Der Wortschatz der Nacht

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Schüchtern, doch unangepasst, verstockt. Fürsorgezögling, Dieb, Landstreicher, Homosexueller. Zum hundertsten Geburtstag des Dichters Jean Genet: Beschreibung einer Kindheit und Jugend, Beschreibung einer misslungenen „Wiedereingliederung“.

Es gibt keine andere Quelle der Schönheit als die Verletzung, einzigartig, verschieden bei jedem Einzelnen, versteckt oder sichtbar, diejeder Mensch in sich trägt, die er sich bewahrt und in die er sich zurückzieht, wenn er die Welt in eine vorübergehende, doch tiefe Einsamkeit verlassen möchte. Jean Genet


Genet wurde am 19. Dezember1910 in der EntbindungsklinikTarnier, einem staatlich subventionierten Krankenhaus, in der Rue'Assas 89 in Paris von der 22-jährigen Camille Gabrielle Genet geboren. Sieben Wochen vor der Niederkunft begab sich die Mutter in die Klinik, was auf eine schwere Geburt hindeutet. Nach sieben Monaten und neun Tagen übergab die Mutter das Kind der öffentlichen Fürsorge, der „Assistence publique“: Sie brachte ihren Sohn ins „Aussetzungsbüro des Hospizes für Fürsorgezöglinge“.

Der kleine Jean Genet, nun vom Staateingekleidet, wurde an einem Sonntag im Dorf Alligny-en-Morvan südwestlich von Dijon, nach der Messe vor dem Kirchentor, seiner zukünftigen Pflegemutter Eugénie Regnier übergeben. Man überreichte Eugénie Regnier gleichzeitig das Gesundheits- und Zöglingsheft, das sie während der Zeit seines Aufenthaltes inihrem Haushalt zu verwahren und bei seinem Verlassen zurückzugeben hatte. Alle Verbindungen zu seiner Mutter und ihrer Familie – der Vater war unbekannt – sind für das Kind in diesem Augenblick abgebrochen, und der Staaterhielt „in vollem Umfang die Rechte elterlicher Gewalt“, wie es wörtlich hieß.

Eugénie Regnier, Tochter einer frommen Kleinbauernfamilie in Alligny, war bereits 53 Jahre alt, als man ihr das Kind übergeben hatte. Das Haus von Genets Pflegeeltern lag zwischen Kirche und Schule. Die Pflegemutter, die sich bereit erklärte, einen Zögling aufzunehmen, erhielt vom Staat einen monatlichen Zuschuss. Sobald die Zöglinge das Alter von 13 Jahren erreichten, wurden sie der Vormundschaft ihrer Pflegeeltern entzogen und bei einem Arbeitgeber, meistens bei Bauern als Magd oder Knecht, untergebracht.

1650 Einwohner hatte die Ortschaft Alligny-en-Morvan, als Jean Genet seinen Pflegeeltern übergeben wurde. Heute ist es ein verschlafener Ort mit einem Gasthaus, einer mittelalterlichen Kirche, einer Straßenkreuzung. Dem Morvan wurden häufig Fürsorgezöglinge aus dem Bereich des Departement Seine zugeteilt. Der Morvan war in Frankreich auch bekannt für seine Ammen, die vor allem nach Paris gingen, um dort die Babys der Reichen zu stillen. Viele Häuser sollen nach 1900 im Morvan mit diesen Ersparnissen gebaut worden, viele Stroh- und Reetdächer durch Schiefer- und Ziegeldächer ersetzt worden sein. Diese Häusernannte man schließlich „Milchhäuser“. DerMorvan war eine sehr ärmliche Gegend, wo die Leute mit Holzschuhen durch den Morast stampften, wo die Landparzellen durch Erbfolge mehrfach geteilt und letzten Endes so winzig waren, dass kaum jemand von der Landwirtschaft leben konnte, die Leute häufig untereinander zerstritten waren und wo ein Dialekt gesprochen wurde, den die anderen Franzosen nicht verstanden.

