Riccardo Muti: „Verdi liebte für alle von uns“

„Meistens wird ,Aida‘ wie ein großer Zirkus aufgeführt. Doch der Großteil dieser Oper ist ein sehr intimes Stück.“ Riccardo Muti über seine Salzburger Verdi-Produktion, Komponieren nach Flaschenetikett, Anton Bruckner und Elefanten auf der Bühne.

Maestro Muti, nach „La traviata“, „Otello“, „Macbeth“, „Nabucco“ und „Ernani“ ist „Aida“ die mittlerweile schon sechste Verdi-Oper, die Sie bei den Salzburger Festspielen dirigieren. Wie ist es dazu gekommen?


Ich habe einen Großteil meines Lebens Mozart und Verdi gewidmet. Meine erste Verdi-Oper dirigierte ich beim Maggio Musicale in Florenz: „I masnadieri“. Seit damals habe ich viele Verdi-Opern dirigiert. Ich hoffe, dass ich im Laufe meines Lebens alle Verdi-Opern aufführen kann. „Aida“ galt meine erste Opernaufnahme, dafür hatte ich eine hervorragende Besetzung mit Montserrat Caballé, Fiorenza Cossotto, Piero Cappuccilli, Nicolai Ghiaurov und Plácido Domingo. Nicola Martinucci sang den Boten – man muss sich das einmal vorstellen. Aber Verdi sagte, selbst eine kleine Phrase verlangt nach einem bedeutenden Sänger. Bei ihm geht es nicht um große oder kleine Partien, sondern um große und kleine Stimmen.

„Aida“ war nicht nur meine erste Aufnahme, sie zählt mittlerweile zu den 100 historischen Platten von EMI. Die Einspielung kam unmittelbar nach meiner ersten Aufführung von „Aida“ an der Wiener Staatsoper heraus, das war 1973. Eingeladen für diese „Aida“-Neuproduktion wurde ich vom damaligen Staatsoperndirektor, Rudolf Gamsjäger.


Für dieses Staatsoperndebüt hatten Sie eine prominente Besetzung.


Gwyneth Jones sang die Titelpartie, Plácido Domingo den Radames. Ich erinnere mich, dass ich insgesamt 16 Aufführungen dirigierte. „Aida“ dirigierte ich auch an der Bayerischen Staatsoper München, wieder mit Domingo, aber mit Anna Tomowa-Sintow in der Titelpartie und Brigitte Fassbaender als Amneris, dann in London, in Covent Garden, erneut mit Domingo und mit Fiorenza Cossotto, schließlich in Florenz. Seither habe ich „Aida“ nicht mehr dirigiert. Wie für „Don Carlos“ benötigt man eine fantastische Besetzung, selbst der Bote muss eine sehr lyrische Stimme haben und sich auf den charakteristischen Verdi-Akzent verstehen.


Und wie ist es mit der Inszenierung?


Ich bin ein Gegner von all diesen plakativen Inszenierungen mit Elefanten und Ausstattungen, die an Walt Disney erinnern. Meistens wird „Aida“ wie ein großer Zirkus aufgeführt. Der zweite Teil des zweiten Aktes ist ein Triumph, aber der Rest der Oper ist ein sehr intimes Stück mit ein, zwei oder drei Personen. Die Partitur ist extrem delikat und raffiniert. Leider starb Strehler, wir wollten „Aida“ gemeinsam an der Scala machen. Er sagte immer, der Triumph spiele sich in der Musik ab, da bedürfe es nicht zusätzlicher Zutaten auf der Bühne wie Palmen, Schlangen und Ähnlichem.


Warum haben Sie sich trotz dieser Bedenken entschieden, „Aida“ in Salzburg zu dirigieren?


Als mir Intendant Hinterhäuser für diesen Sommer „Aida“ vorschlug, zögerte ich. Ich wollte keine szenischen Opern mehr machen, denn ich habe in der Vergangenheit mit so vielen großen Regisseuren gearbeitet. Allein neun Produktionen an der Scala mit Luca Ronconi. Ich mag keine Regisseure, die komplizierte neue Geschichten gegen die Musik erfinden oder sie zerstören, ich habe es lieber traditionell. Schönberg schrieb einmal Kandinsky, wenn die Bühne die Aufmerksamkeit zu sehr ablenkt, dann ist sie falsch und hilft nicht dem Verständnis der Musik. Das kommt von Schönberg, und ihm kann man sicher nicht vorwerfen, dass er Traditionalist ist.


