Die Würde und das Digitale

E-Book, I-Pad und Konsorten: Was bedeutet die Digitalisierung des Buches für die Arbeit des Schriftstellers, für die Qualität und Authentizität seiner Texte? Und was bringt sie für den Leser?

Merkwürdig: Wann immer ich einen Beitrag für eine Zeitung geschrieben habe, kann ich mich mit einem Blick auf deren Online-Ausgabe nicht zufriedengeben; ich glaube erst an die Veröffentlichung, wenn ich auch ein gedrucktes Exemplar in Händen halte. Dabei bin ich seit 1997 systematisch internetaffinisiert worden, zunächst von „Aspekte“, das mich für das Projekt „Novel in Progress“ auf der ZDF-Seite erst mal entsprechend verkabeln musste– ein existenzieller Schock, von dem sich jedenfalls mein Füller nie mehr erholt hat.

Im Zuge der sich anschließenden Gesamtdigitalisierung habe ich meine Schriftstellerexistenz alten Schlages weitgehend verloren, bin dafür aber auch mit reichlich Neuem entschädigt worden. Selbst in der Digitalisierung unserer gesamten Bibliotheksbestände, sofern die Lizenzfragen anständig geklärt sind, sehe ich kein grundsätzliches Problem– außer dem vielleicht, dass wir mit unserer Literatur trotzdem verschwinden werden, sofern uns der Falsche digitalisiert. Ein kleines persönliches Problem sehe ich obendrein: Wenn die Reihe nämlich an mich kommen sollte, so wird mein Romanerstling, „Aus Fälle/ Zerlegung des Regenbogens“, kaum digital zu bändigen sein: Der Text ist einseitig gedruckt, er springt an gewissen Stellen der Handlung von der Vorder- auf die Rückseite des Blattes, manchmal auch wieder zurück, hin und her. Aber nicht irgendwie, sondern unter penibler Einhaltung von Wort- und Zeilenabständen, so dass jedes Blatt, gegen's Licht gehalten, von seinem Schriftbild her wieder exakt eine komplett gefüllte Seite ergibt.

Der Autor und der Schriftsteller

Nun ja, experimentelle Literatur; der Hersteller ist darüber fast verrückt geworden. In den geplanten Online-Datenbanken, ob bei Google oder wem immer, werden jene sprunghaften Wendungen der Romanhandlung nicht mehr darstellbar sein, jedenfalls nicht mehr so unmittelbar einleuchtend und sinnstiftend; das Papier in seiner Simplizität ist dem Hochkomplex-Digitalen ausnahmsweise überlegen.

Vielleicht ist es ja auch ein Segen, dass derlei vom neuen Medium zukünftig unterbunden wird; ein Autor, der als Publikationsziel nicht mehr ein Buch, sondern ein Lesegerät denkt, kann sich den geschilderten oder einen ähnlichen Kunstgriff gar nicht mehr leisten: Schon die Idee des Digitalen verändert die Erscheinungsform der Literatur.

Das heißt aber nicht, dass der Webdesigner als Nachfolger des Herstellers nicht auchverrückt werden könnte: dann nämlich, wenn ein genuiner Schriftsteller zum ersten Mal das Spezifikum des neuen Mediums erkennt und es gezielt in seinem Text bespielt. Ich rede nicht von Hyperlinks, interaktiven Modulen oder ähnlichen Mitspielangeboten, die immer vom User her gedacht werden; ich habe das Gefühl, dass es viel einfacher sein müsste, eben wie das Springen des Textes von Vorder- auf Rückseiten. Erst wenn auch die sogenannte Hochliteratur im Digitalen Erzählformen entwickelt, die nur dort funktionieren, wird sie in ihrem neuen Medium als einem neuen Zuhause angekommen sein; bis dahin ist sie nur Gast, der in einer futuristisch ausstaffierten Herberge trotz aller Zuwendung, die er dort erfährt, noch immer notorisch fremdelt.

Ob Literatur dann freilich noch Literatur sein oder ob sie in einer neuen Kunstform aufgehen wird, darüber will ich heute noch keine Krokodilstränen vergießen. Ich bin froh, dass ich mir meine altmodisch anmutenden Sehnsüchte rund um das gute alte Buch bewahrt habe. Aber gleichzeitig bin ich ebenso froh, zwangsmodernisiert worden zu sein. Und also nicht dem Chor derer anzugehören, die bei jeder neuen Gestaltungs- oder Vermittlungsmöglichkeit von Texten nach demselben Muster reagieren: „Hat Literatur das denn nötig?“ Nein, Literatur hat es vielleicht nicht nötig, auf CD oder als E-Book zu erscheinen oder im Internet per Film-Trailer für sich zu werben. Aber sie kann es sich leisten!