Eine Redewendung lautete: „Es kommt nichts Gutes aus dem Morvan, weder gute Menschen noch gute Winde.“ Die Zöglinge wurden „cul de Paris“(Ärsche aus Paris) genannt, auch in Anspielung auf ihre Mütter, die nach Meinung der Dorfbewohner allesamt Pariser Nutten waren. Die Leute sagten: „Der Kleine da, der ist ein cul de Paris.“ Brannte im Morvan ein Hof, wurden sofort diese Kinder verdächtigt. Im Patois des Morvan hießen sie auch die „Brandstifter“. Selbst unter den Ministranten gab es zwei Kategorien, von denen die erste aus „leiblichen Söhnen“ bestand, die bei Hochzeiten und Beerdigungen von bedeutenden Leuten Dienst taten, und die zweite setzte sich eben aus den „cul de Paris“ zusammen, die, außer vom Pfarrer, keine Belohnung bekamen.

Charles Regnier, der Pflegevater von JeanGenet, ein Tischler, der, als der Krieg ausbrach und sich die Spanische Grippe epidemisch verbreitete, auch Särge zimmerte, hatte seine Tischlerwerkstatt im Erdgeschoß des Wohnhauses. Im selben Haus führte Eugénie einen kleinen Tabakladen. Wenige Wochen nach seiner Ankunft in Alligny-en-Morvan wurde Jean Genet in der Dorfkirche getauft. Taufpatin war die zwölfjährige Lucie Wirtz, die ebenfalls Zögling der Fürsorge und bei der Familie Regnier untergebracht war. Der Tag von Genets Taufe war der Tag von Lucies Erstkommunion. Ein Jahr lang teilten sich Jean und Lucie das Zimmer am Ende des Ganges. Die ersten zehn Tage, nachdem er von der leiblichen Mutter weg war, so erzählte Lucie Wirtz, soll Jean jedeNacht geschrien haben, danach beruhigteer sich.

Weil Jean von all seinen Schulkameradenam besten Latein lesen und sprechen konnte, wurde er zum Ersten Ministranten ernannt. Seine katholische Ziehmutter Eugénie Regnier soll ihn einmal überrascht haben, wie er allein in seinem Zimmer eine Messe vor einem selbst gebastelten Altar zelebrierte. Mit seiner Spielgefährtin Marie-Louise Robert, die mit ihren Eltern im ersten Stock des Hauses der Familie Regnier wohnte, taufte Jean, der auch Jeannot genannt wurde, Puppen, Katzen und Hunde. Dem Tischler Charles Regnier half er beim Zimmern der Särge. Die Hobelspäne von den Sargbrettern, die „Engelslocken“, sammelte er auf und legte sie zu einem toten Vogel in eine Schachtel. Marie-Louise und Jeannotbestatteten den Vogel mit dieser Schachtel und steckten ein Kreuz in den aufgeworfenen Erdhügel. Überall standen kleine Kreuze herum, die niemand anzurühren wagte. Für die kleinen Scheintaufen stibitzte er Bonbons aus dem Küchenschrank von Madame Regnier. Mit dem Nachbarmädchen entwarf er Kleider, buk Kekse, dachte sich Rezepte aus, spielte mit Puppen, und mit Marie-Louise organisierte er im ersten Stock des HausesTeegesellschaften, zu denen nur Mädchenzugelassen waren.

Er saß oft lange im Aborthäuschen und las in den dort als Klopapier herumliegenden Modekatalogen. Von außen hörte er in dieser heimeligen Zelle der Einsamkeit die lauten Gespräche von Erwachsenen, die bei der Heuernte waren, das Geschrei spielenderKinder, krähende Hähne, die Mark und Bein durchdringenden Schreie der Pfauen, die er als Zurufe des Teufels empfand, das Knarren und Klimpern von Pferdegeschirr, manchmal auch das Geläute der Dorfglocke. „Die Toilette war meine Zuflucht. Das Leben, das ich fern und verworren durch ihre Dunkelheit und ihren Geruch hindurch wahrnahm – ein anheimelnder Geruch, in dem der Duft von Holunder und fetter Erde vorherrschte, denn der Abort stand ganz am Ende des Gartens in der Nähe der Hecke –, das Leben gelangte seltsam sanft zu mir, schmeichlerisch, leicht, oder vielmehr erleichtert, der Schwerkraft enthoben. Jenes Leben schien ein wenig zu schwanken wie gemalte Träume, wogegen ich, in meinem Loch, wie eine Larve ein friedliches, nächtliches Dasein führte, und manchmal hatte ich das Gefühl, als sinke ich langsam tiefer wie in einen Schlaf oder einen See oder einen mütterlichen Busen oder auch in einen Inzest, in das geistige Zentrum der Erde. Ich blieb stundenlang in dieser Zelle hocken, kauerte auf dem Holzsitz, Seele und Körper Beute des Geruchs und der Dunkelheit, geheimnisvoll erregt, weil der geheimste Teil menschlicher Wesen sich eben hier entschleierte wie in einem Beichtstuhl. Ein leerer Beichtstuhl barg die gleichen Wonnen für mich.“

