Tee unter der Autobahn

Früher hat er selbst am Bau gearbeitet. Doch mit 66 Jahren ist er zu alt dafür. Jetzt leitet Yutaka Onishi die Taglöhnergewerkschaft in Nagoya. Seine Klientel? Immer mehr junge Menschen, für die auf dem Arbeitsmarkt kein Platz mehr ist. Nachschau bei den „Working Poor“ Japans.

Treffpunkt vor BicCamera beim Bahnhof Nagoya. Der Elektronikdiskonter hat noch geschlossen. Yutaka Onishi, Chef der Taglöhnergewerkschaft Sasajima, kommt mit dem Fahrrad. Er trägt ein zerrissenes, schmutzig-weißes T-Shirt und Plastikschlapfen. Am Telefon hatte er ziemlich knapp, fast unfreundlich geklungen. Doch er begrüßt mich mit breitem Lächeln. Goldzahn. Das Haar grau meliert, sehr ins Weiße. Wir gehen einige Straßenzüge, er schiebt das Fahrrad neben mir her und fragt mich vorsichtig ein wenig aus, bis er vor einem schäbigen, winzigen Haus stehen bleibt, vor dem sich alte Fahrräder und anderes Gerümpel türmen. Ein heruntergelassener, verrosteter Rollladen im Erdgeschoss. Davor ein kaputter Bürosessel.

„Hier ist das Büro. Erschrecken Sie nicht, es ist sehr klein.“ Das „Büro“ ist im ersten Stock des wackeligen Holzhäuschens, über eine steile Treppe hinauf, die gerade so breit ist, dass ein schlanker Mensch Platz findet. Am Ende der Treppe türmen sich Schuhe und Regenschirme. Ich ziehe meine Schuhe aus und denke kurz: wie gut, dass ich Socken angezogen habe. Ich gebe zu, es wäre mir unangenehm gewesen, barfuß einzutreten, es ist schmutzig. Auf dem Boden liegen Plastik- und Papiersackerln, Aschenbecher, Papiere. Zwei Männer sitzen an dem einen niedrigen Tisch, der das Zimmer einnimmt, und rauchen. Ein älterer und ein jüngerer. Der jüngere ist ein Typ, wie man ihn in Japan häufig sieht: Sonnenstudio-Teint, rot gefärbtes Haar, Sonnenbrillen. Er schwitzt und wischt sich fortwährend mit Klopapier das Gesicht ab. Onishi weist mir einen Platz auf einem sehr schmutzigen Sitzpolster zu und setzt sich selbst ans andere Ende des Tisches. Hinter ihm auf einem Regal ein kleiner Fernsehapparat, ein Faxgerät.

Die Tradition der Taglöhnerviertel in Japan reicht bis in die Edo-Zeit zurück (1603 bis 1868). Kamagasaki in Osaka, Sanya in Tokio, Kotobuki in Yokohama und Sasajima in Nagoya sind die wichtigsten „yoseba“, wie die Viertel auf Japanisch heißen. In einer Umgebung von Billigunterkünften, Pachinko-Spielsalons, Wettbüros und Kneipen konzentriert sich das Leben der Menschen, die auf der Suche nach Arbeit umherziehen. Im Gegensatz zu anderen Slumvierteln auf der Welt sind die Bewohner der „yoseba“ ausschließlich männlich und alleinstehend. Morgens kommen die Unternehmer und suchen sich die Arbeiter aus – für harte Jobs, hauptsächlich im Baugewerbe.

Vor 32 Jahren hat Yutaka Onishi die Taglöhnergewerkschaft in Sasajima gegründet, die sich um die Gestrandeten annimmt. Früher hat er selbst als Taglöhner am Bau gearbeitet. Doch mit 66 Jahren ist er zu alt für die Arbeit am Bau. So wie das Gros der Hunderttausenden, die in der Hochkonjunktur noch von ihren Taglöhnerjobs leben konnten. Heute sind die meisten zu alt, zu krank, und die Zahl der Taglöhner geht zurück, gleichzeitig steigt die Zahl der Obdachlosen. Laut japanischem Gesundheits-, Arbeits- und Sozialministerium lebten 2008 16.000 Menschen unter freiem Himmel. Doch für die offiziellen Zahlen hat Onishi nur ein müdes Lächeln übrig: „Statistisch gelten in Japan nur die als obdachlos, die wirklich im Freien schlafen. Die vielen, die in Notunterkünften oder Heimen sind, werden nicht mitgezählt.“ Gezählt werden Taglöhner und Obdachlose nur an Stichtagen.