Es kommt ja darauf an – Achtung, These –, die digitalen Medien und ihre Möglichkeiten mit einer der Literatur angemessenen Würdezu nutzen, und nicht etwa der Hysterie des Zeitgeists zu verfallen, dem jedes neue Mittelrecht ist, sofern es nur ordentlich Aufmerksamkeit erzeugt. Lassen wir die Würde der Literatur noch einen Absatz hintan; was die Würde ihres Mediums bedeutet, wurde mir neulich im Gewimmel des Münchner Apple-Stores schlagartig klar. Das Gewimmel galt den brandneuen I-Pads, die dort zu Dutzenden einluden, sie auszuprobieren, und es waren Kinder, die sich darum rissen, die Nächsten zu sein. Neben den professionell seriösen MacBooks sahen die I-Pads wie animierte Schiefertafeln aus, wie Hightech-Spielzeug für kleine Jungs und Männer, die in ihren Herzen kleine Jungs geblieben waren.Darauf einen Roman zu lesen würde auf michleider immer so wirken, als studiere man auf seiner Hightech-Schiefertafel eifrig Erstklässlersätze. Die Praktikabilität, vom genialen Touch-Pad bis zum bequemen Transport ganzer Bibliotheken, wäre mir kein adäquaterErsatz für das, was mit der Würde des herkömmlichen Mediums verloren geht.

Denn das Buch, sofern es hochwertig produziert und gestaltet ist, strahlt auch heute noch etwas eminent Erwachsenes aus. Wie könnte man in Zukunft eine gleichwertige Würde auch mit dem E-Book erzielen, idealerweise auf eine solch unaufgeregt selbstverständliche Weise wie mit dem Buch? Um die Frage nach der Würde des Mediums, besser verstehen zu können, ist es vielleicht hilfreich, einen kleinen Exkurs einzuschieben über die Wesensverschiedenheit von Autor und Schriftsteller.

Abgesehen vom herrschenden Sprachgebrauch, der jeden als Autor bezeichnet, der etwas Gedrucktes vorzuweisen hat, lässt sich mit dieser – zugegeben willkürlichen – Begriffsunterscheidung zumindest ansatzweise demonstrieren, was den Schriftsteller von allen anderen unterscheidet, die gleichfalls Bücher produzieren: Es ist die Getriebenheit seines Tuns, die ihn ein Leben lang in die Pflicht nimmt, das rigoristische Erzählen-Müssen, das jede seiner ästhetischen Bemühungen auch zu einer moralischen macht – schließlich ist diese Mission in eigener Sache nur gegen mannigfaltige Widerstände durchzusetzen, ist sein Eigensinn zutiefst mit einer Haltung verbunden, die sich bei vielerlei Gelegenheit in seinen Texten widerspiegelt. Eben dies Unfreiwillige seines Schreibens verleiht dem Schriftsteller eine Glaubwürdigkeit, die ihn im Lauf seines Lebens zu einer Persönlichkeit, wenn nicht zu einer Instanz machen kann. Und zwar völlig unabhängig davon, ob er im realen Leben etwa ein Versager gewesen sein sollte, ein Hallodri, Macho, Großmaul oder was auch immer. Sein Ethos entzündet sich an jedem seiner Sätze; indem er sie nicht nur mit den notwendigen Partikeln des zu erzählenden Plots, sondern auch mit Partikeln der eigenen Lebenserfahrung bestückt, gewinnt jedes seiner Bücher etwas Einmaliges, das einem Autor in dieser Komplexität nicht gelingen kann. Der beschränkt sich auf die Produktion von Texten, ist dabei vielleicht sogar erfolgreicher, handwerklich perfekter, vergnüglicher zu lesen als ein Schriftsteller; er macht Bücher, die der Markt nachfragt, durchaus mit Kalkül anstelle von Eigensinn, und er verschwindet auch wieder als öffentliche Person, wenn seine Bücher verschwinden. Wohingegen der Schriftsteller auch ohne permanente Präsenz auf dem Buchmarkt Schriftsteller bleibt, schließlich beglaubigt er sich nicht nur durch seine Werke, sondern vor allem durch die Persönlichkeit, die dahinter steht.

Stil ist nichts weniger als Moral

Ja, die Suche nach dem Schönen ist auch im Bereich der Literatur ein moralisches Unterfangen. Stil ist, überspitzt formuliert, nichts weniger als Moral; ich glaube, dass ein ästhetischer Rigorismus zutiefst inhaltliche Konsequenzen hat– dass sich darin eine Haltung zur Welt zeigt und immer weiter schärft, die man vielleicht als zwanghaft idealistische Besorgtheit bezeichnen könnte.