Die Ministranten bekamen vom Priester für ihre Dienste 50 Centime. Da der Pfarrer öfter auf diese Belohnung vergaß oder, da er selber knapp bei Kassa war, nicht zahlen konnte, rief Jeannot einen Streik unter den Ministranten aus. Vor einem Begräbnis versammelte er die schon schwarz bekleideten Ministranten, bevor sie zum Friedhof gingen, und sagte zum Pfarrer: „Wenn Sie wollen, dass wir bei der Beerdigung singen, dann müssen Sie zuerst Ihre Schulden bezahlen.“

Jeannots Stimme soll außerordentlich schön gewesen sein, und mit größtem Ernst soll er vor dem Altar die lateinischen Texte rezitiert haben. Oftmals sah man ihn mit einem Buch, konzentriert lesend, an eine Mauer gelehnt. Lucie Wirtz erzählte 75 Jahre später, dass Genet alle Bücher der Schulbücherei gelesen hatte. Er wurde als verträumter, oft einsamer, unangepasster Einzelgänger beschrieben, von einem „verweichlichten Wesen“ war die Rede, man sagte, dass er ruhig, schüchtern und schweigsam war, er habe selten gelächelt und den anderen oft das Gefühl gegeben, dass er ihnen überlegen sei. Er genoss die geheimnisvolle Aura, die ihn umgab, die er sich in seinem Stolz und Hochmut erschuf.

Der Zögling Jeannot beobachtete einmal, wie Berthe Regnier, seine zweite Pflegemutter, die Tochter von Eugénie Regnier, die starb, als Jeannot 12 Jahre alt war, auf dem Dorffriedhof aus einem unbekannten frischen Grab einen Strunk Ringelblumen riss, den sie auf das Grab ihrer als Kleinkind verstorbenen Tochter verpflanzte. Und als er im Haus seiner Pflegeeltern aus der Tabakladenkasse kleine Geldbeträge und in der Schule aus einem Vorratslager Bleistifte, Hefte, Griffelkästen gestohlen hatte, die er unter den Mitschülern, ohne dass er ein Geheimnis daraus machte, verteilte, sagte er zu einem Schulkameraden: „Hier im Morvan halten sich viele Leute die Kinder der Fürsorge wie Dienstboten und zwingen sie zur Arbeit. Die muss man bestehlen, wo man nur kann. Mich werden sie jedenfalls nie zum Arbeiten bringen.“ Mit einem beklebten Stäbchen holte er Geldscheine aus dem Opferstock und verteilte das Geld unter seinen Kameraden. „Als Kind bestahl ich meine Pflegeeltern. War ich mir bereits der Verurteilung bewusst, die mein Schicksal sein sollte, weil ich ein Findelkind und Homosexueller war? Ich liebte Jungen bereits, als ich sehr jung war, obwohl ich mich in der Gesellschaft von Mädchen und Frauen wohl fühlte. Die früheste Liebe, an die ich mich erinnern kann, nahm die Form eines Wunsches an, ein hübscher junger Bursche mit energischen, entschlossenen Bewegungen zu sein, den ich einmal vorbeiradeln sah. Mit 13 lernte ich das Gefühl der Liebe als die Traurigkeit kennen, die mich überkam, als ich von einem hübschen 15-Jährigen fortging. Mit zehn kannte ich keine Gewissensbisse mehr, wenn ich Leute bestahl, die ich liebte und von denen ich wusste, dass sie arm waren. Ich wurde ertappt. Ich glaube, das Wort ,Dieb‘ verletzte mich tief. Tief, das heißt: so sehr, dass ich mir wünschte, aus freien Stücken das zu sein, worüber mich andere Leute zu erröten zwangen, und es stolz zu sein, ihnen zum Trotz.“