Seine Klientel? Immer mehr junge Menschen, Opfer der Wirtschaftskrise, für die auf dem Arbeitsmarkt kein Platz mehr sei, sagt Onishi. Ein Drittel aller Beschäftigten in Japan ist heute in prekären Arbeitsverhältnissen: ohne Jobsicherheit, kaum erfasst von der Sozialversicherung, mit extrem niedrigen Löhnen, warnt die OECD in ihrem jüngsten Japanbericht. Der Ökonom und Buchautor Makoto Kumazawa spricht von einem modernen Taglöhnertum: „Die mittleren Einkommen sind eingebrochen. Japan ist zu einer Klassengesellschaft geworden, mit einer großen Zahl an Working Poor.“

Der Sozialarbeiter Makoto Yuasa, Gründer der Hilfsorganisation Moyai in Tokio, schildert in seinem jüngsten Buch über die neue Armut in Japan, wie Menschen in die Armutsfalle schlittern: „Bei den Wach- und Putzdiensten, am Bau, in Lokalen und Restaurants und in der Lebensmittelbranche gibt es nur mehr Arbeit auf Stundenlohnbasis. Die Löhne sind extrem niedrig. Ursprünglich waren das Studentenjobs oder Nebenbeschäftigungen für Hausfrauen. Jetzt aber müssen immer mehr Menschen von derartigen Jobs leben und stürzen daher in Armut.“ Hunderte Leute, die ums Überleben kämpften oder bereits auf der Straße stünden, suchten täglich bei Moyai Rat. Die Sozialstruktur habe sich drastisch verändert: „Vor wenigen Jahren kamen vor allem Taglöhner ohne Job oder Alleinerzieherinnen – heute sind es zunehmend ganz normale Durchschnittsbürger, viele junge Menschen, ganze Familien!“

Schon einmal hat Makoto Yuasa eine spektakuläre Aktion organisiert. Hunderte ehemalige Zeitarbeiter, die, von ihren Arbeitgebern hinausgeworfen, obdachlos geworden waren, errichteten zu Neujahr 2009 im Hibiya Park in Tokio eine Zeltstadt. Der zentral gelegene Park grenzt an das Arbeitsministerium. Tausende kamen, um die Aktion zu unterstützen – und zwangen schließlich die Behörden, ein nahe gelegenes Sportzentrum als Notunterkunft zu öffnen. Die Regierung stellte 4000 Unterkunftsplätze für Obdachlose zur Verfügung.

Im „Gewerkschaftsbüro“ in Sasajima sitzt mir ein älterer, ernst dreinblickender Herr gegenüber, den sie am Abend den „Sponsor“ nennen werden. Ungefragt erzählt er, dass er mit der Gewerkschaft eigentlich nichts zu tun habe. Als Privatmann unterstütze er die obdachlos gewordenen Taglöhner, indem er ihnen eine Handynummer und Adresse leihe. Damit sie Sozialhilfe bekommen – denn ohne Wohnsitz und Handynummer keine Sozialleistungen.

Mittlerweile hat Yutaka Onishi gefunden, wonach er die ganze Zeit gekramt hat, und breitet es vor mir aus. Zeitungsartikel über ihn und die Gewerkschaft, Kopien handschriftlicher und getippter Notizen, von ihm verfasste Aufsätze, ein Buch über Sasajima. Auch er tut sein Bestes, die Öffentlichkeit zu alarmieren. Ich bin schon beim Gehen, als er beiläufig erwähnt, dass er auch singt und Performances gibt. „Das möchte ich sehen“, sage ich spontan, „wann treten Sie denn wieder einmal auf?“ Heute Abend, sagt er. Der Rotgefärbte begleitet mich zurück zur U-Bahn und erzählt mir dabei im Eiltempo seine Lebensgeschichte. Er ist merkbar froh, dass ihm jemand zuhört. 41 Jahre sei er alt, sagt er, und psychisch krank, und deshalb könne er nicht mehr arbeiten, früher habe er diesen und jenen Job gemacht, jetzt aber leider er unter Panikattacken, wenn zu viele Menschen versammelt seien. Japan muss für ihn ein Horrortrip sein.

Gegen Abend fahre ich zu BicCamera. Wieder bin ich zu früh dort und betrachte die Sonderangebote im knallvollen Elektronikshop. Kaum trete ich aus dem Geschäft, winkt mir Onishi fröhlich entgegen. Er trägt ein frisches Hemd. „Da sind noch zwei Gäste.“ Er stellt mir zwei Frauen vor. Die eine Typ biedere Hausfrau mittleren Alters, die andere schrill: grell geschminkt, knallbuntes Sommerkleid, Klunker, Strohhut mit künstlichen Früchten, Alter unschätzbar. Die Hausfrau zückt sofort ihre Visitenkarte. Sie arbeitet als Freiwillige in der Obdachlosenbetreuung. Die andere streckt mir ihren linken Oberarm entgegen, auf dem sie mit Kugelschreiber, in japanischer Umschrift, die Worte notiert hat: Grüß Gott, schöne Frau.

