Die Post und die Zeichen

Ja, ich gestehe: Ich bin Philatelist. Ich sammle Briefmarken. Und ich fürchte, dass es demnächst für mich nichts mehr zu sammeln geben wird. Stoßseufzer eines Liebhabers.

Wir nannten ihn den „Karajan von der Babenberger Kreuzung“. Er war in ganz Wien und vor allem in den Medien bekannt, weil er den Verkehr richtiggehend dirigierte. Man fühlte sich als Kraftfahrer persönlich angesprochen. Er hat auf dich gezeigt, wenn dein Tempo zu gering war. Er hat gestikuliert, gewiesen und eingewiesen. Er war der populärste Verkehrspolizist von Wien. Er hieß Schmalvogel und war so beliebt, dass er schließlich von einer Operndiva heimgeführt wurde.

Seine Popularität indes zeigte sich stets in der Weihnachtszeit. Dann war sein Standplatz umringt von Weinflaschen. Auch etliche Pakete hatten dankbare Autofahrer deponiert, allein, die Alkoholika waren in der Überzahl – Grund genug für seine Vorgesetzten, dem Spaß der Adventzeit ein Ende zu bereiten. Von einem Tag zum anderen gab es keine Flaschen und keine Packerln mehr. Ein dankbares Winken der Kraftfahrer musste genügen. Am Ende hat Inspektor Schmalvogel den Platz geräumt. Verkehrsampeln sind an seine Stelle gekommen.

Warum ich das erzähle? Weil mir in diesen Tagen in den Sinn gekommen ist, dass nicht nur die mit Gaben beladenen Autos, vor allem jene, die Firmengeschenke transportierten und zum vorweihnachtlichen Stau beigetragen haben, selten geworden sind. Es mag dies ein Zeichen der Krise sein, die allen Weihnachtswünschen zum Trotz längst noch nicht ausgestanden scheint. Es gibt indes noch ein zweites Zeichen dafür, dass wir die Angst davor, den Gürtel enger schnallen zu müssen, nicht überwunden haben. Es werden weniger Weihnachtskarten geschrieben. Die Zeiten, da im Advent die Briefträger zwei- und dreimal so viel zu schleppen hatten wie in den anderen Monaten des Jahres, sind zwar nicht vorüber, aber gemildert. Freilich, die Zahl der postalischen Bettelbriefe hat nicht abgenommen, im Gegenteil. Offene Herzen stoßen nach wie vor und vielleicht mehr noch als bisher auf offene Hände. Die Menge der Schreiben, die angesichts der Jahreszeit (warum gerade jetzt?) um ein Scherflein bitten, ist eher größer geworden. Aber per Saldo wird in der Vorweihnachtszeit, das steht fest, weniger geschrieben. Mit der Hand jedenfalls.

„Darf man per E-Mail kondolieren?“ lautete der Titel des Buches, das vor Kurzem ein Journalistenkollege geschrieben hat. Ich darf die Frage ergänzen: Darf man per E-Mail Weihnachtswünsche ausdrücken? Man darf. Man darf faxen, E-mailen, sogar SMSen. „Alles Gute zu Weihnachten!“ Oder auch: „Ein gesegnetes Fest!“

Bouteille und SMS

Was hat das ganze mit dem seinerzeit so beliebt gewesenen Inspektor Schmalvogel zu tun? Nichts als die Tatsache, dass im dritten Jahrtausend, dem die „Entschleunigung“ gut täte, die Hektik des Lebens der persönlichen Kommunikation abträglich ist. Auch wenn eine Bouteille aus einem fahrenden Auto gereicht wurde, war sie vom Spender mit einem Winken und vom Empfänger mit der an die Mütze gelegten Hand begleitet. Der Polizist – und manche andere Kreuzungsposten konnten sich ähnlicher Anerkennung erfreuen – salutierte. Heute erfolgen die Weihnachtsgrüße, wenn gebräuchlich, auf Grund von Computerlisten. Wenn schon keine E-Mails oder SMS versendet werden, dann jedenfalls Kuverts, die vorgedruckte Wünsche enthalten und durch einen Aufdruck „freigemacht“ sind, der die Briefmarke ersetzt.