Seine Mutter Camil- le Genet – und davonwusste Jean nichts – starbam 24. Februar 1919 im Alter von 30 Jahren an der Spanischen Grippe in Paris, im Hospital Cochin in der Nähe desFriedhofs Montparnasse, da war er neun Jahre alt. Jeannot hörte auf zu stehlen, als seine Pflegemutter Eugénie starb, da war er zwölf Jahre alt. Drei Monate nach ihrem Tod erhielt er die erste Kommunion. Abbé Charrault zelebrierte die Messe und schenkte ihm eine Reproduktion eines Heiligenbildes mit der Darstellung des Letzten Abendmahls und der Inschrift „Ich bin das Brot des Lebens“. Während der von einem Heiligenschein umgebene Christus dem schönsten Apostel Johannes die Hostie reicht, schleicht sich, den Verrat ausheckend, Judas Ischariot davon. Zwei weitere Jahre blieb Jeannot noch bei der Familie Regnier. Mit Berthe Regnier jätete er den kleinen Gemüsegarten, hütete die Milchkuh auf der Weide und saß stundenlang, bis er abgeholt wurde, verträumt oder ein Buch lesend am Ufer eines sich ruhig durch das Feld schlängelnden Baches.

Der Zögling der Fürsorge Jean Genet war der beste Schüler der Gemeinde von Alligny-en-Morvan und erhielt das „Certificat d'Ètudes Primaires“. Er wurde am 11. Oktober 1924ärztlich untersucht, sein Gesundheitszustand war zufriedenstellend. Bevor der 14-Jährige wenige Tage später das Dorf seiner Kindheit für immer verließ, versteckte er in der Kirche in der hohlen Gipsstatue der Jungfrau Maria in einer Phiole seinen Samen. „Als ich noch sehr jung war, begriff ich rasch, dass mir im Leben alles versperrt war. Ich ging zur Schule, bis ich 13 war, auf die Elementarschule im Ort. Das Höchste, was ich erhoffen durfte, war, Buchhalter oder kleiner Beamter zu werden. Und so versetzte ich mich in eine Lage, kein Buchhalter zu werden, sondern die Welt zu beobachten. Ich erschuf in mir selbst den Beobachter, der ich sein wollte, und somit den Schriftsteller, der ich werden wollte.“

Der ausgeschulte Jean Genet wurde nach Montévrain gebracht, in die „Ècole d'Alembert“, in ein Ausbildungszentrum der öffentlichen Fürsorge, um eine Stelle als Druckereilehrling anzutreten, wo er auch im Heim untergebracht wurde. Zu dieser Zeit soll er so lange Haare getragen haben, dass man einen Knoten hätte binden können. Zwei Wochen nach seinem Eintritt in diese Lehre stellte man sein Verschwinden fest. Er wurde im Bahnhofsgebäude von Nizza aufgegriffen und wieder der öffentlichen Fürsorge übergeben, die ihn danach im Haushalt des blinden Komponisten René de Buxeuil unterbrachte, wo er acht Monate lang blieb. „Ich werde mich um den Abwasch kümmern. Ruinieren Sie sich nicht ihre Hände. Spielen Sie mir lieber etwas auf dem Klavier vor!“, sagte Jeannot einmal zu Madame de Buxeuil.

„Als ich 15 war, lag ich im Krankenhaus. Ich hatte eine Krankheit, wohl gar eine Kinderkrankheit, auf jeden Fall, an jedem Tag bei der Fürsorge, im Krankenhaus der öffentlichen Fürsorge, jeden Tag also brachte mir eine Schwester ein Bonbon und sagte: ,Das schickt dir der kranke Junge aus dem Zimmer nebenan.‘ Nach einer Weile, nach 14 Tagen, ging's mir besser, und ich wollte diesen Jungen sehen und mich bei ihm bedanken, und da sah ich einen 16- oder 17- jährigen Burschen, der so schön war, dass alles, was mir vorher begegnet war, nicht mehr existierte. Gott und die Jungfrau Maria, ganzegal, wer – keiner existierte mehr, er war Gott.“