Bei den Festspielen werden Sie mit einer besonderen Regisseurin arbeiten, mit der aus dem Iran stammenden, in den Vereinigten Staaten lebenden Filmregisseurin Shirin Neshat. Wie kam es dazu?


Als mir Hinterhäuser Shirin Neshat für die Inszenierung vorschlug, kannte ich ihr Werk,aber nicht sie persönlich. Doch schon bei unserem ersten Treffen waren wir uns über die besondere Aktualität dieses Stoffes einig. In „Aida“ geht es um Emigranten, um Konflikte zwischen verschiedenen Religionen, Rassen, Kulturen, alles Themen, welche die heutige Welt bewegen. „Aida“ bekommt eine immer größere Aktualität.


Was steht für Sie im Zentrum von „Aida“?


Das eigentliche Thema in „Aida“ ist die Interpretation des Verhältnisses von Aida und Amneris. Nach außen hin ist es eine Geschichte von Liebe und Eifersucht, aber das ist weniger wichtig. Beide lieben Radames, er aber hat sich zu entscheiden zwischen zwei verschiedenen Kräften: auf der einen Seite der äthiopischen Königstochter Aida, einer Sklavin, auf der anderen Amneris, der Tochter eines Pharaos. Es geht um Liebe zwischen zwei verschiedenen Kulturen und zwei unterschiedlichen Religionen. Wir hoffen, dass wir das mit unserer Arbeit herausstreichen und damit wieder auf die eigentliche Substanz der Oper hinweisen können. Denn „Aida“ ist keine Oper der Pharaonen, vielmehr ein intimes Stück, eine Kammeroper.


Gibt es diese besondere Situation von Aida, Radames und Amneris nicht auch schon in Mozarts „Idomeneo“, bei Ilia, Idamante und Elettra?


Das ist richtig.


Wie würden Sie „Aida“ generell charakterisieren: eine Mischung aus italienischem Melodramma und französischer Oper, eine Antwort auf die Grand opéra eines Giacomo Meyerbeer, wenn man an das Ballett denkt – oder führen solche Einschätzungen nicht weiter?


Natürlich kann man überlegen, „Aida“ als Grand opéra zu sehen. Ich würde aber keinen Vergleich mit Meyerbeer anstellen. „Aida“ ist eine der Opern in jenem Prozess, der Verdi von seiner ersten zu seiner letzten Oper führt. Interessant an „Aida“ sind die Farben des Orchesters und Verdis Fähigkeit und Talent, Atmosphären wie den Nil oder eine ägyptische Nacht zu kreieren, ohne jemals in Ägypten gewesen zu sein. Darin drückt sich Genie aus. Ähnliches finden wir bei Debussy, in „Les collines d'Anacapri“ ausdem ersten Band seiner Klavier-Préludes. Debussy war nie auf Capri. Er hat sich vom Etikett eines Weins aus Capri zu diesem fantastischen Stück inspirieren lassen.

Diese Beispiele zeigen, dass Musik keine Beschreibung ist, vielmehr eine Beschwörung, ein Wachrufen von Gefühlen und Atmosphären. In „Aida“ beschwört Verdi diese Atmosphären, aber nicht in Art einer Ansichtskarte, sondern auf sehr profunde Weise. Bei Puccini, in „Madama Butterfly“ oder „Turandot“, hört man diese japanischen und chinesischen Klänge. Die Atmosphäre ist schön, aber es wirkt immer etwas artifiziell. Verdi hingegen ist immer er selbst, egal, welche Stimmlage er benutzt. Er spricht in jeder Komposition über sich. Gabriele D'Annunzio brachte es meisterhaft auf den Punkt, als er sagte, er schrie und liebte für alle von uns. In „Aida“ schildert er seine Gefühle und seine Sicht vom Traum dieser magischen Welt des Nahen Ostens. Im Triumph kann man alle diese exotischen Elemente hören. Aber das ist nur der zweite Teil des zweiten Aktes, eine Grandiosität, die diesem besonderen Anlass, der Suezkanal-Eröffnung, geschuldet ist. Der Rest der Oper ist sehr intim.


Wenn Sie „Aida“ mit den übrigen Verdi-Opern vergleichen . . .


