Josef Winkler: Das einfache Leben

„Das heimelt an. Das riecht nach Welt.“ Peter Roseggers Geburtshaus in der „Waldheimat“, Alpl, Steiermark.
„Das heimelt an. Das riecht nach Welt.“ Peter Roseggers Geburtshaus in der „Waldheimat“, Alpl, Steiermark.(c) Wolfram Strohschein
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Wenn du von vorne beginnst. Wenn von deinen Armen die Ketten abfallen. Wenn du plötzlich frei bist. Rückzug in einen kleinen Bergbauernhof: beim Lesen des Romans „Weltgift“ von Peter Rosegger.

Roseggers sozial- und kapitalismuskritischer, homoerotischer Roman „Weltgift“ (1901) war lange Zeit vergriffen, unbeachtet, verschollen. Im Septime Verlag, Wien, ist das Werk nun in Neuauflage herausgekommen.


In seinem Fabrikkomplex stellte der Vater des achtunddreißigjährigen Hadrian Hausler, ein schwerreicher Industrieller, ständig neue Dampfmaschinen auf, baute neue Schlote, dass die Sonne am Himmel nur mehr als schmutzige rote Scheibe zu sehen war. Diese Schlote standen, wie es im Roman „Weltgift“ von Peter Rosegger heißt, wie Riesenstifte ins schmutzige Morgenrot hinein. Der Vater,Guido Hausler, nannte seine Arbeiter die „Bestien“. Hadrian war das einzige Kind der Familie, die schwer kranke Mutter starb früh auf der griechischen Insel Korfu. Hadrian glaubte, das Geld wäre zum Leben da, aber sein Vater war der Meinung, dass man leben müsse, um Geld zu machen. Die langwierigen Geschäftsreisen durch Italien, dieSchweiz, Frankreich, England und Russland entmenschlichten ihn, er „vertierte“, wie er sich ausdrückte, kehrte von jeder Reise als gebrochener Mensch zurück.

Die Leute beneideten den Millionärssohn um seinen Luxus, aber Hadrian hatte Sehnsucht nach einem einfachen und bescheidenen Leben und rechnete in der Buchhaltung der Kanzlei die Tausender genauso gleichgültig wie die Hunderter oder die Zehner, während ihm sein die „Bestien“ ausbeutender Vater zu verstehen gab, dass „Gold nicht nur die Herzen, sondern auch die Nerven härtet“, und sich die Arbeiter beklagten, dass sie wie Tiere arbeiten müssten und zum Essen nur Milchsuppe und Erdäpfel bekämen. Als Hadrian einmal die Gelegenheit hatte, in die schlichten Stuben der Arbeiter, besonders einer Wäscherfamilie, zu blicken, fühlte er sich als ihresgleichen und fand es in der dürftigen Behausung der „Bestien“ weitaus heimeliger als in den prächtigen Räumen seines väterlichen Herrenhauses, wo der Diener auf einem silbernen Tablett die Post brachte. Als er danach in der Stadt seinen Vater und seine Freundin Helene in einem eleganten Wagen „fast lautlos“ dahinrollen sah, hätte er das ungleiche Paar, wie er es nannte, am liebsten erdrosselt.

Eines Tages eröffnete ihm der Vater, dass er ihn als Kompagnon in seinem Betrieb anstellen werde, da er die Last und Verantwortung der kaufmännischen Obliegenheiten nicht mehr alleine tragen wolle. „Hausler & Sohn“ sollte von nun an die Firma heißen. Als sich der Sohn diesem Ansinnenverweigerte, warf ihm der Vater vor, dass er nicht arbeite und seine „Moralanfälle“, besonders wenn er sich für die ausgebeuteten Arbeiter einsetzte, nur Ausflüchte seien,nicht arbeiten zu müssen. Der Vater gestand schließlich seinem Sohn, dass er seinen ganzen „Plunder“ an eine Aktiengesellschaft verkaufen, ein Landgut erwerben und sich mit seiner Freundin Helene auf den Ruhesitz zurückziehen möchte, worauf ihn Hadrian verhöhnte und seinem Vater ins Gesicht sagte: „Na also! Endlich wär's heraus! Dahin geht's. Deshalb sollen Bauern betrogen werden. Darum wird einer gesucht, der die Last und Verantwortung trägt. Damit der Herr mit der Zote ein vergnügtes Leben führen kann. Ich gratuliere!“

