Anders sehen

1997 durch eine Krankheit erblindet, rang der Kanadier David Webber zehn Jahre lang um seine Sehkraft. Heute hält er Workshops für Menschen, die besser sehen wollen. Eine Begegnung.

David, warum ist dein Auge so rot?“ Als Arbeitskollegen dem 43 Jahre alten Computeranalysten David Webber wiederholt diese Frage stellen, hat er keine Ahnung, warum sein Auge entzündet ist. Er ignoriert es, bis es nicht mehr zu ignorieren ist. Als sein Augenarzt ihn sofort an einen Spezialisten verweist, ahnt er Übles. David hat eine massive Erkrankung des Immunsystems, die sich auf seine Augen schlägt, die Diagnose lautet Uveitis. Er erlebt, wie sein visuelles Wahrnehmungsfeld täglich kleiner wird. „Eines Tages konnte ich meine Uhr nicht mehr lesen“, sagt er. Oder: „Plötzlich konnte ich den Tropfer für meine Medizin nicht mehr zurück in die Flasche stecken. Ich traf nicht mehr hinein, egal wie nah ich sie hielt. Innerhalb einer Sekunde wusste ich, dass jetzt mein dreidimensionales Sehen auch weg war.“

Plötzlich sind Beklemmung und Kummer in diesem lebendigen, fröhlichen Mann zu spüren. „Sehen ist Licht“, meint David, „aber Nichtsehen ist nicht dunkel.“ Es wird innerhalb weniger Monate zunehmend schwieriger für ihn, seine Arbeit zu erledigen. Er beschreibt, wie er in Besprechungen mit extradicken schwarzen Markern seine Notizen machte, ein Wort pro Seite, „völlig lächerlich“. Sein Vorgesetzter ist verständnisvoll und trägt die Situation, soweit er kann. Aber dann kommt der Punkt, an dem beiden klar wird, dass es nicht mehr geht. David hört zu arbeiten auf: „1997 war für uns Computerleute eine extrem aufregende Zeit, der Beginn des Internets, und es war wirklich sehr, sehr traurig für mich, aufhören zu müssen.“

David ist schwer krank, kann nicht mehr Auto fahren, zieht zurück in das Haus seiner Eltern, es beginnt eine jahrelange Phase der Behandlungen, Operationen, ständiger Augenmessungen, des Hoffens und Zitterns um jede Handbreit Sehkraft: „Eine sehr schwierige Zeit der Veränderung. Eine Funktion zu verlieren ist, wie einen Teil deines Selbst zu verlieren. Wenn dir dann Ärzte sagen, das war's, es ist nicht wieder herstellbar, dann kommt die große Traurigkeit. Nie mehr Lesen . . . Unzählige Aktivitäten waren verloren.“

In der Zeit der großen inneren Unsicherheit verschiebt sich auch Davids äußere Welt: Es wird deutlich, wer Freund ist und wem er zu kompliziert wird. Kollegen, Bekannte wenden sich ab, verlieren den Kontakt und kämpfen auch mit ihren eigenen Ängsten. „Sie sahen, dass derart plötzlich und schnell unverschuldet ein gravierendes Augenproblem auftreten und zu Blindheit führen kann, und das setzte vielen sehr zu. Viele hatten auch Schwierigkeiten, ihr Mitgefühl auszudrücken. Es war wirklich nicht leicht. Für niemanden.“

Schließlich wird David offiziell für blind erklärt. Aber was heißt blind? Dass kein Licht mehr durch die Augen ins Sehzentrum dringen kann? Ist Blindheit also die Absenz von Bildern? „Wenn wir träumen, sehen wir Bilder. Und woher kommen diese Bilder, ganz ohne Licht, mit geschlossenen Augen? Es gibt ja innere Bilder, die Imaginationen unseres Bewusstseins. Sehen scheint also nicht notwendigerweise mit einem funktionierenden Sehsinn zusammenzuhängen.“