Ich vergleiche nicht, Verdi war von seinen ersten Opern an Verdi. Was sich geändert hat, sind die Farben: „Aida“ ist komplett impressionistisch im Vergleich zu „Don Carlos“: „Don Carlos“ weist wieder andere Farben auf als „Otello“ und „Falstaff“. Wenn Amonasro in „Aida“ von seinem Staat träumt, sind das die Gedanken Verdis über Italien. Er gestaltet Phrasen genau so, wie man in Italien spricht, das zeichnet auch seine Rezitative aus.


Steht Ihnen in Salzburg eine Wunschbesetzung zur Verfügung?


Wir haben sehr gute Sänger, sie sind alle Individualisten, sie haben mit mir gearbeitet, sind auch gemeinsam aufgetreten und haben die Stimmen, um diese Oper mit richtigen Farben zu singen. Man kann immer kritisieren, aber ich bin überzeugt: Wir haben dafür die besten Sänger der Welt.


Sie sind also glücklich?


Ob ich glücklich bin, werde ich nachher sehen! (lacht) Ich hoffe, dass unsere Botschaft das Publikum erreicht. Ich vergesse niemals die Vergangenheit. Karajan machte eine wundervolle „Aida“ in Salzburg, und diese Produktion ist die erste nach ihm. Es gibt aber auch eine große „Aida“-Tradition in Italien durch Dirigenten wie Toscanini, Serafin und meinen Lehrer Antonino Votto. Wir werden eine möglichst natürliche Darstellung versuchen.


Ihre jüngsten Einspielungen gelten Bruckner, der zweiten Symphonie mit den Wiener Philharmonikern, einem Live-Mitschnitt von den vorjährigen Salzburger Festspielen und der Neunten. Auch sie wurde live aufgenommen, aber mit dem Chicago Symphony Orchestra.


Bruckner hat mich von Beginn meiner Karriere an interessiert. Zu meinen frühesten Einspielungen zählen Aufnahmen der vierten und sechsten Symphonie mit den Berliner Philharmonikern. Ich habe eine große Bewunderung für diesen Meister der Kathedrale in der Musik. Ich will es nicht als Definition seiner Musik verstanden wissen, aber man kann sie als eine Art barocke Romantik sehen. Man spürt, diese Musik kommt von einem Organisten, von der Improvisation, auch wenn alles im Detail genau strukturiert ist. Sie strahlt eine Apotheose der Würde aus. Im Übrigen teile ich nicht die Ansicht, bei Bruckner wären Sätze und Passagen zu lang. Ich sehe das als Teil seiner Persönlichkeit, als einen Ausdruck der Visionen eines Menschen mit einem weiten Horizont. Was wir bei Schuberts großer C-Dur-Symphonie finden, das zeichnet auch die Bruckner-Symphonien aus: Größe. Wenn man mit einer Bruckner-Symphonie beginnt, einem Tremolo, einer rhythmischen Figur, dann das erste Thema, ist darin schon der Keim des gesamten Werks enthalten, der zu einer riesengroßen Blume wächst.

Im Dezember werden Sie die Neunte erstmals in Wien dirigieren, mit den Wiener Philharmonikern. Vor allem der letzte Satz wirft zahlreiche Fragen auf, etwa durch seine oft unbestimmte Harmonik.


Das ist typisch für einen Organisten, dass die Modulationen unvorhersehbar sind. Aber dieses „Les Adieux“ weist nicht nur harmonisch in die Zukunft, seine Spiritualität ist eine Art Abschied, und dieser mystische Inhalt rechtfertigt auch, weshalb Bruckner sich als vierten Satz für diese Symphonie sein „Te Deum“ gewünscht hat.


Im Musikverein kombinieren Sie diese Neunte aber mit einer Haydn-Symphonie.


Wie bei Schuberts „Unvollendeter“ fordert auch dieser Bruckner vom Publikum danach Stille und Meditation. ■

Riccardo Muti: Zur Person

Geboren 1941 in Neapel, Ausbildung zum Pianistenin seiner Geburtsstadt, Kompositions- und Dirigierstudium am Mailänder Verdi-Konservatorium. 1971, auf Einladung Herbert von Karajans, erster Auftritt bei den Salzburger Festspielen, seither regelmäßig an der Salzach zu Gast, heuer mit Verdis „Aida“ im Großen Festspielhaus.

Premiere: 6. August. Unter der Regie von Shirin Neshat singen unter anderem Anna Netrebko (Aida), Ekaterina Semenchuk (Amneris), Francesco Meli (Radamès) und Luca Salsi (Amonasro). Es spielen die Wiener Philharmoniker.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.07.2017)

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