Am darauffolgenden Tag ließ der Vater seinen Sohn um die Mittagsstunde ins Büro kommen. Er empfing ihn schweigend und feierlich, legte ihm ein Schriftstück vor, das er zu unterschreiben hatte. Hadrian wurde von seinem Vater enterbt. Den Pflichtteil, so der Vater, könne er sich beim Notar Dr. Kerbholz abholen, für ein Leben in Saus und Braus reiche es immer noch. Die beiden Männer, Vater und Sohn, verneigten sich schauspielerisch voreinander und zogen sich zurück, der eine hinter seinen Büroschreibtisch, der andere ging durch eine Tür, die direkt zu einer Freitreppe führte. Der enterbte Hadrian quartierte sich in einem Hotel ein und schrieb in sein Tagebuch: „Heute endlich bin ich gestorben – und neu geboren!“ Hadrian feierte seine Wiedergeburt ganz alleine mit Sekt auf den roten Samtmöbeln im Hotelzimmer. Er fandsich erlöst und frei.

Und so beginnt auch der Roman „Weltgift“ von Peter Rosegger: „Heute endlich bin ich gestorben.“ – „Mit dieser Neuigkeit beginnen die Aufzeichnungen eines Mannes, der nach seinem Tod ein Leben anfing, so wunderlich und heillos, dass man darüber ein Buch schreiben muss. Es wird geschrieben aufgrund und mit teilweiser Benutzung vorhandenerBlätter.“ – Und: „Es hat Mühe gekostet, bis ich so anständig wurde, dass mein Vater mich enterbt hat. Nun ist es aus. Ich schließe die alte Buchhaltung, um eine neue zu beginnen. Eine ohne Haben und mit viel Soll.“ Hadrian ließ die Pferde satteln, zwei braune Magyaren. Die ungeduldigen Hengste wurden an einen neuen Landauer gespannt, eine viersitzige, vierrädrige und an beiden Achsen gefederte Kutsche mit zwei gegenüber und parallel angeordneten Sitzbänken, mit einem schweren Lederkoffer und mit einem wohlhabenden jungen Mann beladen, mit dem achtunddreißigjährigen Sohn des schwerreichen Industriellen Guido Hausler.

Der Kutscher: ein ehemaliger Stallknecht,ein kleiner, rundlicher Bursche mit gelocktem, kastanienbraunem Haar. Wenn er seinen Kopf schüttelte, „schlug das Gelocke wie ein Pendel hin und her“. Er war kaum achtzehn Jahre alt, hatte ein rundes, weißes Gesicht und etwas „Mädchenhaftes“, wie es im Roman „Weltgift“ von Peter Rosegger heißt, und es „blieb nicht viel Kohlenstaub kleben an seinen Wangen“. Anstatt ihn mit seinem wirklichen Namen, Sabin, anzusprechen, nannte man ihn „Saberl“, er wurde auch „Tschapperl“ genannt. Auf dem Kutschbock sitzend, die Leitriemen über den Rücken der Pferde schlängelnd, trug Sabin einen grauen Anzug und am Filzhut eine Feder. „Aber du musst nicht fragen, Saberl, wohin wir fahren“, sagte sein neuer Brotgeber. „So ist's recht, Saberl. Nicht fragen, nur wagen.“ Und so kam es dann auch. Vorwärts hieß es immer wieder, vorwärts. Und sie fuhren, wie man so sagt, ins Blaue, über Berg und Tal.