Für David beginnt eine persönliche Entwicklung, eine Art Reise. Parallel zu den schulmedizinischen Bemühungen beginnt er, sich für andere Zugänge zum Thema Sehen zu interessieren. Er meditiert. Und er findet durch Zufall die Feldenkrais-Methode, deren Lehrer mit verbalen, langsamen Anleitungen ihre meist am Boden liegenden Schülerinnen und Schüler durch Bewegungssequenzen leiten. „Wenn ich ohnehin den ganzen Tag deprimiert herumliege, dann kann ich das wohl genauso in einer Feldenkrais-Stunde machen“, meint David über seinen ersten, zögerlichen Kontakt. Zunächst ist er Schüler, dann beginnt er ein vierjähriges Training, um selbst Lehrer zu werden: „Es gab natürlich eine gigantische Veränderung in meiner kinästhetischen Wahrnehmungsfähigkeit, meinem Gefühl für Berührungen. Vielleicht wäre ich als blinder Mann auch ein guter Parfumeur geworden. Aber auf jeden Fall kam es zu einer völlig neuen Balance zwischen meinem inneren und äußeren Erleben.“

Seine Darstellung heute zeichnet ein differenziertes Bild: Er lernte, „anders zu sehen“. Das Licht wurde weniger, „aber ich erlernte neue Wahrnehmungsformen, und die sind ja auch eine Art des Sehens. Es war nur anders. Meine Beziehung zu Licht änderte sich sehr, es war schmerzhaft, und ich konnte jahrelang nicht an großen Wasserflächen stehen, weil es viel zu hell war. Ich war vom Licht geblendet.“

David beginnt, sich zurechtzufinden. Unter großem emotionalem Druck, nämlich der Angst, dass die Sehkraft, also seine Nerven, völlig der Krankheit zum Opfer fallen könnten, sucht er Wege. Er probiert es in alle Richtungen, bricht jedoch niemals seine schulmedizinischen Behandlungen ab. „Münzen erkennen war sehr schwer. Da half mir der Blindenverband mit Trainings. Aber ansonsten fühlte ich mich dort nicht wohl, ich wollte kein Opfer sein, ich wollte mich nicht an das Problem gewöhnen und lernen, damit zu leben. Ich wollte das Problem verändern, so dass ich damit leben konnte, wie ich wollte. Ich spürte mit absoluter Sicherheit, dass es möglich ist, etwas zu verbessern. Ich wusste nicht, wie, aber ich spürte es und gab nicht auf.“ In Zeiten des Stillstands findet er zur fundamentalsten Funktion zurück: zur Atmung. Er verbringt viel Zeit damit, seine eigene Atmung zu beobachten, weiter nichts zu tun. Jahrelanges Interesse an Meditation und Buddhismus bedeuten, dass er „Werkzeuge hatte, um in so einer Situation weiterzukommen“.

Schließlich findet er seinen Weg: „Die Feldenkrais-Methode gab mir die Möglichkeit, auf andere Dinge zu fokussieren, nicht nur das Problem im Blick zu haben und der Spirale der Hoffnungslosigkeit zu entsteigen. Ich begann, mich wieder als ganzes Selbst zu erleben, das gab Kraft, und mein Ansatz war: Angst blockiert meinen Heilungsprozess, aber mit diesem neuen Selbstgefühl kann man arbeiten.“

Der Physiker Moshé Feldenkrais (1904 bis 1984) prägte einen Zugang zu menschlicher Entwicklungsfähigkeit, der heute weltweit gelehrt und von Menschen angewandt wird. Wie bei David Webber war es auch für Feldenkrais eine massive Einschränkung, aufgrund einer Knieverletzung, die ihn dazu führte, sich auf eine Entdeckungsreise zu machen und sich die gewünschten Funktionen zurückzuerobern. Sehr früh hatte er großes Interesse an Neurophysiologie und erkannte, dass die menschliche Lernfähigkeit die Grundlage für verbessertes Wohlbefinden ist. Die von ihm entwickelte Methode, die er zu Lebzeiten in Israel, Europa und vor allem in den USA lehrte, nützt sanfte Bewegungen, um Bewusstheit zu erreichen und in der Folge dazuzulernen. Schüler der Methode können an hoch spezialisierten Bewegungen Interessierte sein (Musiker, Sportler) oder einfach wissen wollen: Wie bewege ich mich besser, schmerzfrei, schneller, ökonomischer? In letzter Konsequenz führt diese Art der Beschäftigung mit sich selbst zu einer verbesserten Fähigkeit der Selbstregulierung.

