Vom Wursteln

Wursteln
Wursteln(c) APA (HANS KLAUS TECHT)
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Aussitzen hieß bisher stets die Devise der Regierung, man hat ja schon so viele Studentenproteste ausgesessen. Aber diesmal sind nicht nur die Studenten, diesmal sind alle unzufrieden, von den Rektoren bis zu den Portieren. Zum Zustand unserer Universitäten: eine Selbsterfahrung.

An den Universitäten gab es mehr Männer als Frauen, in den Hörsälen mehr Stühle als Studenten, in den Seminaren wurde geraucht, und es existierten keine prekären Beschäftigungsverhältnisse. Wer als Assistent begann, hatte bestimmte Aussichten, als o. Prof. zu enden. Das war vor 40 Jahren.

In den wolkenverhangenen Seminaren der sozialwissenschaftlichen Fächer wurde „Das Kapital“ in seine Bestandteile zerlegt, und die „Dialektik der Aufklärung“ diente einer ganzen Generation als Bibel. Rot war schick, Grün war noch nicht geboren, die FPÖ gab sich himmelblau, und Braun versteckte sich in Nischen und Burschenschaften und wagte sich selten ans Tageslicht.

Bei den Promotionen – damals nicht fortgeschrittene wissenschaftliche Karriere, sondern der einzig mögliche Studienabschluss – lief im riesigen Festsaal der Universität Wien auf einem winzigen Plattenspieler „Gaudeamus igitur“, und die Nadel kratzte über die „virgines faciles“ hinweg, was niemand beanstandete oder auch nur merkwürdig fand.

In den Studentenvertretungen tummelten sich Trotzkisten, Revolutionäre Marxisten, Leninisten, Maoisten, kaum jemand konnte die Gruppierungen so recht auseinanderhalten. Jedenfalls prägte ihre Ideologie das politische Geschehen, und ihre Plakate und hektografierten Zettel die Wände und Böden. Demo um Demo fandstatt, für Vietnam, gegen Chile und gegen Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg, weil die studentische Mitbestimmung, die sie unter Kreisky einführen wollte, nicht weit genug ging.

Links außen, Plateausohlen, Schlaghosen, Haare schulterlang und ungewaschen, dem Studium der Politik hingegeben – aber sie wurden zu Meistern der Kampagnisierung und des professionellen Lobbying. Wo sind diese Leute heute? Mit den simplen Medien von damals produzierten sie die Helden der Zeit: Ho Chi Minh und Che Guevara eigneten sich vorzüglich zum Skandieren. Außerdem gab es dann noch: „Unter den Talaren der Mief von 1000 Jahren.“ Jahrelang wurde der Ruf skandiert und den Talar- und Würdenträgern in die Ohren und in die Alpträume gedröhnt.

All dies zeigte schließlich Wirkung, und im Universitätsorganisationsgesetz 1975 wurde die paritätische Besetzung der Gremien durch Professoren, Mittelbau und Studenten implementiert. Doch die Demokratisierung blieb unvollständig, Stückwerk, die Organe waren zu groß, zu unübersichtlich, zu unbeweglich, zu viele Vorschriften, zu viele Ebenen. Mit der alten Professorenherrlichkeit war es vorerst vorbei, aber was folgte, war eine Universität der Stände, und Analysen jener Epoche reden von der kompliziertesten Organisation Österreichs. Die frische Luft war rasch verbraucht, in den Sitzungen herrschte das Gähnen.

Heute natürlich, nachdem Firnbergsschwarze Nachfahren in den Universitätsgesetzen 1993 und 2002 endgültig die universitäre Mitbestimmung dem Diktat der Effizienz geopfert haben, ertönt zuweilen wieder der Ruf nach Redemokratisierung. Aber wenn er der neuen Ministerin, ÖVP, entgegenschallt, dann muss er ihr in den Ohren klingen wie der Hall aus einer fernen Epoche, so sie ihn überhaupt vernimmt. Dies sind nicht die frühen Siebzigerjahre, es gebietet ein anderer Geist, man nennt ihn Neoliberalismus. Jedenfalls istseit dem Universitätsgesetz 2002 von der ganzen Revolution wenig geblieben im universitären Alltagsbetrieb. Es herrschen Wettbewerb,Evaluierung, das Zittern um einen Platz auf der nächstbesten Weltrangliste – und „Kostenneutralität“ soll das Lieblingswort eines Rektors sein.

In mancher Hinsicht herrschten tatsächlich paradiesische Zustände, mindestens mit dem Heute verglichen. In einigen Studienrichtungen insbesondere der Humanwissenschaften, die als brotlos galten – die, mit denen man nicht Lehrer werden konnte, später Orchideenfächer genannt –, waren nicht mehr Studenten inskribiert als die infrastrukturellen und personellen Kapazitäten verkraften konnten. Wer eine Prüfung ablegen wollte, klopfte an die Tür des Professors und wurde umstandslos hereingebeten. Im besten Fall wurde Kaffee angeboten, im schlimmsten Fall wurde man aufgefordert, in der nächsten Woche wiederzukommen. Prüfung, das war ein persönliches Gespräch, in dem Fragen gestellt und so gut wie möglich beantwortet wurden. 40 Jahre später werden Prüfungen in vorgeschriebener Anzahl in vorgeschriebenen Abständen angesagt, schriftlich abgelegt, und wehe, man meldet sich nicht rechtzeitig an. Wer alle Termine versäumt, hat Pech gehabt.