Wenn die Sorge des Schriftstellers allerdings– nicht nur, aber eben auch– jedem kleinsten Textdetail gilt (und auf diese Weise Anteil hat an der großen Grundsorge für das Leben generell), so ist selbst die Sorge um die Erscheinungsform seines Textes eine Pflicht, die weit über bloße Verpackungs- und Marketingstrategien hinausweist. Als ich vor zehn Jahren von Luchterhand zu Hoffmann und Campe wechselte, musste ichfeststellen, dass der dortige Herstellungsleiter eine Liebe zu möglichst weißem, möglichst dickem Papier hegte, die Bücher sahenin der Regel entsprechend aus. Ich hatte einige Gespräche zu führen, bis ich für meine erste Publikation im neuen Verlag ein gelbstichiges Papier zugestanden bekam, der Herstellungsleiter machte sich über mich lustig: Schriftsteller. Naja. Schwierig. Inzwischen istdas Programm des Verlages auf ganzer Linie optisch angehoben, schlanke Bücher haben Konjunktur, rein weißes Papier, glaube ich, wird überhaupt nicht mehr verwendet.

Man sage nicht, das seien hypertroph aufgewertete Nebensächlichkeiten! Nein, all das spielt beim Erstkontakt zwischen Buch und potenziellem Leser subkutan eine große Rolle, einem Buch soll man's ja idealerweise ansehen, von wem es für wen geschrieben ist. Auch Buchgestaltung als die Kunst der angemessenen, der authentischen Verpackung hat ihren ethischen Kern und sorgt dafür, dass die richtigen Leser zum richtigen Buch finden, ja, dass sie eine spontane Lust darauf bekommen.

Bricht mit I-Pad, Kindle und Konsorten etwas Neues an, und zwar zunächst einmal für Schriftsteller? Dass an den Rändern ihres Materialobjekts, dort, wo das Experimentelle wartet, gewisse Kurskorrekturen zu erwarten sind, habe ich ja bereits erwähnt; dass sich Autoren jedweder Provenienz des neuen Mediums– mit Gewinn– bedienen werden, erscheint ebenfalls nahe liegend. Aber Schriftsteller in ihrer je eigenen Verbohrtheit und Unflexibilität? Interaktives Erzählen ist ihnen ein Widerspruch in sich, schließlich werden Erzähltexte seit eh und je in einer „gültigen“ Version überliefert, nicht in einer dem Zuhörer bestangepassten, sie haben einen Schöpfer, einen Erzähler, der Rest hat gespannt zuzuhören– nicht zuletzt verdienen Schriftsteller ja eben damit ihren Lebensunterhalt.

Was also bietet ihnen das neue Medium? Die Würde ihres Berufstands wird nicht zum Geringsten darin bestehen, auf viele Möglichkeiten der Animation rund um das Kernprodukt zu verzichten; ein Beruf mit Zukunft dürfte der Medienberater des Schriftstellers sein, der darüber entscheidet, was auf welchen Zusatzplattformen vermarktet wird, ohne das Hauptprodukt, beispielsweise einen Roman, zu diskreditieren.

Aber ansonsten ändert das neue Medium an der Arbeit des Schriftstellers gar nichts, der Netto-Text wird in digitaler Form kein Deut weniger authentisch sein als in gedruckter– schließlich stellen wir ihn selber längst in digitaler Form her. Das Neue wird also weniger die Produktions- als die Distributions- und Rezeptionsgewohnheiten ändern. Und das wiederum kann dem Schriftsteller nicht gleichgültig sein, denn es wird– rechnet man die Entwicklung einmal hoch– den Autoren unter den Bücherschreibern vielfältige Vorteile verschaffen: Digitalisierung des einstmals Gedruckten wird an der Qualität des Textes nichts ändern, wohl aber an seinen mehr oder eben wenigerliterarischen Randparametern, die bis datowichtige Signalfunktionen innerhalb der Kulturvermittlung übernahmen– eine Art Buchgestaltung fällt in Zukunft ja ersatzlos weg. Und lässt den Leser mit seinem immergleichen Lesegerät als Rahmen um die verschiedensten Texte allein. Digitalisierung ist der große Gleichmacher unter den Texten, also auch unter Autoren und Schriftstellern. Von den Lesern ganz zu schweigen, die sich bestenfalls noch als Lesende erkennen können: All die spezifizierenden Codes, die das Buch permanent auch über seinen Leser an diejenigen versendet, die ein Auge dafür haben, gehen nun schlagartig verloren.

