Weites Feld und bunte Wiesen

Wir kennen sie, die monokulturelle Verödung unserer Dörfer. Aber was tun? Wie kommt sie wieder aufs Land, die Baukultur? Erfahrungen eines Architekten vom Land.

Ms8;0ein Engagement für das Land und seine Dörfer erwuchs aus einer Verletzung. sAufgewachsen bin ich wechselweise in einer (Klein-)Stadt und in einem Dorf. Die Räume meiner Kindheit, meinem Gedächtnis tief und körperlich eingewachsen, sind noch heute jederzeit aufrufbar: Bilder, Atmosphären, Gerüche, Raumfassungen, Blickbezüge, langsame Betriebsamkeit. Zu meinen einprägsamsten Ortserfahrungen gehört „die Allee“. Etwa einen Kilometer lang, führte sie vom Haus meiner Großeltern zum Zentrum des Dorfes. Von Stationen und Erlebnisorten wie dem von Buchsbäumen umwachsenen Denkmal (für einen Bauernphilosophen) oder der Scheune mit ihrem fruchtreichen Spaliergehölz in Etappen geteilt, war „die Allee“ der „geschenkte Raum“ zwischen großen Birnbäumen. In diesem Raum reifte mit den Birnen mein Wissen von Raumkunst und Baukultur. „Diese Bäume sind herrlich, aber herrlicher noch ist der erhabene, gesteigerte Raum zwischen ihnen“: Mit diesem Rilke-Satz sind auch meine damaligen Eindrücke beschrieben.
Und die Dorfmitte, obwohl in keinem Reiseführer – ein Manifest der Raumkunst. Raum statt Zwischenraum: straßenartig lang, zu Plätzen geweitet, Ein- und Ausblicke, Enge und Weite im Wechsel. Umfasst wurde diese Mitte von einem „Erlebnisparcours“ aus Landgasthöfen, Jausenstationen mit Gastgärten, Rast- und Aussichtsplätzen und Gehöften, jedes eine eigene und ganze Welt. Ein Ring aus Geschichte und Geschichten.
Erlebnis für einen Schöngeist? Nein! Denn wollte man das Nützliche, war es nur im Verein mit dem Schönen zu haben. Die Spielplätze der Kindheit trugen zentnerschwere Fruchternten. Geschlossene Energie- und Ernährungskreisläufe in Hainen voll Schatten und Sonne. Wirtschaftseinheiten als „dichte Packung“. Arbeitsplätze, Wertschöpfung, harmlose, heitere, vor allem konsumbefreite und damit jedermann zugängliche Freizeitangebote (Eislaufplatz, Flussbad, Rodelbahn) in engster Nachbarschaft. Zwischen Freizeit, Arbeit und Wohnen waren die Grenzen weder räumlich noch zeitlich auszumachen.
Dann ging alles ganz schnell. Die Sattlerei meines Großvaters war eines der ersten Opfer, dann starben die Bäckereien, der Greißler, der Drechsler, das Kino, der Drogist, der Buchladen, das Postamt: Wohnen über toten Sockelzonen. „Meine Allee“ wurde geflutet vom Lärm und der Abluft der neuen Umfahrungsstraße. Gewerbe- und Einkaufshallen haben die letzten Baumreihen erst kürzlich wegradiert. Komplexität, Beziehung, Struktur, Funktionsvielfalt, Schönheit, Begegnung, Raum, Lebensqualität – all das ist Baukultur. Ihr Verlust – das war meine Verletzung!

Meine Reaktion? Ein giftiger Sud aus Trauer, Wut, Zynismus und ein Pendeln zwischen Aufbäumen und Resignieren. Ich habe aufgeschrien, protestiert, dagegen angeschrieben. Ich bin geflüchtet, habe meine „zerstörten“ Beziehungsorte oft viele Jahre gemieden. Ich habe große Umwege in Kauf genommen, um den grässlichsten Geschwüren zu entgehen. Und fallweise habe ich mich mit der von mir gestalteten Fernsehserie („Plus/Minus“, 1985 bis 1993 im ORF-„Österreichbild“ respektive in „Vorarlberg heute“) auch gerächt.