Wer dem Professor ein E-Mail schickt mit der Bitte um einen Ersatztermin, erhält selten eine Antwort. Denn das Postfach des Professors quillt über, weil Prüfungen versäumt wurden wegen Übersiedelung, Nebenjob, Schwangerschaft, Tod der Großmutter, Magenverstimmung, Bauchgrippe, Kopfgrippe, normaler Grippe. Da es so wenige Prüfungstermine gibt und so viele Studenten und so viele Ausreden, rechnet das universitäre Lehrpersonal schon längst nicht mehr damit, dass jemand wirklich erkranken könnte, und ist überrascht, wenn dies tatsächlich einmal der Fall ist.

Studenten wiederum klagen, dass sie manchmal monatelang auf Prüfungsergebnisse warten, was nicht erlaubt ist, und wenn sie endlich da sind, die Prüfungsergebnisse, sind die Studenten verwundert über die Benotung. Niemand erfährt, warum „Sehr gut“ oder „Genügend“, was falsch gemacht wurde. Das Lehrpersonal, das mehrere hundert schriftliche Arbeiten im Semester bewertet, ist weder verpflichtet noch zeitlich in der Lage, Begründungen zu liefern.

Schriftliche Prüfung, das heißt andererseits für die Prüfer: unleserliche Handschriften, jede jeweils anders unleserlich, so oft kann gar nicht kommuniziert werden: Leserlich schreiben! Da gibt es Spezialisten unter den Studierenden, die schreiben so schnell wie möglich so viel wie möglich, von links oben nach rechts unten eine einzige lange, unübersichtliche Wurst über viele Blätter, in der Hoffnung, es werde irgendwie durchgehen. Was wird nicht alles auf die Blätter gefetzt, von Stilblüten einmal abgesehen. All das wird dann irgendwie benotet, und so kann es geschehen, dass Studenten zwar bis zur Diplomarbeit kommen, aber dann monatelang keinen Betreuer finden, weil keiner sie nehmen will: weil sie schreiben wie in einem Chat, weil sie nicht in der Lage sind, eine A4-Seite nach den Regeln von Grammatik und Orthografie so zu verfassen, wie es universitären Gepflogenheiten entspricht, vom Inhalt nicht zu reden. Oder der Betreuer hat noch 30 andere zu betreuen und keine Zeit für jeden Einzelnen, Selektion kurz vor dem Ende des Studiums, viele fallen erst mit der Diplomarbeit ab. Die hohen Abbrecherraten, deren Senkung politische Vorgabe ist, werden auf das ungünstige Betreuungsverhältnis zurückgeführt. Derzeit sind in manchen Studienrichtungen Multiple-Choice-Tests die Lösung, weil das vorhandene Personal dem Ansturm der Studierenden nicht mehr Herr wird.

Es gibt kaum noch das Gespräch zwischen Lehrendem und Lernendem. Überhaupt wird wenig geredet an Universitäten, die Institute sind riesig, die Studenten kennen einander nicht, die externen Lehrenden kennen einander nicht und sind außerdem Konkurrenten, die internen, Assistenten, Dozenten, Professoren, o. oder ao., verkehren per E-Mail oder sind ohnedies verfeindet.

Apropos Professoren: Es gibt ja kaum noch welche. An vielen Instituten ist nichts mehr so, wie es war, nur an der Anzahl der Lehrstühle hat sich wenig geändert. Gemessen an der Fülle der Studenten verschwinden die Professoren. Es kamen (laut Rechnungshofbericht vom 25. Jänner 2010) im Wintersemester 2008/2009 an der Universität Wien 190,7 Studenten auf einen Professor, an der Wirtschaftsuniversität Wien, sie führt österreichweit im Negativrekord, gar 330,9. Dafür sind an der Universität Wien 43 Prozent des wissenschaftlichen Personals nebenberuflich tätig (an der Wirtschaftsuniversität 42 Prozent), was heißt, dass schlecht bezahlte Arbeitskräfte in prekären Beschäftigungsverhältnissen einen universitären Notbetrieb aufrechterhalten.

Sie dürfen maximal 7,99 Stunden pro Woche lehren und nebenbei gratis Diplomarbeiten betreuen, was als besondere Ehre kommuniziert wird. Wie viel sind 99 Prozent von 45 Minuten? 44,55 Minuten, demnach 44 Minuten und 33 Sekunden. Lehrbeauftragte sind also beauftragt, maximal siebenmal 45 Minuten plus 44 Minuten und 33 Sekunden pro Woche zu lehren. So schützt sich die altehrwürdige Institution vor dem eigenen Personal, da „Lehraufträge keine Hintertür zu einer Vollbeschäftigung an der Universität sein sollen“.

