Otto Brusatti: Was waren das für 100 Jahre!

Es war nicht billig, der Zustrom zunächst enden wollend. Nach einigen Monaten scharte sich allerdings schon ein beträchtlicher Teil der Jung-Avantgarde um den strengen Guru. Vor 100 Jahren gründete Arnold Schönberg sein „Seminar für Komposition“. Ein Experiment – und die Folgen.

Die Fakten kommen cool daher. Dann folgt – schon etwas weniger unterkühlt – ein Vergleich mit dem Heute, 100 Jahre und noch etwas weniger später. Wir sind dabei scheu und manchmal verblüfft. Denn nichts hat sich in der diese unsere Welt ja dominierenden Kunst Europas in Ausdruck, Einsatz und Masse so sehr geändert wie Musik in den vergangenen 100 Jahren. Wien, Österreich, Mitteleuropa lagen auf dem Boden. Die Kreativen waren in innerer Emigration oder sowieso gefallen (in einer gegenseitigen, europäischen Abschlachterei) oder bald durch Seuchen hinweggerafft. Kreativität spielte sich, halbwegs offen und erlaubt, hauptsächlich als spätromantischer Konservativismus ab. Innovationen oder gar Entwicklungssprünge vor allem im Musikbereich brodelten sozusagen noch.


1. September 1917. Arnold Schönberg, bereits die Nummer eins für total andere Neue Musik in Europa, dafür weiterhin in weiten Publikumskreisen nicht minder verhasst, von vielen Schülern hingegen halbgottgleich verehrt, residiert höchst bescheiden trotz wachsender Familie in Wiener Quartieren, dann, vermittelt durch Sponsorinnen, in Mödling. Er schnürt (nach seiner quasi Freigabe der Tonalität noch vor Kriegsbeginn) abermals ein Innovationspaket. Er, der erst am Ende dieses schrecklichen Jahrzehnts auch als Komponist langsam öffentlich werden wird, der in seiner aber noch kaum bekannten und allerneuesten Musik, etwa „Pierrot lunaire“, Neues in seinem Fach machte, wie das selbst in der damals blühenden und sich zerreißenden bildenden Kunst vergleichslos ist, er machte zunächst eine Einberufung mit Folgen.
Ein Schüler, halbwegs geduldeter Freund und Komponist an der Schwelle des „Wozzeck“ (eines der zehn wichtigsten Werke des 20. Jahrhunderts generell) hatte mitzumachen. Alban Berg assistierte dem Lehrer beim Installieren eines „Seminars für Komposition“. Ort: die legendäre Schwarzwaldschule in der Wallnerstraße; Aufnahmebedingungen: „Neigung . . . so dass jeder, Reicher oder Armer, Künstler oder Dilettant, Vorgeschrittener oder Anfänger, daran teilnehmen kann“; „beständiger, zwangloser Verkehr zwischen mir und meinen Schülern, sie sollen dort so sein wie Maler-Schüler einstens in den Maler-Ateliers“. Es war nicht billig, der Zustrom zunächst endenwollend. Nach einigen Monaten scharte sich freilich schon ein beträchtlicher Teil der heranwachsenden Jungavantgarde um den strengen, oft auch nicht angenehmen Guru. Man probierte neue Wege zur Vermittlung von Neuer Musik durch öffentliche Proben, die – noch in den letzten Kriegsmonaten – betriebene Edition einer Avantgardemusikzeitschrift oder, mit Schiele kurz vor dessen Tod, die Gründung einer interdisziplinären Arbeitsgemeinschaft „Kunsthalle“. Selbst die (vergebliche) Installierung eines „Kunstamtes“ sofort nach Kriegsende, auch Adolf Loos war da führend, wurde von Schönberg, den man kurz vor diesem Ende noch einmal eingezogen hatte, erwogen.
Was dann aus diesen quasi Trainigsläufen, die zumindest die musikalische Nachwuchsjugend irgendwie trotz Weltkriegsendes geformt und gesammelt hatten, herauskam, das war der legendäre und bis heute in seiner Besonderheit, ja künstlerisch-vermittelnden Außergewöhnlichkeit unerreicht gebliebene „Verein für musikalische Privataufführungen“. Man lasse sich von dem Titel nicht täuschen. Es war kein Verein im herkömmlichen Sinn. Es ging nicht um musikalische Aufführungen herkömmlicher Art. Es herrschte ein strenges Regelwerk mit Arbeitsauflagen, das weit über ein sonst übliches Vereinswesen Vorschriften machte. Schönberg war selbstverständlich der Boss. Berg gab den Vortragsmeister trotz seiner eigenen Kompositionsarbeiten. Die Liste der Mitarbeiter in den nächsten drei Jahren liest sich wie ein Who's who der eifrig-feurigen Kriegsgeneration (von Eduard Steuermann bis Anton Webern). Diejenige der im Verein angebotenen Komponisten liest sich wie ein Who's who für wichtige Neue Musik des beginnenden 20. Jahrhunderts.

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