Der Erfolg auf meiner Seite war zweifelhaft, die Genugtuung von kurzer Dauer. Mein Widerstand zerbarst im Kugelhagel baukultureller Zerstörung. Vor allem die ihr innewohnende „Logik“ schien unüberwindbar: Wohlsstand, Rationalisierung, Arbeitsplätze, Effizienz, Wettbewerb, Zeitgewinn. Zurück blieben Gefühle von Heimatlosigkeit und persönlichem Scheitern.
Die Wende setzte am Tiefpunkt ein und in der orm von Akzeptanz. Ich begann zu versstehen: Man kann alles bekämpfen, aber Widerstand gegen die Vergänglichkeit an sich ist zwecklos. sDas definitive Ende einer tausendjährigen Agrarepoche setzte just mit dem Ausklingen des industriellen Zeitalters ein. Ihre Lebens- und Bauformen konnten nicht ausgespart bleiben. Diese (alte) Form nachhaltiger Kreisläufe und kleinräumiger Durchmischung war, mit ihren Bauwerken, nicht zu retten. Der Fortbestand des Alten – gleichgültig ob von außergewöhnlicher Qualität oder nicht – ist immer nur eine Frage der Zeit. Und die Radikalität, mit der sich dieser Abschied vollzog, war schon im Auftakt zur Industrialisierung angelegt.
Die Kraft kam zurück. Ich entschied, sie nicht im Widerstand zu vergeuden. Meinen Blick für jede Spur des Neuen, für jeden Schimmer der Hoffnung schärfend, be- schloss ich: Alle Kraft für eine neue Baukultur! Bitterkeit und Zynismus waren mein Kritiker- und Journalistenschicksal. Als Gestalter haben wir Werkzeuge. Das Neue konnte nur anders, musste aber gleich gut oder noch besser sein. Allem voran konnte es nur aus den Möglichkeiten der Gegenwart wachsen. Wir müssen dort beginnen, wo wir sind (Richard Rorty).
Ich lenkte die Blicke auf die Chancen zur Veränderung, begann, auch für kleine Bauvorhaben komplexe Programme zu schreiben, entwickelte Häuser als Lebenswelten und erfand da oder dort ein Thema neu: die Schule, die Landwirtschaft, Tourismus, das Zusammenwohnen. Ich legte mein während des Studiums kultiviertes Bild des Architekten als eines heroischen Einzelkämpfers ab, öffnete mich der Mitsprache und Kooperation und (viel zu spät) der Teamarbeit.
Parallel dazu wuchs mein Verständnis für die Kritik an der Architektenschaft. Ich bedauerte unsere Selbstbezogenheit und die Unbeholfenheit unserer Kommunikation und Vermittlung. Gleichzeitig gewann ich Verbündete und das Vertrauen von Bürgermeistern, Unternehmern und Organisationen. Gemeinsam lernten wir, dass Architektur in gesellschaftliche Prozesse hineinzuwirken vermag, um später jene Form zu wählen, die sie zum meist geeigneten Transformationshebel werden lässt. Wir konnten persönlich erleben, in welcher Weise gute Orte Gemeinschaften konstituieren und wie aus räumlichen Vernetzungen soziale werden können – und umgekehrt. Wir wurden zu Zeugen dafür, dass gewisse Räume bestimmte Verhaltensweisen animieren: brachial und vandalisch oder achtsamer, muße- und liebevoller. Als heilsam würde ich heute den Wegfall des überhöhten Respekts gegenüber allem Alten bezeichnen. Die Gewissheit, dass nicht jeder alte Ort, jedes historische Bauwerk gleich gut oder gar bedeutsam ist, hat viel entspannt. Am produktivsten wurde jedoch die sich festigende Einsicht, dass selbst der größte „Mist“ der 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahre als „Humus“ verwertbar und wie Rohstoff zu gebrauchen ist.
Vor allem galt es, den fundamentalen Irrtum freizulegen, dass man sich beim Bauen zwischen dem Zweckmäßigen und dem Schönen entscheiden müsse. Hält sich der Schaden dieses Denkfehlers beim Kleiden gerade noch in Grenzen, so wird er beim Bauen kolossal. Wer wollte beispielsweise am Esstisch schon vor der Wahl stehen: Nährwert oder Vergnügen? Beim Bauen schien das die gängige Alternative: funktional und nützlich oder schön, aber teuer und unnütz.