Nachdem er neuerlich ausgerissen war undman ihn vor der Abfahrt des Zuges nach Bordeaux ohne Fahrkarteerwischt hatte, wurde er in die Jugendstrafanstalt „La Petite Roquette“ eingeliefert, wo er als Person ohne Beruf und festen Wohnsitz registriert wurde mit dem Vermerk, dass er ein Abschlusszeugnis habe und dass er katholisch sei. Seine Körpergröße wurde mit einem Meter 62 angegeben, als deutliches Erkennungszeichen nennt der Bericht: „Er knabbert an den Fingernägeln.“ Vor dem Jugendgericht wurde ihm außer Landstreicherei und Verstoß gegen das Eisenbahngesetz auch Vertrauensbruch vorgeworfen, weil er 180 Franc, die ihm der blinde Komponist René de Buxeuil anvertraut hatte, unterschlagen und eigennützig verwendet habe. Vor Gericht sagte er: „Ich habe kein Geld. Man braucht Geld, um zu reisen, und ich reise für mein Leben gern.“ Nach seiner Entlassung aus der Jugendstrafanstalt „La Petite Roquette“ nahm sich wieder die öffentliche Fürsorge seiner an. Genet wurde noch nicht unter die „bösartigen Zöglinge“, wohl aber unter die „schwer erziehbaren Zöglinge“ eingereiht. Danach wurde er auf einem Bauernhof untergebracht, verschwand wieder, kam ins Gefängnis von Meaux, kam wieder vors Jugendgericht und wurde schließlich in die landwirtschaftliche Besserungsanstalt Mettray eingewiesen.

Die Besserungsanstalt von Mettray, in die der 15-Jährige an einem milden Septemberabend des Jahres 1926 eingeliefert wurde, in der er zwei Jahre und sechs Monate seiner Jugend verbringen sollte und in der damals ungefähr 300 Zöglinge lebten, war eine „Anstalt zur Wiedereingliederung von auf die schiefe Bahn geratenen Kindern“, weil laut einem der Gründungsväter „die kräftigende Arbeit des Ackerbaus am geeignetsten ist, die Unordnung des Geistes zu beruhigen“. Genet kam in Handschellen aus der Strafanstalt von Meaux, wo er 45 Tage inhaftiert gewesen war. Nachdem ein Oberaufseher dem 15-jährigen Jeannot die krausen Haare geschoren hatte, musst er sich entkleiden, wurde unter die Dusche gestellt, entlaust und in die Anstaltskleidung gesteckt.

In dieser Besserungsanstalt schliefen die Zöglinge in zinkweißen Unterhosen in Hängematten. Genets Hängematte befand sich in der Nähe eines Fensters, von wo er die Anstaltskapelle, den kleinen Friedhof, auf dem Zöglinge, Priester und Nonnen begraben wurden, und die anderen Häuschen sehen konnte, in denen die zehn Familien mit ihren jeweils 30 Zöglingen untergebracht waren. Viele Zöglinge starben an Krankheiten, an Unterernäherung, manche wurden von den Wärtern totgeschlagen. Da im kleinen Friedhof wenig Platz war, kam es oft vor, dass ein Grab ausgehoben wurde, in dem schon in mehreren Schichten die Skelette anderer Zöglinge begraben lagen. Jede Familie, die eines der Häuschen bewohnte und einfach Familie A, B, C oder D genannt wurde, führte ein Zögling an – kräftiger und größer als die anderen –, den das Oberhaupt der Familie wählte und den sie den „Ältesten“ nannten. Das Oberhaupt der Familie war meistens ein pensionierter Beamter, ein ehemaliger Unteroffizier oder Ordnungshüter. Außer diesen zehn Familien befand sich in der Besserungsanstalt von Mettray noch eine weitere Familie, die in der Nähe der Kapelle und des Friedhofs untergebracht war, die man die „Familie Jeanne d'Arc“ nannte und die zum Großteil aus Strichjungen bestand. Für die zehn anderen Familien war der Umgang mit der „Familie Jeanne d'Arc“ verboten. Nur an den Arbeitsstätten war die Einteilung der Familie aufgehoben, und die Zöglinge aus den anderen Familien und die Strichjungen mischten sich.