David Webber spricht jahrelang nicht über seine Entdeckungen, er experimentiert vor sich hin, „fast wie in einer kleinen Höhle“, macht kleine Fortschritte und erlernt das Sehen neu. Erst als er nach Jahren beweisen kann, dass er sich seine Sehfähigkeit zurückerobert hat, wendet er sich nach außen. Sein langjähriger Augenarzt misst, teilt ihm das außerordentliche Ergebnis mit, kann es nicht verstehen – und lässt ihn wieder gehen. Er hat keine Zeit, sich mit Neuroplastizität und einem Patienten, der sein Hirn neu organisiert hat und wieder scharf sehen kann, zu beschäftigen. Aber David hat etwas gefunden: sein Augenlicht – und damit wieder die äußere Welt. Noch in seinem vierten und letzten Ausbildungsjahr zum Feldenkrais-Lehrer leitet er seinen ersten Workshop.

David hat kleine dicke Brillen, die seine nach Operationen fehlenden Linsen ersetzen. Er sieht wieder genug, um selbstständig reisen und leben zu können. Am meisten vermisst er, Gesichter nicht mehr schnell erkennen zu können. Sehen kostet ihn bewusste Aufmerksamkeit, und das macht müde. Lesen zum Beispiel wird in kleinen Portionen genossen. „Das für mich Wichtigste ist, dass meine Augen stabil sind, dass mein Immunsystem stabil ist und bleibt“, sagt er. Tatsächlich verlässt er sich erst seit den vergangenen zwei, drei Jahren auf stabil funktionierende Augen. In diesen Jahren erfüllt er sich Herzenswünsche wie eine Reise nach Italien. Und er beginnt, ein gefragter Workshopleiter zu werden, der, mit profunden Kenntnissen und großer Einsicht ausgestattet, Schüler mit Hilfe der Feldenkrais-Methode anleitet, sich um ihre Augen zu kümmern, ihr eigenes Sehen zu spüren und ihre Sehkraft zu verbessern. Vom kurzsichtigen Volksschüler bis zur Großmutter, die nur mehr auf einem Auge sieht, vertrauen ihm die Menschen.

Die großen Hoffnungen weichen der Erkenntnis, dass Davids Geschichte eine der Disziplin und des Wiedererlernens ist, kein biblisches Wunder. Er lenkt den Blick auf neurophysiologische Tatsachen: „Man kann mit Sicherheit sagen, dass alles Sehen mit Emotionen zu tun hat. Das limbische System, das emotionale Zentrum des Gehirns, ist der Torhüter des visuellen Zentrums, es liegt zwischen Augen und dem Sehzentrum. Alles, was wir durch die Augen wahrnehmen, wird, noch bevor wir bewusst wissen, was wir gesehen haben, dort sortiert: Mag ich es? Mag ich es nicht? Oder ist es egal?“

Sehen zu können bedeutet heute für David, dass er so leben kann, wie er will. Er ist sehr achtsam mit sich, nimmt die Brille ab, wann immer es geht, und lebt bewusst mit seinem verschwommenen, linsenlosen Bild der Welt. Er geht sogar spazieren ohne Brille. Und er lebt mit einer neuen Sicht auf das Sehen: „Es lenkt ab. Sehen ist so grandios, es ist überwältigend großartig. Und das hat zur Folge, dass gut sehende Menschen oft völlig verblendet sind. Die echten Bilder und Wahrheiten werden verdeckt von glitzernden, scharfen Ansichten.“

Und: „Hätte ich das Ganze als persönliches Thema genommen, wäre es ein Desaster gewesen. Aber so wurde es zu einer Reise: einer Entdeckungsreise, wie sie in all den alten Mythen und Heldengeschichten vorkommt. Die gehen ja auch oft blindlings hinein ins Abenteuer.“ David Webber, der schmale Mann mit den dicken Brillen als Held? „Ich habe nicht den Mount Everest bestiegen oder alleine die Welt umsegelt. Aber ich verstand diese Herausforderung als großes Thema, als Metapher, und ließ mich darauf ein.“ Die Blindheit wurde doch nie akzeptiert? „Ich akzeptierte die Diagnose nicht. Aber ich akzeptierte die Tatsache, dass ich vor einer gigantischen Herausforderung stand. Und ich dachte: Auch wenn ich niemals hier rausfinde, dieser Weg ist zu gehen. Ich schätze mich noch heute extrem glücklich, wie dieser Weg verläuft.“ ■


Im Mai nächsten Jahres wird David Webber im „Feldenkrais Institut Wien“ zu Gast sein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2010)

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