Ach ja, wie man sieht, noch etwas hat sich erhalten, das akademische Viertel. Eine universitäre Stunde ist so lang wie eine Dreiviertel-Alltags-Stunde. Eine Lehrveranstaltung, die um 14 Uhr beginnt, beginnt tatsächlich um 14.15 Uhr. Wenn sie tatsächlich um 14 Uhr beginnen soll, wird sie noch immer angekündigt mit dem Zusatz s. t., sine tempore, oder pktl.

Und was das akademische Proletariat betrifft – auch ein Ausdruck, der aus der Mode gekommen ist, heute euphemistisch: Prekariat –, so wird von diesen Personen erwartet, dass sie sich regelmäßig neu bewerben. Da ist ein Heer von Frauen, das draußen steht, und es wird von ein paar Männern, die drinnen sitzen, für kurze Zeit hineingebeten. Dann müssen sie allsemesterlich ihren Vertrag erneuern. Da sie auch keinen Arbeitsplatz haben respektive ein paar Schreibtische in einem überfüllten Kämmerchen vielen Personen dienen müssen, verlegen sie ihre Prüfungen und Betreuungen in Kaffeehäuser, Parks, Privatwohnungen, E-Mails, Videokonferenz. Aber sie sollen sich nicht externe Lektoren nennen, alle seien Angestellte, meint der Betriebsrat. Klammheimlich, allmählich und durch die Hintertür wurde so eine Mehrklassenuniversität geschaffen, welch ein Hohn für die altvorderen Kämpfer der frühen Siebzigerjahre.

Im Jahr 2012 werden viele von ihnen, niemand weiß derzeit, wie viele, für ein halbes Jahr oder ein Jahr in die Arbeitslosigkeit geschickt, denn dann tritt die Kettenvertragsregelung in Kraft, welche besagt, dass man Leute nicht mit Verträgen in Kette – Semester um Semester befristet – einstellen darf (§ 109 Universitätsgesetz 2002). Allerdings sind diese Regelung und der ganze Betrieb so unsäglich kompliziert, dass man niemanden finden kann, der sich auskennt. Was zum Schutz der Arbeitnehmer gedacht war, wendet sich gegen sie. Zwar würden viele unbefristete Dienstverhältnisse bevorzugen, aber die wenigsten wollen stempeln gehen und würden lieber prekär weiterwursteln.

Allerdings sind auch die, die drinnen sitzen, die obere Klasse, die ihrerseits wieder in Klassen zerfällt, mitnichten zu beneiden, sind bemüht, ihren Dienstvorschriften und Arbeitsverpflichtungen gemäß das Getriebe irgendwie im Laufen zu halten, und sei es noch so holpernd, zerfransen sich in Sitzungen, Knappheit der Budgetmittel, geforderter Internationalisierung, E-Mail-Verkehr. Statt Lehre Drittmittelbeschaffung, statt Forschung Administration, statt Denken Hecheln zum nächsten Termin und ständige Angst voreinem x-beliebigen Zitationsindex, denn der Beste ist der, der am häufigsten zitiert wird, so bemisst sich Qualität in der Forschung.

Wen erstaunt es also, dass so viele Institute den Audimaxismus (Wort des Jahres 2009) offen und offiziell unterstützen, obwohl sie nicht mit jedem einzelnen Ziel der Bewegung einverstanden sind? Professoren, Mittelbau, Lektoren, die sich „Squatting Teachers“ nennen, wünschen sich viel mehr einen – wie auch immer vorgestellten – Erfolg der Aktionen als so manche Studenten, die lieber studieren wollen als demonstrieren, die denken: so schnell wie möglich fertig werden, so schnell wie möglich fort von hier. Aussitzen und kleine Zugeständnisse war bisher anscheinend die Devise der Regierung, man hat ja schon so unendlich viele Studentenstreiks und Demos ausgesessen. Mag sein, aber zu bedenken wäre, dass an den Universitäten derzeit alle unzufrieden sind, von den Rektoren bis zu den Portieren, von den Studienprogrammleitungen bis zu den Betriebsräten – und nicht zuletzt die Studenten.

Wenn man ins Neue Institutsgebäude in der Universitätsstraße, vulgo NIG, geht, fällt einem als Erstes ins Auge: Das Gebäude bedürfte schon längst wieder einer Renovierung. Das mag als Symbolik etwas vordergründig sein, ebenso der Paternoster, der nicht mehr existiert, zu jedermanns Bedauern. Er hätte als Kulturgut geschützt werden sollen, statt dessen fiel er irgendwelchen EU-Normen zum Opfer. An seiner Stelle wurde ein Lift eingebaut, er kann nicht die gleichen Menschenmengen fassen, viele gehen zu Fuß. Aber an der Wand im Halbstock steht noch immer die Aufschrift, die inzwischen der österreichischen Bildungspolitik zur Schande gereicht: Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.02.2010)

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