Noch nie hatte sich Hadrian so glücklich gefühlt wie in dieser Ungewissheit, sie waren gespannt und neugierig, was ihnen die nächsten Stunden und Tage bringen würden. Der altkluge Sabin, ein Waisenkind, zu dem sich Hadrian mehr und mehr hingezogen fühlte, sagte einmal am Anfang ihrer gemeinsamen Reise: „Sieben Sachen soll der Mensch haben. Meine Kirchnermutter selig, die hat allemal gesagt, bevor ich in die Schule gegangen bin: ,Hast deine sieben Sachen?‘ Und jetzt hab ich nur sechs mit. Und weiß nit, was mir fehlt!“ Nichts fehlte ihnen, sie fuhren wochenlang mit ihren sechs, sieben Sachen und mit Hadrians Landauer auf Gummirädern dahin, gezogen von den beiden braunen Magyaren, vorbei an der Eisenbahn mit ihren endlosen Güterzügen, mit ihren fliegenden Eilzügen, mit ihren Drähten, wie es im Roman „Weltgift“ heißt, in denen die Weltereignisse, die Börsenberichte und Selbstmordanzeigen von Land zu Land zuckten, und übernachteten einmal getrennt, einmal gemeinsam in den Stuben der Einkehrhäuser, wo Hadrian sein Tagebuch führte.

Hadrian Hausler kaufte sich das Schloss Finkenstein mitsamt der großen Wirtschaft,das sie auf ihren Fahrten entdeckt hatten. „Meine lieben Rösserln“, sagte der stolze Saberl zu seinen beiden braunen Magyaren, „jetzt sind wir eine Schlossherrschaft!“ Den Herrn Hausler, den er „Herr von Finkenstein“nannte und der sich selber stolz und ironisch als „Herrn von und auf Finkenstein“bezeichnete, bat der junge Saberl, die Berufsbezeichnung „Stallknecht“ tragen zu dürfen, aber der Herr von und auf Finkenstein beförderte ihn an Ort und Stelle zum „Stallmeister von Finkenstein“. Der Verwalter Lebrecht Frang, der die Landwirtschaft auf Schloss Finkenstein zu verantworten hatte,sorgte für den Viehstand, kaufte ringsum von den Bauernhöfen Kühe, Ochsen und Stiere, Schweine und Hühner und stellte eine größere Anzahl von Dienstboten und Tagelöhnern ein: „Da waren zwei Ungarn mit flatternden Linnenhosen und aufgeringelten Filzhüten. Da waren drei ,Katzelmacher‘ aus Welschland mit grobzwilchigen Joppen und schwarzbärtigen Gesichtern. Da war eine Zigeunerfamilie, wovon das Weib einen verschlissenen Berghalterrock und der Mann einen narbenreichen Seidenzylinder trug. Die braune Tochter mit dem glänzend schwarzen Haar kaute den ganzen Tag Tabak, zwei halb nackte Kinder huschten im Hof herum und suchten Zigarrenstümpfchenoder bettelten den alten Simon an um Pfeifensatz.“ Der Gutsbesitzer Hadrian schaute zufrieden auf die weiblichen und männlichen Arbeiter auf den Schachbrettfeldern, die sich, wie es im Roman „Weltgift“ heißt, milbenartig bewegten, und beobachtete als stolzer Feld- und Wiesenherr die Feldfeuer der Hirten mit ihren schneckenartig hinkriechenden Erntewagen.

Aber der weltfremde MillionärssohnHadrian Hausler wurde von seiner Vergangenheit eingeholt. Er musste nun zusehen, wie sein Verwalter Lebrecht Frang, der eifersüchtig war, weil sein Herr mit dem jungen Stallknecht Saberl einen besonders auffällig freundschaftlichen Umgang pflegte, ähnlich mit dem Gesinde umging wie sein Vater mit den Arbeitern im Fabrikkomplex, die der Alte einst die „Bestien“ genannt hatte. „Menschl!“, sagte einmal ein schnauzbärtiger Knecht zu einer jungen Magd und stiftete sie an, dem Verwalter Frang mitzuteilen, dass der „Milchbrei die Wassersucht“ habe, dass es sich nur um einen gehaltlosen, wässrigen Brei handle, für den das Gesinde schwer auf Feld, Wiesen und im Wald arbeiten müsse.