Da die Besserungsanstalt von Mettray im Gegensatz zu anderen Kinderstrafanstalten in Frankreich von keiner Mauer, sondern nur von Gestrüpp umgeben war, wurden viele Fluchtversuche gewagt, aber die Bauern, die 20 Kilometer im Umkreis wohnten und in der ständigen Angst lebten, dass ein 16-Jähriger aus der Anstalt ausbrechen und ihren Hof anzünden könnte, erhielten eine Prämie von 50 Francs für jeden Flüchtling, den sie in die Strafanstalt zurückbrachten. Es wurde rings um Mettray Tag und Nacht mit Forken, Gewehren und Hunden Jagd auf Kinder gemacht. Im Sommer wie im Winter mussten die Zöglinge auf den Rübenäckern arbeiten. Kurze Zeit nach seiner Ankunft in der Besserungsanstalt von Mettray schleuderte Jean Genet im niedrigen Speisesaal, dessen Wände mit schwarzem Teer gestrichen waren, dem Oberhaupt einer Familie einen Teller Suppe an den Kopf. An der schwarz gestrichenen Wand waren Parolen eingekratzt, zum Beispiel „Tod dem Bullen Gino / Gebt mein Herz meiner Mutter / Meinen Schwanz den Nutten / Und dem Scharfrichter Debler meinen Hals“. Einmal schlug Jean einen anderen Burschen blutig, der mit der Hand über die Fensterscheibe gefahren war und sie zum Knirschen gebracht hatte.

Unter den eingehackten Hängematten, in kleinen Gruppen, hockten die Zöglinge nachts, rauchten strohhalmdünne Zigaretten und entwarfen Fluchtpläne. Der beliebteste nächtliche Zeitvertreib war das Tätowieren der Achselhöhlen, Augenlider, der Leistenbeuge, der Hinterbacken, des Penis, sogar auf Fußsohlen tätowierten die Halbwüchsigen einander Stiefmütterchen und Schwalben, Schlangen, Pfeile, Schiffe, odersie ließen sich die Worte „Kinder des Unglücks“ in die Haut stechen. Während ein Junge mit der heißen Nadel hantierte und ein zweiter Schmiere stand, leckte und massierte ein dritter dem Jungen, der tätowiert wurde, die Füße, um ihn zu beruhigen und davor zu bewahren, laut loszuschreien. Das Bild eines nackten, von der Zehe bis zum Hals (oder „von der Zehe bis zum Augenlid“, wie Genet es ausdrückt) tätowierten Jungen verfolgte ihn und wurde für ihn zum Sinnbild von Mettray. (Den Zöglingen der öffentlichen Fürsorge war bekannt, dass Genet in die landwirtschaftliche Besserungsanstalt von Mettray gebracht worden war. Der Direktor dieser Fürsorge sagte oft zu den andere Kindern, wenn sie nicht parierten: „Wenn du so weitermachst, dann schicken wir dich zu Jean Genet.“)

Da Genets Verhalten während seines ersten Jahres unauffällig war, wurde er als Arbeiter auf einen privaten Bauernhof versetzt, lief aber nach einem Monat weg und wurde nach zwei Tagen in Beaugency von Gendarmen aufgegriffen, inOrléans wegen „Landstreicherei und Diebstahls“ angeklagt, fürdrei Wochen ins Gefängnis gesteckt und in die Besserungsanstaltzurückgebracht. Wegenseiner Flucht vom Bauernhof wurde er in Mettray zuerst in eine kalte Einzelzelle gesteckt, inder die Luft nur durch einen stillgelegten Kamin hereinkam. Ein große Anzahl von mit Einzelhaft bestraften Jungen soll an Kälte gestorben sein, „Blutandrang“ hatte man als Todesursache angegeben. Die Burschen mussten sich in der Zelle oft nackt ausziehen und wurden mit eiskaltem Wasser übergossen. Auf der Zellenwand stand groß und in weißer Schrift geschrieben: „Gott sieht dich!“ Als ein 25-jähriger Aufseher bemerkt hatte, dass die Hemdzipfel einiger Zöglinge mit Scheiße gefleckt waren, nötigte er alle Zöglinge, jeden Sonntagmorgen beim Wäscheumtausch die schmutzigen Hemden auszubreiten, und schlug mit dem schmalen Ende seiner Lederpeitsche dem Knaben ins Gesicht, der bei seiner Notdurft verabsäumt hatte, das Hemd in die Höhe zu halten oder den kotbeschmierten Hemdzipfel auszuwaschen oder an der Kalkwand des Aborts einzuweißen. Bei einem gemeinsamen Badeausflug an den nahe gelegenen Fluss, als die 300 nackten Zöglinge unter den Augen eines Papierkragen und schwarze Krawatte tragenden Wärters auf der Wiese lagen, ertrank ein Junge. Seine Leiche wurde von einem Ältesten geborgen und zwischen die sich sonnenden nackten Zöglinge ins Gras gelegt.