Das Schlimme daran: Egal, was zukünftig an Texten auf unseren Lesegeräten geladen ist, es wird immer authentisch aussehen, eben weil wir den schieren Anblick längst gewohnt sind. In Wirklichkeit jedoch sind sämtliche Texte ihrer authentifizierenden Einkleidung von einst enthoben und der Gefahr der Bagatellisierung signal- und schutzlos ausgeliefert; und wer entscheidet da noch vorab, wenigstens als plakativer Lesetipp via Sternchenrating oder Ähnlichem, über den Wert des Werkes, wenn nicht das Portal im Netz, durch das wir überhaupt erst zu unserem Text gelangt sind? Vor dem Portal sind alle E-Books gleich, dahinter allerdings sind manche gleicher, und es werden in der Regel nichtdie Texte der Schriftsteller sein. Denn der Markt wird natürlich all das bevorzugt mit digitalen Randparametern und Bonustracks aufrüschen, was eine ordentliche Verkaufszahl verspricht, beispielsweise einen Fantasy-Roman, der nach der Entfaltung der notwendigen Anfangssequenz im Text immer wieder Hyperlinks anbietet, die direkt zum entsprechenden Spielerniveau der entsprechenden Fantasywelt im Netz führen.

Übrigens wird das gedruckte Buch in dieser Verwertungskette kaum noch eine nennenswerte Rolle spielen, vielleicht wird man es bei erfolgreichen E-Books als Luxusedition für Sammler vertreiben. Spannend, keine Frage! Ich verspüre keinegeringe Lust auf die Neuartigkeit dieser E-Books, und eine authentische Erfahrung für den Leser beziehungsweise Nutzer bieten sie mindestens so stark wie dasherkömmliche Buch. Aber wo bleibt im Kampf um die Marktanteile die vergleichsweise altmodische Authentizität dessen, was ein Schriftsteller in seine Texte zu legen versucht, und woran werde ich seine Werke zukünftig erkennen? Und wo überhaupt erst einmal finden? Die umfassendeDigitalisierung des Gedruckten wird zwarrein optisch der große Gleichmacher, in der Substanz jedoch der große Ungleichmacher sein; Neuerscheinungen von Schriftstellern wird man wahrscheinlich nur noch als vergleichsweise mickriger Netto-Download vertreiben. Ob es im Vergleich mit opulent programmierten Bestsellern gelingen kann, diesen offensichtlichen Mangel als neue Form des Reichtums zu codieren? Und dadurch dieWürde des Produkts Literatur auch im neuen Medium zu bewahren oder mit sparsamen Mitteln neu herzustellen?

Wenn ich also nur zu einer gebremst euphorischen Einschätzung der Entwicklung komme, so will ich nun auch den wahren Grund dafür verraten: Ich habe nämlich in meinem Leben, selten genug, ein paar sehr spezielle Glücksschocks erlitten, meist in den Großraumwagen der ICEs: den plötzlichen Schock, eines meiner Bücher zu sehen und dazu jemanden, der es tatsächlich gerade liest. Kann es ein größeres Glück für einen Schriftsteller geben? Und ein größeres Unglück, derlei in Zukunft nie wieder zu erleben, weil ja auch in den Großraumwagen überall nur noch I-Pads zu sehen sein werden und also im Vorübergehen kaum zu erkennen sein wird, was da gerade gelesen wird? Selbst wenn wir zufälligerweise doch noch einmal auf jemanden stoßen sollten, der auf seinem Lesegerät gerade das Titelblatt eines unserer Bücher geladen haben sollte: Wir würden es nicht annähernd so genießen können, wie wenn das Buch selbst mit all seinen herrlich vertrauten Zusatzsignalen vor unseren Augen läge. Und weil man ein digitales Titelblatt ja nicht mehr mit Händen fassen kann, würden wir das, was wir da eben im Vorübergehen zu sehen vermeint haben, wahrscheinlich schon nach wenigen Schritten gar nicht mehr glauben.

Europäische Literaturtage

Zum zweiten Mal finden heuer die Europäischen Literaturtage statt, diesmal vom 23. bis 26. September in Spitz an der Donau (Wachau). Programm: Details zu den Veranstaltungen unter http://wachau.readme.cc Polityckis Text beruht auf dem Vortrag „Die Authentizität des Digitalen“, den er in erweiterter Form am 24. September, 14.30 Uhr, im Renaissance-Saal im Schloss Spitz halten wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.09.2010)

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