Verdrängte Kinderpädagogik: Toni und das Messer

Psychoanalyse für Hilfsarbeiter, Arbeitslose, Bettgeher, Dienstboten: „Negerdörfl“, Wien-Ottakring.
Psychoanalyse für Hilfsarbeiter, Arbeitslose, Bettgeher, Dienstboten: „Negerdörfl“, Wien-Ottakring.(c) Bezirksmuseum Ottakring
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Bis heute ist sie uns nicht fremd: die Vorstellung, Erziehung funktioniere einzig auf Basis von Belohnung und Bestrafung. Schon im Wien der 1920er sahen das manche anders. August Aichhorn, Rosa Dworschak und eine verdrängte Tradition hiesiger Kinderpädagogik.

Toni ist acht Jahre alt. Vor einigen Monaten hörte er auf, seine Hausaufgaben für die Schule zu machen, zu Hause führte er sich wild auf, und seine Mutter bemerkte bald, dass er auch immer wieder die Schule schwänzte. Besorgt suchte sie den Lehrer auf und fragte, was denn da los sein könnte. Der Lehrer beruhigte sie und machte ihr den Vorschlag, sich des Buben einfach mehr anzunehmen und mit ihm zu reden. Die Mutter bemühte sich um Toni und belohnte ihn für alles, was aus ihrer Sicht gut lief. Doch es wurde alles nur noch ärger. Toni zuckte noch viel mehr aus als vorher. Dem Vater riss die Geduld, er war dem Rat des Lehrers schon vorher skeptisch gegenübergestanden, und schlug das Kind. Tonis Verhalten änderte sich. Er machte wieder seine Hausaufgaben und war weniger schlimm. Eine Woche lang. Dann ging alles wieder von vorne los.

Diese Geschichte erzählte August Aichhorn seinen Studenten im September 1945, die Trümmer des Krieges waren noch nicht verräumt, die Erziehungsberatungsstellen, die Aichhorn in den 1920er-Jahren in Wien entwickelt hatte, längst geschlossen. In diesen Spätsommertagen einer Stadt, die nach dem autoritären Furor in Schutt und Asche gelegt war, sprach der Freud-Schüler Aichhorn vor jungen Leuten über Pädagogik.

Aichhorn lernte Toni in der Beratungsstelle kennen. Er ließ den Buben erzählen. Toni kam nach einigem Zögern auf eine Szene in der Schule zu sprechen. Sein Sitznachbar hatte ein Taschenmesser mit. Toni fragte, ob er es auch einmal haben konnte. Ehrfürchtig betrachtete er den besonderen Gegenstand, da begann der Unterricht, das Messer verschwand in der Hosentasche. Tonimusste auf die Toilette, währenddessen fiel seinem Klassenkollegen auf, dass das Messer fehlte. Laut beklagte er den Verlust. Der Lehrer und alle in der Klasse suchten danach, als Toni vom Klo zurückkam. Voll Schrecken dachte er an das Messer in seiner Hosentasche und dass alle glauben würden, er habe es gestohlen. Schnell schlüpfte er noch mal aus der Klasse auf die Toilette und spülte das Taschenmesser hinunter.

Er fühlte sich befreit. Die Untersuchung durch den Lehrer blieb ergebnislos. Der Verdacht fiel auf einen Buben, der immer negativ auffiel, den Toni aber gerne mochte. Es störte ihn sehr, dass dieser ohne Verschulden belastet wurde. Toni sagte aber nichts.Aichhorn schilderte nun den Dialog mit Toni: „Kannst du die Geschichte dem Herrn Lehrer erzählen?“ – „Nein.“ – „Der Mutter?“ – „Das ist ausgeschlossen.“ – „Kannst du mit deinem Freund, dem das Taschenmesser gehört, darüber reden?“ Dann, nach einigem Zögern: „Ja, das kann ich.“

Aichhorn schlägt ein Treffen im Park vor, zu dritt. Toni, sein Schulfreund und Aichhorn sahen sich am nächsten Tag im Park vor der Schule. Toni erzählte die Geschichte ausführlich und war sehr aufgeregt dabei. Sein Klassenkamerad hörte aufmerksam zu und deutete an, dass er das Messer gerne wiederhätte. Aichhorn beschloss, mit den zwei Buben in das nächste Geschäft um ein Taschenmesser zu gehen. Der Freund fand eines, das dem verlorenen ähnlich war.