Solche in 30 Jahren gereiften Einsichten wären irrelevant – weil viel zu persönlich und singulär –, gäbe es nicht deren Bestätigung durch den Baukulturgemeindepreis. 2009 vom Verein Landluft mit dem Gemeindebund (der TU Wien und der Kunstuniversität Linz) begründet und ausgelobt, zeichnet er Gemeinden, ihre Bauten, Plätze, Orte, ihre Bürger und Bürgermeister aus und rückt in unser Blickfeld, was untrennbar mit guten Bauten, gelungener Ortsgestaltung und Raumordnung verbunden ist: die Integration von Kindern, Jugendlichen und Alten, sorgfältiger Land- und Energiegebrauch, Nahversorgung, kulturelle und wirtschaftliche Vielfalt, lokale Wertschöpfung, identifizierbare Zentren, einladen-
de Orte der Begegnung, Fuß- und Radwegenetze, nachhaltige Konzepte für den öffentlichen Verkehr, Gestaltungsqualität auf allen Ebenen. Und damit auch alles, was an politischem Wollen, an Selbstorganisation, Beherztheit und Engagement dahintersteht.
sDer Baukulturgemeindepreis (Näheres im s11;0Internet unter www.landluft.at) dokumentiert ein erfolgreiches Aufbegehren gegen die allgemeine und fraglos akzeptierte monokulturelle Verödung und die lärmende Hässlichkeit unserer Städte und Dörfer. Er ist ein Statement gegen die Ohnmacht der Politik und gegen die Vereinnahmung der Kultur und unseres Kulturverständnisses durch den Event.
sUm diese Vorbilder zu wissen, die Siegergemeinden kennenzulernen und sie als Juror, so wie ich, nah und unmittelbar erlebt zu haben, ist ein Privileg und ein Elixier. Es übertrifft bei Weitem das, was ich (bei nicht zu bescheidener Fantasie) vor 25 Jahren zu erwarten gewagt habe.
Die am häufigsten gestellte Frage werden wir auch zukünftig und jetzt erst recht hören: Wie kommt die (Bau-)Kultur ins Dorf? Oder zu diesem Anlass umformuliert: Wie haben die Siegergemeinden das gemacht? Die Antwort: Es gibt kein Rezept! Die „große Lösung“ oder Strategie gibt es nicht (oder nicht mehr?). Auch das ist eine Einsicht aus der Begleitung von Entwicklungsprozessen in Kommunen. Die Zeit des Pauschalen ist vorbei. Es gibt Tausende kleinere und größere, immer wieder zu differenzierende Ansätze und Herangehensweisen. Jeder Frage, jedem Ort wohnt eine eigene Antwort inne. Ich halte es da mit dem großen Managementtheoretiker Peter Drucker, der meinte: „Es geht nicht darum, Probleme zu lösen, sondern Gelegenheiten zu nutzen.“ An Gelegenheiten mangelt es in keiner Gemeinschaft, Gemeinde, an keinem Ort und in keinem Prozess.
In vergleichbarer Weise verleiht die Erfahrung, dass Geld wichtig, aber nicht der entscheidende Faktor ist, Antriebskraft. Die interessantesten Beispiele und Projekte beweisen dies: Fantasie, Kommunikation, Vernetzung, Motivation, Vertrauen, Fehlertoleranz und das Vermögen, „spielend zu scheitern“ (Luisa Francia), sind, neben einer unbeirrbaren Ausdauer, die verlässlichsten Erfolgsfaktoren. In nahezu allen Fällen beginnt es mit einem kleinen Projekt, das Zuversicht, Begeisterung, Gemeinschaftssinn spendet und den Mut für einen weiteren, größeren Schritt.
Architektur ist ein unverzichtbarer Teil von Baukultur. Aber Baukultur ist mehr. Sie meint auch die Breite der Schultern, von denen Architektur und Kultur getragen werden. Und sie meint die Menschen – die in Architekturdokumentationen nie vorkommen. Baukultur bewegt sich auf allen Maßstabsebenen, von der Stadt und Siedlung über die Straßen und Plätze, die öffentlichen und privaten Bauten bis zu ihren Innenräumen und Details, den Stiegenantritten und Türgriffen, und von dort zur Arbeits- und Wohnkultur. Ohne dass die Formgebung vernachlässigt wird, ist immer auch die Gestaltung gesellschaftlicher Beziehungen und funktionaler Abläufe gemeint.
sBaukultur zielt auch, aber eben nicht nur, auf den sozialen und ökonomischen Überschuss, der aus Kultur, auch aus Schönheit entsteht. Baukultur ist nicht abstrakt, sondern konkret – auf konkrete Aufenthaltsverhältnisse, Lebens- und Zusammenlebensqualitäten bezogen. Baukultur muss nicht gewusst, sondern erlebt werden. Baukultur ist ein weites Feld, eine vielfältige bunte Wiesse. Auch wenn noch vieles zu tun bleibt gesät ist die Blumenwiese allemal. ■

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