Hadrian, der seine Aufmerksamkeit nichtdem schwer überschaubaren Hofgeschehen,sondern vor allem dem jungen Stallmeister von Finkenstein widmete, der wiederum seinen beiden Pferden, den braunen Magyaren,besonders zugetan war und dem, als er seinen Herrn einmal fragte: „Was habt ihr mit mir?“, diese Zuneigung immer unheimlicherwurde, während der liebestrunkene Hadrian eine „wunderbare Regung empfand“, wenn er sich dem Jungen näherte und, wie es im Roman „Weltgift“ heißt, auf der Hut sein musste, um ihn nicht zu umarmen und abzuküssen – Hadrian also beklagte sich in seinem Tagebuch: „Die Pferde zieht er vor. Ich bin ihm weniger als ein Tier. Der einzigeMensch, den ich lieb habe auf der Welt. Und darf ihm's nicht sagen. Ich will ihn zwingen, dass er mich lieb hat.“

Der achtzehnjährige Sabin, der vomVerwalter Frang verächtlich als „Strick“ bezeichnet wurde, fühlte sich wohl von Hadrian bedrängt und verließ eines Nachts heimlich den Hof. Hadrian fand ihn nach langer Suche in der Bergwelt auf einem anderen Anwesen wieder und überredete ihn, zurückzukehren aufs Schloss Finkenstein. Zur Buße für die Schandtat, sich seinem Herrn verweigert zu haben und geflohen zu sein unter dem freien Sternenzelt bei Nacht und Nebel, musste Saberl die Haare schneiden lassen. „Nur an der Stirn stand ein Schöpfchen auf, wohl damit der strafende Engel angreifen könne.“ Hadrian Hausler machte nun seinen jungen Stallmeister Saberl zum Miteigentümer des Schlosses Finkenstein, der von nun an stolz den Namen Sabin Hausler tragen durfte. Der Verwalter Frang, der kurz und knapp davon informiert wurde, verbeugte sich unterwürfig vor seinem neuen Herrn, vor dem ehemaligen Stallmeister Saberl.

Hadrian Hausler fand das Landvolkschrecklich ungebildet, beklagte sich, dass die Bevölkerung der schönen Bergwelt keinen Kunstsinn und außer den rohen Heiligenbildern nichts habe. Er gründete mit dem Personal von Schloss Finkenstein eine Theatergruppe, die ein religiöses Stück, ein „Paradiesspiel“, aufführte, mit Adam und Eva und einem Engel, der weiße Hosen trug, ein Stück, bei dem sich aber der Verwalter Frang vom Schauspieler Saberl verhöhnt fühlte und bei dem es zu einem heftigen Streit, aber schließlich doch wieder zur Versöhnung kam – bis allerdings, schon angekündigt von den ganz tief fliegenden Schwalben, an einem schwülheißen Sommertag, ein fürchterliches Unwetter das gesamte Anwesen heimsuchte und der Verwalter Frang in der Verwirrung der Naturkatastrophe mit dem angesammelten Bargeld verschwand. Im Schloss waren zwar nur ein paar Wände eingebrochen, von den Wirtschaftsgebäuden aber standen nur mehr unbrauchbare Teile, sie waren halb verschüttet und verschlammt und teilweise im Sand begraben. „Mir ist ordentlich wohl ums Herz“, sagte der neuerlich beglückte Hadrian zu seinem Bruder Sabin. Hadrian Hausler schrieb in der darauffolgenden Nacht in sein Tagebuch: „Ruiniert! Das heimelt an. Das riecht nach Welt.“ – „Denn übergroßes Unglück macht auch ruhig“, steht im Roman „Weltgift“ von Peter Rosegger.

Obwohl die Schuldscheine bezahlt werden mussten, die vom inzwischen untergetauchten Verwalter Frang hinterlassen worden waren, und nun auch die Mägde und Knechte verspätet ihren Sold bekamen, kauften sich die „GebrüderHausler“, Hadrian und Sabin, mit dem noch verbliebenen Bargeld im Dorf Sesam einen kleinen Bergbauernhof mit dem Namen „Lindwurm“. Bereits am nächsten Tagführten sie ein Maultier zum Lindwurmhof und begannen von vorne. Hadrian empfand es als eine „wahre Lust“, bettelarm zu sein. Er hatte das Gefühl, als ob von seinen Achseln, wie es im Roman „Weltgift“ heißt, Lasten und von seinen Armen Ketten abgefallen wären. Auch der um seinen Leib geschmiedete Eisenring hatte sich gelöst.

