. In Kooperation mit dem Friedrich-Bödecker-Kreis in Sachsen-Anhalt entstand die Anthologie „Zeitgenössische armenische Lyrik“ (Apollon Verlag, Jerewan).

Während ich die letzten Zeilen dieses Textes schreibe, bestätigt mir ein armenischer Schriftstellerkollege bei einem Besuch in Tsaghkadzor (das wörtlich übersetzte „Tal der Blumen“ liegt in der Mitte des Landes), dass ich bei meinem jüngsten Armenienaufenthalt den Berg Ararat tatsächlich nicht sehen konnte – wegen des Dunstes, der über der Stadt hing. So bleibt am Ende das Gegenständliche, der heilige Berg, unsichtbar und die große Wunde, der Genozid, weiterhin spürbar. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.06.2017)

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