Einige Wochen später kam Tonis Mutter wieder in die Beratungsstelle und zeigte sich äußerst verwundert. Der Bub sei wie ausgewechselt. Er verweigere die Schule nicht mehr, sei wieder zugänglich und fröhlich. Was war geschehen? Ein Zustandsbild könne erst dann in seiner wahren Bedeutung erkannt werden, wen man wisse, durch welche Kräfteverhältnisse es zustande gekommen ist. Nun, Toni quälte ein schlechtes Gewissen, das ihn massiv bedrückte. Das Taschenmesser seines Freundes hatte er ins Klo geworfen – und dafür wurde auch noch ein anderer Kollege fälschlich beschuldigt. Wird Toni nun belohnt, meldet sich der unbewusste Konflikt in ihm und befindet, dass er das gar nicht verdiene. Bei Strafe verändert das Kind sein Verhalten sofort, aus Angst und aktuell gefühlter massiver Unlust. Aber gegenläufig macht sich der unbewusste Konflikt wieder bemerkbar. Die Spannung im Über-Ich ist sehr hoch, sein schlechtes Gewissen meldet sich. Die Strafe erscheint als eigentlich gerechtfertigt und bringt einen Spannungsabfall, den das Kind als lustvoll erlebt. Strafe bringt hier nicht Unlust, sondern Lust hervor. „Durch die Liebesprämie und auch durch die Strafe wird nur Einfluss genommen auf die unlustvolle Spannung und nicht auf den durch Verdrängung unbewusst gewordenen Konflikt“, analysiert Aichhorn. Belohnung und Strafe kommen an den Konflikt nicht heran.

Für viele der angehenden Pädagoginnen war dieser Einblick in die inneren Bewegungen eines Kindes neu und ungewohnt. Die Vorstellung des Menschenals eine Art ferngesteuerter Belohnungs- und Bestrafungsautomat verfolgte janicht nur manche Humanwissenschaft, sondern entwickelte sich auch zur unreflektierten Vorannahme in anderen Feldern der scientific community. Allerdings ist auch in den Wirtschaftswissenschaften die Idee des Homo oeconomicus seit der Finanzkrise ordentlich ins Wanken geraten: die Vorstellung, dass sich Menschen rein ökonomisch utilitaristisch nach Abwägung aller Informationen, dem rationalen Nutzen verpflichtet, verhalten. Forschungsrichtungen wie die Verhaltensökonomie kritisieren diese Annahmen als Fiktion. Menschen sind weder perfekt rational noch vollständig eigennützig, noch haben sie unbeschränkte Willenskraft. Das Leben ist keine einfache Reiz-Reaktions-Schachtel. Menschen folgen ihren Gefühlen, lassen sich von anderen beeinflussen, treffen gemeinsam Entscheidungen, handeln gegen ihre Interessen. Belohnung und Bestrafung kommen an die Konflikte nicht heran.

Der kleine Heinz stand draußen. Er hattenicht gewagt zu klopfen, doch hörte sie sein Husten und öffnete die Tür. Hast du ein Bilderbuch?, war seine schüchterne Frage. „Er berichtete stockend, dass er ein solches im Schaufenster einer Buchhandlung gesehen habe und dass er gerne wüsste, wie es innen aussähe. Frau Silberbauer kramte ein altes Bilderbuch, bekritzelt, mit ausgerissenen Ecken, aus einer Kiste hervor. Sie sah und hörte das Entzücken des Kindes und staunte über seine vielen Fragen.“ So schildert die Sozialarbeiterin Rosa Dworschak eine Szene in ihrer Erzählung „Dorfgeschichten in der Großstadt“. Das Dorf, von dem die Rede ist, liegt in Ottakring, die Stadt ist Wien, die Verwalterin der Siedlung heißt Silberbauer, wir schreiben das Jahr 1930. Heinz machte von da an seine Aufgaben bei Frau Silberbauer und kam voran in seinen ersten Schreibversuchen und Zeichnungen.

Rosa Dworschak hat über ihre Arbeit eineErzählung geschrieben, die Jahrzehnte als Manuskript in der Schublade lag. Erst kürzlich wurde die Geschichte veröffentlicht (im Wiener Löcker Verlag). In dieser außergewöhnlichen Sozialreportage berichtet sie aus dem Leben der Bewohner des sogenannten Negerdörfls, in dem sie von 1928 bis 1938 als Sozialarbeiterin tätig war. 1911 wurde für arme, unterstandslose und kinderreiche Familien in Wien-Ottakring, nahe der Vorortelinie, eine Barackensiedlung errichtet – das sogenannte Negerdörfl. Der Name leitete sich vom Wiener Dialektausdruck „neger sein“ (arm sein, nichts haben) her. Die Bewohner waren bei der – auch nicht viel reicheren – Nachbarschaft schlecht angesehen: „Rund um das Dorf waren bereits höhere Bauten aufgeschossen. Die Wohnungen hatte die Stadtverwaltung vergeben. Ihre Mieter lebten kaum in besseren Verhältnissen als die im Dorfe, doch fühlten sie sich ihnen im Range weit überlegen.“

Die jungen Leute in der Barackensiedlung waren Kinder von Hilfsarbeitern, Arbeitslosen, Bettgehern, Dienstboten. Ihre absehbare Zukunft war jedenfalls die von Hilfsarbeitern, Arbeitslosen, Bettgehern und Dienstboten. Viele ihrer Eltern kamen aus den früheren Kronländern der Monarchie, die überwiegende Anzahl aus Böhmen und Mähren. Unterschichts- und Migrantenkinder, die keine sozialen Aufstiegschancen hatten und mit beträchtlicher Ablehnung der Eingesessenen wie der Eliten kämpfen mussten. Schlechte Wohnverhältnisse, hohe Mieten und drückende Wohnungsnot machten sich besonders in den Vorstädten Hernals, Ottakring, Fünfhaus und Rudolfsheim existenziell mit sozialer Verelendung bemerkbar.