Seine „menschgewordene Vorsehung“, wie er es nannte, war der junge Mann Sabin, den er zu seinem Bruder und Universalerben gemacht hatte. „Hadrian war in weichmütiger Stimmung. Er ging leise zum andern Fenster hinüber, wo Sabin stand. Er hätte gern den Arm um seinen Nacken gelegt, er dürstete nach einem zärtlichen Wort. Manchmal früher hatte er geträumt, wenn der Junge das liebe Haupt nur einmal hinlegen wollte an seine Brust, wenn er es nur einmal an sein Herz ziehen könnte! Daran dacht er jetzt, als er im Dunkeln neben ihm am Fenster stand. Aber es geschah nur, dass er mit seiner Hand leise Sabins Arm berührte. Dieser schien es nicht zumerken, er schaute hinaus und schwieg. Die Blitze in den Wolken am Horizont zuckten in kurzen, dünnen Feuerstäbchen senkrecht auf und ab. Und alles blieb still. Hoch am Himmel die flimmernden Sterne.“ – Bald darauf wurde Hadrian krank, schwer krank, man diagnostizierte einen sogenannten Herzschwamm. Vom jungen Sabin fühlte er sich in seiner Krankheit vollkommen vernachlässigt. In seinem Tagebuch notierte er: „Mir scheint, es naht das Ende. Mit diesem Menschen ist es nun aus. Wie der Profos dem Arrestanten, so reicht er mir jetzt täglich mein Essen, kalt und wortlos. Nun bin ich ihm zu Verachtung. Und das zerschmettert mich. Ich habe ihn einmal lieb gehabt.“

Niemand konnte dem kranken Hadrian helfen, bis der Sohn des ehemaligen Besitzers vom Lindwurmhof, der Medizin studiert hatte, ihm zu verstehen gab, dass ihm nur mehr die Alraunwurzel helfen könne, eine Ritual- und Zauberwurzel, die in der hiesigen Bergwelt zu finden sei und die auch vom kranken Hadrian gesucht wurde, die aber, obwohl sie die halbe Bergwelt umgruben, nicht gefunden werden konnte. Der hoffnungslos gewordene Hadrian, dem auch Sabin nicht mehr zugetan war, verwahrloste zusehends, dachte an Selbstmord, schwankte in seinen verschlissenen Kleidern, einer Mischung aus Jägergewand und Salonanzug,mit verwildertem Haar und Bart, durch die Gegend der Alpenwelt. Wiederum verließ Sabin ohne Ankündigung das Anwesen,diesmal den Lindwurmhof. „Dass er mich so peinigt! Ich kann ja nicht sein ohne ihn!“, beklagte sich der herumgeisternde und seinen Bruder suchende Hadrian.

Dem ebenfalls herumirrenden Sabin warauf einem anderen Bauernhof, im Nachtlager eines Heustadels, eine Stimme aufgefallen, die ihm bekannt vorkam. Bei näherem Hinsehen erkannte Sabin den korrupten und „durchgegangenen“ Gutsverwalter Lebrecht Frang, der das Unwetter ausgenützt hatte und mit dem ganzen Bargeld verschwunden war. Der „Strick“ Sabin, wie ihn Frang einst genannt hatte, fesselte im Heu den tief schlafenden ehemaligen Verwalter vom Schloss Finkenstein und übergab ihn am nächsten Tag der Polizei. Es kam zu einem Prozess, und Lebrecht Frang wurde zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. – Sabin war inzwischen auf den Lindwurmhof zurückgekehrt, befreundete sich mit der Tochter des Lindwurmbauern, mit der Lisl. Erversprach ihr, dass er den ganzen „Krempel“, wie er sagte, im Stich lassen, sie heiraten und mit ihr in ein schönes Land ziehen möchte.