Es geht, meine ich, ein Teil der Kultur verloren, wenn das Briefe- und Kartenschreiben ausstirbt. „Mir geht es gut, wie geht es euch?“, auf eine Postkarte gekritzelt, gibt dem Empfänger mehr als ein entsprechender Vordruck. Man muss nicht gerade Aperçus erfinden, um dem Adressaten Freude zu machen. Es genügt die Handschrift.

Ich weiß von einem Freund (er ist leider längst gestorben), der eine Sammlung autografischer Briefe wie seinen Augapfel hütete. Weil er mich schätzte, durfte ich einmal in diesem Konvolut handschriftlicher Episteln blättern. Ich meinte, es mit Ikonen zu tun zu haben. Die österreichische und deutsche Literaturgeschichte der vergangenen beiden Jahrhunderte durfte ich anfassen, richtig anfassen. Ich saß benommen vor diesem Konvolut der Geistesgeschichte. Was mit den Handschriften nach dem Tod des Besitzers passiert ist, weiß ich nicht. Die Briefe gehörten einer früheren Zeit an. Sie haben in jener der Elektronik nichts mehr verloren. Heute wird „gechattet“. Auch gut!

Aber es schmerzt mich, dass gleichzeitig ein anderer, nicht minder teurer Teil der Kultur verloren geht, klein und doch kostbar. Er besteht aus Papier und bringt jenem, der ihn besitzt, unter Umständen Hunderttausende ein. Er ist immer weniger gebräuchlich – zum Unwillen jener, die ihn lieben, ja sammeln.

Jetzt ist es heraußen. Ich bin ein Philatelist. Ich sammle Briefmarken. Und ich bin mir bewusst, dass ich einem Kreis von Liebhabern angehöre, der sich zwangsweise verringert. Denn ich fürchte, dass es in absehbarer Zeit keine Briefmarken mehr geben wird.

Und das, Verzeihung, ist der Stoßseufzer eines Menschen, der seit Kindheitstagen das getan hat, was immer noch gebräuchlich ist, aber immer weniger Adepten hat. Noch einmal: Ich bin ein Briefmarkensammler. Ich bin ein Philatelist. Und ich fürchte, dass es immer weniger dieser Sorte geben wird. Denn das Sammeln von Briefmarken ist mehr als ein Hobby. Es ist, pathetisch gesprochen, das Eintauchen in die Geschichte, nicht nur die Kulturgeschichte, eines Landes, unseres Landes, vieler Länder. Briefmarken sind Visitenkarten. Sie sind Identifikationsmerkmale. Wird es irgendwann einmal einheitliche EU-Marken geben? Mir graust.

Die österreichische Postverwaltung hat einen eigenen Philateliechef, Erich Haas, der optimistisch ist: „Die Zeiten ändern sich immer rascher, und die Post muss wie jedes andere erfolgreiche Unternehmen darauf reagieren“, schrieb er. „Negative Auswirkung auf die Philatelie sehe ich jedoch dadurch nicht. Die Briefmarke ist ja nicht nur eine Art Gutschein für eine Beförderungsleistung, sondern darüber hinaus auch ein wichtiges Kulturgut, das von Millionen Menschen auf der ganzen Welt geschätzt und gesammelt wird.“ So weit, so gut. Aber die Briefmarke lässt sich vom Brief – und dies ist nicht nur als Metapher zu verstehen – nicht trennen. Und da, wie es heißt, die jüngste Entwicklung der Briefbeförderung das Online-Postamt ist, scheint der Optimismus des Philateliechefs übertrieben.