In der Geschichte von dem kleinen Buben Heinz blitzt bereits etwas von Rosa Dworschaks besonderer Haltung auf. Die Erzählungen Dworschaks sind getragen von dem, was ihrem Verständnis nach für psychoanalytische Sozialarbeit grundlegend ist: dem lebendigen Interesse für die anderen, der Fähigkeit zu verstehen, auf andere und deren Lebensauffassung einzugehen und sie nicht zu verurteilen. Rosa Dworschak ist Teil der psychoanalytischenSozialarbeit im Wien der Zwischenkriegszeit, einer vergessenen und durch den Faschismus vernichteten Tradition der Kinderpädagogik und Sozialarbeit. In dieser Reihe stehen mit ihr August Aichhorn, Anna Freud, Caroline Newton oder Ernst Federn. Viele mussten fliehen, nach England oder in die USA, und versuchten dortihre Arbeit fortzusetzen.

Rosa Dworschak lernte den Psychoanalytiker August Aichhorn 1917 auf demJugendamt kennen: „Dann bin ich nach Pottendorf gekommen, zur selben Zeit hat Aichhorn schon die Vorbereitungen gehabt für Hollabrunn. Er hat gesagt, er muss dieses Barackenlager übernehmen. Es war damals, 1918, noch für Flüchtlinge, ich soll aber mitfahren und ihm dabei helfen, Medikamente zu sortieren und anderes. Unterwegs hat er mir Vorträge gehalten und die Schriften von Sigmund Freud vorgelesen. Ich habe gefunden: einfurchtbarer Blödsinn.“

Das sollte sich ändern. Aichhorn errichtete 1923 psychoanalytisch orientierte Erziehungsberatungsstellen in Wien, ab da wurde Rosa Dworschak seine engste Mitarbeiterin. In 14 Bezirksjugendämtern eröffneten sie Erziehungsberatungsstellen, die der Prävention und Hilfe dienten. Hier entwickelte sich ein für die Zeit neuer Blick auf das Kind. „Ich lasse mich weder auf die Besprechung der vorgebrachten Beschuldigung ein, noch fülle ich Drucksorten aus“, bemerkte August Aichhorn, „sondern veranlasse das Kind, von zu Hause und von der Schule zu erzählen: gebe ihm die Möglichkeit zu kritisieren, seine Wut zu entladen.“

Kritisches Verhältnis zur Fürsorge

Die Beratungsstellen erzielten erstaunliche Ergebnisse mit diesem therapeutischen Zugang. Ihre Arbeit stand auch in einem kritischen Verhältnis zur dominierenden rassenhygienischen Fürsorgepolitik und den autoritären öffentlichen Erziehungsanstalten. Aichhorn betonte, dass „nacherziehende heilende Wirkung“ nur möglich ist, wenn das Kind als erfahrenes und interpretierendes Subjekt ernst genommen und mit Neugierde angehört wird. Das war das Gegenprogramm zum „sozialmoralischen Schuldspruch“ (Reinhard Sieder) in Pädagogik und Sozialarbeit. Demütigung des Kindes, Bestrafung und Gewalt waren die Standards – nicht nur in Kinderheimen. Die von Aichhorn geleiteten Heime Oberhollabrunn und St. Andrä an der Traisen arbeiteten anders als die „Besserungsanstalten“.

Das stellte sich dem üblichen Umgang mit Armutsbetroffenen entgegen. Die einen verwandeln sie gerne in Objekte von Strafpolitik, in defizitäre Unterschichtsdeppen. Die anderen betrachten sie als Objekte erobernder Fürsorge, als immerwährende Opfer. Aber nie als Akteure, als Handelnde, als Subjekte. In den „Dorfgeschichten“ erzählen die Bewohner vom Ringen um ein weniger abhängiges Leben. Und sie erzählen von einer Frau zwischen den Welten. Frau Silberbauer pflegt den Rollentausch. Sie ist nicht nur oben, sie ist immer mittendrin, manchmal unten mit dabei. Frau Silberbauer kann von anderen lernen, reflektiert, was ein Gespräch in ihr anrührt. Frau Silberbauer fragt nach dem Kontext. Frau Silberbauer will verstehen. Eine Bewohnerin der Barackensiedlung sagt es so: „Sie sind eine sonderbare Frau, mit Ihnen könnte man möglicherweise reden, ohne sich verstellen zu müssen.“ ■


Martin Schenk, Jahrgang 1970, Mitbegründer von „SOS Mitmensch“, ist Sozialexperte der Diakonie.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.08.2017)

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