Verwundbar

Zum Tod des Publizisten und ehemaligen „Extrablatt“-Chefs Harald Irnberger.

Wir saßen in einem kleinen Lokal in Managua, aßen Vorspeisen und tranken Bier. Als wir fertig waren und er bezahlt hatte, bedankte er sich für das Restgeld höflich mit einem „Gracie“, dann schaute er seine Frau ein wenig unsicher an. Sie sagte wütend „Es heißt Gracias!“. Ihr kritischer Blick traf ihn nur einen kurzer Moment lang, dann entspannte sich ihr Gesicht in einem breiten, lässigen Lachen und sie begann begeistert zu erzählen, dass sich so mancher Journalistenkollege schon gewundert habe, wie ihr Mann, obwohl er in Nicaragua lebe, mit diesen rudimentären Spanischkenntnissen zu solch profunder Einschätzung der politischen und gesellschaftlichen Bedingungen Lateinamerikas kommen konnte. Er habe dann immer „ich lasse lesen“ geantwortet und dass es ihm reiche, beim Fleischhauer mit Kennerblick das beste Stück Fleisch auszuwählen und zu erwerben. Dazu benötige er reichhaltige Erfahrung und einen Finger, für den Rest der sprachlichen Angelegenheiten sei seine Frau verantwortlich. Was ihn an Wissen nicht auf Deutsch erreiche, lasse er von ihr lesen und sich nahebringen.

Nach einer wie dieser, in Wien als „Schnurre“ bezeichneten, Geschichte, folgten an den gemeinsam verbrachten Abenden viele weitere aus den Jahren in Vietnam, im Iran und aus Kuba. Sie fügten sich nahtlos ineinander, waren geistreich, witzig, auch böse und für mich politisch prägend. Zu Bett gingen wir erst, wenn wir ausreichend gelacht, nachgedacht und über das Establishment gelästert hatten und der Rum sich dem Ende neigte. Das war 1988. Wir waren in Nicaragua, wo Harald Irnberger und seine Frau Ingrit Seibert - Irnberger damals lebten. Bei ihnen zu Hause war ein Kommen und Gehen von Teilnehmern der internationalen Brigaden, Journalisten und Fotografen und jenen, die es noch werden wollten, von Neugierigen und Ratlosen. Harald hatte sich in Österreich bereits einen Namen als Herausgeber der Zeitung „Extrablatt“ gemacht und er war ein erfahrener Journalist, der schon aus vielen Kriegs- und Krisengebieten berichtet hatte. Mit Ingrit hatte er seine kongeniale Partnerin gefunden; sie reisten, recherchierten, schrieben und publizierten gemeinsam. Im leichten Gepäck führten sie Gewitztheit, Achtsamkeit und ein luftiges Laken für ihre lebendige Erotik. Ich hatte für ihre Beziehung immer das Bild eines Schiffes, das sie gemeinsam navigieren, vor Augen. Es war mir, als zählten hierfür Signale und Zeichen mehr als Worte, um Kurs zu halten oder abzuändern. So erlebte ich sie auch noch, als sie schon lange in Spanien wohnten und sesshaft geworden waren. Sie hatten ein  schönes Stück Land gekauft, von Mal zu Mal wuchs das Haus und der Ausblick auf den in der Ferne silbern glänzenden Streifen Meeres, trieb mir jedes Mal am Abend vor der Abreise die Tränen in die Augen.

Ich kann nicht sagen, wann die Choreographie ihres Lebens aus der Bahn geworfen wurde und warum. Ingrit erkrankte überraschend und als sie vor zweieinhalb Jahren an einer nicht heilbaren Krankheit verstarb, war die erhoffte Unverwundbarkeit des Lebens entschwunden. Harald hatte ihr bis zum letzten Moment Geborgenheit und Schutz gegeben  – sie wurde von ihm getragen, gewaschen und bis zum Ende geliebt und begehrt. Von nun an war ihre Asche seine einzige Vertraute und er verstand sofort, dass er als Steuermann ihres Lebens nicht nur seinen ersten Offizier verloren hatte. Das Schiff war zerstört. Für sich alleine konnte der Autor Harald Irnberger keine neue Choreographie mehr schreiben. Kein Ziel vor Augen erkrankte er selbst – ein letzter Versuch beisammen zu bleiben. Voriges Wochenende, in der Nacht auf Sonntag, ist Harald Irnberger in Andalusien verstorben. Wofür hätte er kämpfen sollen? Am Morgen wäre er doch nur ohne Ingrit aufgewacht. Nun sind sie wieder Gefährten wie in alten Zeiten. Gute Reise!

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.08.2010)

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