Rigaux und Rey, zwei miteinander verfeindete Zöglinge, die zu dieser Zeit in der Besserungsanstalt von Mettray starben, wurden gemeinsam zu Grabe getragen. Vor der Bestattung wurden ihre Leichen auf einem einfachen und schmucklosen Katafalk aufgebahrt. Unter den Eiben, in einer Gräberreihe, wo die in der Krankenabteilung der Erziehungsanstalt verstorbenen Zöglinge lagen, wurden Rigaux und Rey begraben. Bei ihrer Beerdigung regnete es, und der schlammige Dreck auf dem kleinen Friedhof beschmutzte die schwarzen Holzschuhe der Zöglinge, die in Zweierreihen den beiden Kindersärgen folgten.

Selbstverstümmelung und Aggressionen gegenüber Mitzöglingen waren in Mettray, den Tagesberichten der Anstalt zufolge, allgemein üblich. Neben dem Eingang zur Bürstenmacherwerkstatt sagte Boulard zuseinem Kameraden Baché: „Ich wäre so gernim Krankenrevier, hättest du was dagegen, mir einen Finger mit dem Messer beim Löwenzahnschneiden abzutrennen?“ „Absolut nicht“, erwiderte Baché, worauf Boulard seinen Zeigefinger auf die Schneide legte und Baché ihm den halben Finger abtrennte.

Als Méchin, der ebenfalls in der Bürstenmacherei arbeitete, sich nach einer Strafe von seinen Vorgesetzten mit einer Glasscherbe ins Bein schnitt, sichdabei schwer verletzteund für seine törichteTat gerügt wurde, sagte er: „Ich werde mich noch viel schlimmer verletzen!“ Ein Jahr später wurde Méchin aus dem Strafrevier der Besserungsanstalt abgeholt und in die Strafkolonie „Belle Ile en Mer“ gebracht. Während der Eisenbahnfahrt sagte er zum Aufsichtsbeamten: „Sie glauben, Sie bringen mich nach ,Belle Ile‘, aber ich komme da nicht hin, weil ich vorher tot bin.“ In Nantes ging es ihm schon ziemlich schlecht, ein Arzt meinte zwar, er könne die Reise fortsetzen, aber bereits vor der Ankunft in Vannes lag er tot im Zugabteil. Vor seiner Abreise nach „Belle Ile“ hatte er mit der Suppe, die man ihm noch reichte, Glasscherben verschluckt. Andere Zöglinge verschluckten Toilettendesinfektionsmittel, um sich vor der Arbeit zu drücken oder ins Krankenrevier zu kommen, wieder andere schluckten Naphtalin, das in der Bürstenmacherei verwendet wurde, schnitten sich selber in die Hände oder steckten sich Fremdkörper in die Nase.

Ein Besserungsanstaltsinsasse sagte zueinem Neuankömmling: „Mit wem wirst du dich denn zusammentun? Morgen stelle ich dich deinem Chef vor. Du musst einen Chef akzeptieren, sonst bist du verloren.“ Er benötige einen starken Beschützer, sonst würde er von Kameradenschindern herumgestoßen und vom Rudel vergewaltigt werden.

Der Zögling Bernard Caffler berichtete, dass er im Winter im Steinbruch von sieben bis elf Uhr arbeiten musste, dann ab ein Uhr mittags bis zum Dunkelwerden, schrecklich an Hunger und Kälte litt und dreimal pro Woche Kuttelsuppe zu essen bekam. Ein Junge war so ausgehungert, dass er Hafer und Heu aß und bald danach starb. Wenn ein Junge beim Masturbieren erwischt wurde, musste er an einem einzigen Tag 20 Kilometer lang im Kreis laufen. Der den Läufer ständig beobachtende Aufseher hielt eine Peitsche in der Hand und schrie immer wieder: „Ich lass dich krepieren!“ – Am Morgen gingen die kahl geschorenen Jungen auf die Toiletten, wo es keine Türen gab und man in möglichst kurzer Zeit mit der Toilette fertig sein musste. Fünf, sechs Burschen mussten die Fäkalien in eine Scheibtruhe füllen und damit zur Jauchengrube fahren. Seife zum Waschen gab es nur donnerstags und sonntags. Einmal in der Woche durften sie in den Spiegel schauen. Im Winter mussten sie oft das Eis zerschlagen, bevor sie sich waschen konnten. In der Freizeit beschäftigten sich die Zöglinge vor allem mit Glücksspielen und Boxkämpfen.