Als ihn die Lisl auf die auffällige und seltsame Beziehung zu Hadrian Hausler ansprach, sagte Sabin: „Lisele, mir ist's recht, dass wir davon reden. Aber denk dir, wie das närrisch ist. Ich weiß selbst nichts Rechtes. Es ist etwas, aber ich kann nit drauf kommen. Er hat oft angefangen, darüber zu reden, ist aber allemal stecken geblieben. Er kann's nit sagen oder will's nit sagen – ich komm nit drauf.“ Um danach zu gestehen: „Es ist ein Fehler von mir. Er hat mir's gewiss gut gemeint. Aber – es geht gegen meine Natur. Er ist so ganz anders. So ganz anders ist er. Ich versteh ihn nit, und er mich nit. Und doch wieder das Erbarmen. Er ist halt krank und wird mit Jahr und Tag schlechter. Und sonst auch – wie's halt geht, wenn einer verdorben worden ist. Schon in der Jugendzeit. Und wieder andere verdirbt.“

Nachdem Sabin den herzkranken Hadrian auf der Lindwurmhube vermisst hatte, bewegte sich das Karussell der Anziehung und des Abgestoßenseins und -werdens von vorne. Er begann ihn zu suchen. Ein Urlauber, der aus der Hauptstadt zurück ins Bergdorf Sesam gekommen war, erzählte, dass er den Industriellensohn Hadrian Hausler, der in der Stadt kein Unbekannter war, in einem Unterhaltungslokal in der Vorstadt gesehen habe, mit einem Zylinder auf dem Kopf, einer Zigarre im Mund und mit einem „Zwickglas“ in einem Auge. Bald kam eine andere Nachricht, dass nämlich Hadrian Hausler in eine Irrenanstalt eingeliefert worden sei, aus der er aber geflohen sei, dass er in die Wohnung seines abwesenden Vaters, des „alten Rentiers“, eingedrungen sei, dort eine Jagdflinte ergriffen und auf die Marmorbüsten geschossen habe. Eine Kugel sei zurückgeprallt und habe ihn am Kopf schwer verletzt.

Sabin fand Hadrian in einem Krankenhaus, im Saal 3, Bett Nummer 73. Er erfuhr, dass er bewusstlos eingeliefert worden war und seither zwischen Leben und Tod schwebte. Sabin beugte sich über ihn und sagte leise: „Erkennst du mich, Vater?“ Verwundert schaute der Schwerverletzte den Burschen an und sagte: „Wieso denn, dass du zu mir kommst, Sabin? Hast du nicht auf dem Rübenfeld zu thun?“ – „Nein, lieber Vater, auf dem Rübenfeld hab ich jetzt nichts zu thun. Ich bleib bei dir, bis du gesund bist.“ Hadrian berührte die Finger des Jünglings und sagte: „Das ist er. Das ist mein Sabin. Siehe, ich hab auf dich gewartet. Lange habe ich warten müssen, mein Junge. Dich allein. Nur dich ganz allein. Dich hab ich lieb . . .“

Sabin versprach ihm, dass er ihn jeden Tag besuchen und ihn gesund pflegen werde, aber kurze Zeit später teilte ein Krankenwärter dem für Hadrian Hausler zuständigen Doktor mit, dass der Patient „Numero 73“ soeben „verschieden“ sei. Der „strafende Engel“ also hatte „angegriffen“. „Als Sabin nach dem Begräbnis zurückgekehrt war ins Sesam, sagte er nicht, dass er ihn verloren, vielmehr, dass er ihn gefunden hätte. Der Tote jetzt war ihm mehr, als der Lebendige je gewesen.“ ■

Josef Winkler

Geboren 1953 in Kamering, Kärnten. Prosa: „Friedhof der bitteren Orangen“, „Natura Morta“, „Roppongi“, zuletzt „Wortschatz der Nacht“, „Abschied von Vater und Mutter“ (Suhrkamp Verlag). Großer Österreichischer Staatspreis für Literatur, Büchner-Preis.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.08.2017)

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