„Bereits heute werden immer mehr Schriftstücke per Internet übermittelt“, lese ich in der Zeitschrift „Die Briefmarke“. „Immer mehr Österreicher haben Zugang zu PC und World Wide Web. Dieser Strukturwandel wird sich noch weiter fortsetzen, doch derzeit ist die elektronische Nachrichtenübermittlung noch nicht so verlässlich und sicher wie der klassische Brief. E-Mails, genauso wie ihre Anhänge, können eingesehen und verändert werden, ohne dass es der Empfänger merkt. Und auch der Empfang selbst ist nicht garantiert.“ Es bedürfe neuer elektronischer Systeme mit Übertragungssicherheit. Die Post sei bereit, „künftig jedem einzelnen Österreicher seine Schriftstücke auf die Art und Weise zu liefern, wie er sie haben will. Auf seinen Bildschirm oder in seinen Briefkasten. Oder auch in Kombination davon, jeweils nach Art der Schreiben unterschieden.“ „Die Post“, sagt Finanzvorstand Rudolf Jettner, „wird künftig die Schreiben jedem Empfänger auf die von ihm gewünschte Weise zustellen.“

Die Zukunftsvision kontrastiert hart mit dem Ist-Zustand, der sich gelegentlich in Zustellungsverzögerungen ebenso manifestiert wie in der Tatsache, dass die Zahl der Briefkästen radikal abgenommen hat. Wo gibt es sie noch? Und was die Sicherheit des Briefinhalts betrifft, haben jene, die sich an die Besatzungszeit erinnern, ihre Erfahrung gemacht. Briefe ins Ausland wurden regelmäßig zensuriert, geöffnet, dann mit einem Klebeband verschlossen und mit einem Zensurstempel versehen.

Wie Pilsudski aussah

Die Briefmarke, das Kulturgut. Die Briefmarke, das Identifikationssymbol. Identifikation? Ich habe begonnen, Marken zu sammeln, als ich noch in die Schule ging. Es war die Zeit, da die „Dauerserie“ das Hitlerporträt trug, anno 1942 eine Trauermarke für Reinhard Heydrich herauskam, knapp vor Kriegsende noch Wehrmachtsmarken mit der Bezeichnung „Großdeutsches Reich“ zu kaufen waren, als von Größe weder ideell noch geografisch die Rede sein konnte. In meinem Album ist die Sondermarke „950 Jahre Österreich“ ebenso vorhanden wie jene Serie, die „Niemals vergessen“ forderte. Ich habe als Volksschüler meine ersten Geografiekenntnisse mit Hilfe der Briefmarken aus englischen und französischen Kolonien erworben. Ich habe gesehen, wie der polnische Diktator Pilsudski aussah und der spanische König Alfons XIII.

Tempora mutantur. Eine österreichische Sondermarke hat vor nicht allzu langer Zeit das Porträt Romy Schneiders gezeigt, es gab eine Marke für die Rolling Stones. Und im November 2005 ist die Sondermarke „Narnia“ erschienen. „Zu Beginn des Advents und als Einstimmung auf Weihnachten präsentieren Walt Disney Pictures ihren neuen Fantasy-Film, ,Die Chroniken von Narnia‘“, hieß es damals in der Beschreibung dieses vorweihnachtlichen Postwertzeichens. Ich habe es auf keinen Weihnachtsbrief geklebt, ich habe mir auch keine Briefmarken mit meinem eigenen Porträt drucken lassen, obgleich auch dieses seit geraumer Zeit möglich ist.

Aber ich schätze die Weihnachtsmarken, die es auch jetzt wieder gibt. Die Kirche von Christkindl ist da das beliebteste Motiv. Und ich erinnere mich mit Vergnügen an die Zeit, da man sogar Liebesbeweise mit Briefmarken zeigen konnte. Je nachdem, ob die Marke schief, kopfüber oder seitlich gewendet war, hat man damals ausdrücken können, was einem in Liebesdingen am Herzen lag – ganz ohne Zensur.

Ich weiß nicht, ob die Flaschen und Päckchen, die den Standplatz des Inspektors Schmalvogel umringten, handschriftliche Grüße der Spender enthielten. Aber ich weiß, dass diese Art von Danksagung ebenso rarer wird wie ganz allgemein die vorweihnachtliche Post. Die Briefträger schätzen es. Und viele Trafiken haben den Briefmarkenverkauf längst aufgegeben. Auch Briefmarkengeschäfte gibt es kaum mehr. Sie schwinden dahin wie jene Staaten, die stolze Marken herausbrachten und nicht mehr existieren. Die DDR ist einer davon. Ihre Marken waren zum Teil sogar recht schön. Aber sie hatten nicht viel Wert – und haben ihn heute noch weniger. So ist der Lauf der Welt. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.12.2009)

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