Onishi steuert auf einen Kleinbus zu, der im Halteverbot vor BicCamera steht. Wir steigen ein. Das Auto ist vollgeräumt mit Kisten und einem Klapptisch. Wohin fahren wir? Die Hausfrau zuckt mit den Achseln. Sie scheint sich keine Sorgen zu machen, also mache ich mir auch keine. Auf dem Beifahrersitz: der „Sponsor“. Onishi fährt stadtauswärts, Richtung Toyota-Stadt. Auf dem mittleren Streifen zwischen den beiden Ausfahrtstraßen, unter der auf Stelzen gebauten Autobahn, sind Zelte aus knallblauen Plastikplanen aufgebaut. Der erste Stopp. Onishi lädt einige Dinge aus dem Kofferraum aus und übergibt sie einem Mann, der mir als der Leiter der Menschenrechtsorganisation für Obdachlose vorgestellt wird und der gerade Dosen, Spaghetti und diverse andere Lebensmittel umsortiert. Er hält mir eine Dose mit der Aufschrift „Sliced Tomatoes“ unter die Nase und fragt mich, was das sei. Ich erkläre es ihm, er ist zufrieden. Ich frage ihn, woher die Lebensmittel kommen. Food Bank, sagt er knapp. Mehr will er nicht sprechen. Er zählt die Dosen, und ich störe ihn.

Ein Obdachloser schläft auf einer Matte, die Autobahn darüber bildet einen guten Schutz gegen den Regen, zu seinen Füßen zusammengekringelt liegen eine Katzenmutter und ihr Baby. Die Hausfrau ist hingerissen und hebt das Baby auf, das sich sofort an ihren Busen kuschelt. Baby trägt ein Halsband und eine Leine.

Die nächste Station ist ein ebensolcher Streifen unter der Autobahn. Auch hier die Obdachlosensiedlung. In Windeseile packt Onishi die Klappbank aus und einige Kisten und zwei Container mit Tee und Pappbechern. Jetzt sehe ich die lange Schlange überwiegend alter Männer, die bereits angestellt stehen. Brav. Still. Wie Engländer vor der Bushaltestelle. Fast die Hälfte der Obdachlosen ist laut Statistik zwischen 50 und 59 Jahre alt, gefolgt von den 60 bis 69-Jährigen. Die Hausfrau händigt den Männern gelbliche Teigklößchen aus. Onishi und ein Helfer gießen Tee in Pappbecher. Die Künstlerin hat bereits ihre Lautsprecheranlage aufgebaut und fängt mit ihrer Show an. Sie singt und spielt und moderiert, dass man glaubt, in einer Show des japanischen Privatfernsehens zu sein. Einige der Obdachlosen motiviert sie zum Mitsingen und Tanzen, es ist ein groteskes Schauspiel. Beim Anblick der alten, zum Großteil zahnlosen Männer, die wortlos ihre Pappbecher mit Tee füllen lassen, steigen mir die Tränen hoch. Einer von ihnen sagt, er lebe schon seit zehn Jahren auf der Straße, keine Chance auf ein anderes Leben. Die anderen wenden sich ab von mir: „Wer sind Sie überhaupt?!“ Keine japanischen Höflichkeiten mehr.

Onishi singt politische Lieder, wie das von den drei Taglöhnern, die ermordet wurden, weil sie ihren Lohn einforderten. Er hat eine ganze Sammlung von Fällen, die er zu Liedtexten verarbeitet hat. Immer wieder geht es um die Kämpfe mit den Yakuza, der japanischen Mafia, die als Subsubsubfirmen bekannter Konzerne fungierten. Die Yakuza werben die Arbeiter an, behalten zu hohe Vermittlungsgelder ein, prellen die Arbeiter um ihren Lohn oder zahlen bei Arbeitsunfällen nicht. Wer sich wehrt, lebt gefährlich. Davon singt Onishi.

Später, im Bus, nimmt die Künstlerin ihren Strohhut ab. Ihr kurzes, rot gefärbtes Haar ist zusammengedrückt, und sie sieht plötzlich sehr alt und sehr müde aus. Sie ist heiser, und es ist, als hätte sie mit einem Schlag jegliche Jugendlichkeit und Energie verloren. Im grellen Licht des billigen Selbstbedienungsrestaurants, in dem wir den Abend beschließen, ist sie eine 70-Jährige. Der „Sponsor“ bezahlt die Rechnung. Onishi fährt ihn, ehe er uns Frauen am Bahnhof absetzt, zum Büro der Taglöhnergewerkschaft. Als er aussteigt, rutscht der Ärmel seines Hemdes hoch und zeigt seinen voll tätowierten Oberarm. Der „Sponsor“ habe in der Lotterie gewonnen und daher viel Geld, erklärt Onishi, als habe er meine Gedanken erraten. Sie seien einander in Dankbarkeit verpflichtet. Die beiden Frauen sprechen über das Wunder eines Lotteriegewinns. Zum Abschied gibt mir Onishi die Hand, sagt auf Deutsch „Auf Wiedersehen“ und zeigt beim Lächeln seinen Goldzahn. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.03.2010)

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