Einen Neuankömmling fragte der Zögling Molina in Anwesenheit von anderen, in welchem Raum er schlafe, und ergänzte: „Und wenn alle schon schlafen, dann kriech ich zu dir in die Falle.“ Als sich der Neuankömmling verwundert darüber zeigte und nachfragte, brachen alle Zuhörer in Gelächter aus, und einer sagte: „Ganz einfach, er will, verstehst du, dass du seine Alte wirst.“ Und über Molina sagte dann ein anderer: „Ob er verrückt ist oder nicht, das spielt keine Rolle, er fällt über alle Neuankömmlinge her. Glaub ja nicht, dass er der Einzige ist. Hier sind die meisten Jungs bis ins tiefste Herz hinein versaut. Und man fordert natürlich den Teufel heraus, wenn 14-jährige Jungen mit 20-Jährigen zusammenleben.“

Ungefähr 15 Jahre, bevor Genet in die Besserungsanstalt von Mettray eintrat, wurde „La Maison paternelle“, das sogenannte Vaterhaus, geschlossen. Gegen Bezahlung konnten damals reiche und adelige Familien ein Jahr lang ihre schwer erziehbaren Söhne in diesem Vaterhaus unterbringen. Die Identität der Familien wurde vor den anderen Zöglingen geheim gehalten, damit die vornehmen Familien nicht in den Dreck gezogen werden und die Berufsaussichten ihrer Kinder nicht beeinträchtigt werden konnten. Die Jungen, die in Einzelarrest lebten, mussten bei den kurzen Spaziergängen mit ihren Betreuern Masken tragen, damit sie von niemandem erkannt werden konnten. Die Anlage dieses Vaterhauses war so konzipiert, dass jeder Junge durch ein Gitter auf den Altar der Kirche schauen, aber nicht die anderen Zöglinge sehen konnte. Dieses Vaterhaus wurde erst behördlich geschlossen, nachdem ein 15-Jähriger vor den Augen seines ignoranten Vaters einen Selbstmordversuch gemacht und sich eine Woche später in der Zelle aufgehängt hatte. (Darüber schrieb Jean Genet in seinem Drehbuchmanuskript „Die Sprache der Mauern“.)

Einen Tag, bevor der Zögling Jean Genet nach einem zweieinhalbjährigen Aufenthalt die Strafkolonie von Mettray für immer verließ, fand in der Kapelle der Besserungsanstalt eine homoerotische Hochzeit statt. „Es war in einer funkelnden, klaren und frostigen Nacht. Von innen wurde vorsichtig die Tür der Kapelle geöffnet, ein Junge steckte seinen glatt rasierten Schädel durch die Tür und schaute auf den Hof hinaus, schätzte das Mondlicht ab, und kaum eine Minute später kam der Hochzeitszug hervor. Der Zug sah folgendermaßen aus: zwölf Paare von Zöglingen, wie Taubenpärchen, 15 bis 18 Jahre alt. Alle Zöglinge waren schön, selbst der hässlichste. Ihre Köpfe waren geschoren. Sie glichen 24 bartlosen Cäsaren. An der Spitze des Zuges schritten die Jungvermählten: der Bräutigam – Divers – und ich, die Braut. Ich trug weder Schleier, Blumen noch Kranz auf dem Kopf, aber in der kalten Luft wehten alle erhabenen Hochzeitsgedanken um mich herum. Man hatte uns soeben in Gegenwart der Familie B heimlich getraut. Der Bursche, der als Priester fungierte, hatte den Schlüssel zur Kapelle gestohlen, um die Scheinhochzeit zu vollziehen, deren Riten zwar parodiert waren, unter denen aber doch echte Gebete aus der Tiefe des Herzens aufstiegen. Und diese Nacht wurde zur schönsten meines Lebens. Der Zug schritt völlig lautlos dahin, denn die nackten Füße steckten in braunen Stoffschuhen, und es war kalt, und alle hatten viel zu viel Angst, um zu sprechen...“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.12.2010)

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