Leiber, Kräfte, Wunder

Rudolf Steiner arbeitete zeitlebens an seiner Menschheitserlösungslehre. Karma, okkulte Fähigkeiten, Reinkarnation gehören zum festen Bestandteil der Anthroposophie. Mit seinem liebsten Kind, der Waldorfschule, wird er jedoch kaum verbunden. Zum 150. Geburtstag eines Fantasten.

Steiner sprach zu Hermann Hesse: „Nenn mir sieben Alpenpässe!“ Darauf sagte Hesse: „Steiner, sag mal, reicht denn nicht auch einer?“ (Robert Gernhardt).

Als die deutschen Verfassungsrichter am 16.Mai1995 urteilten, dass die Anbringung von Kruzifixen in den Unterrichtsräumen öffentlicher Pflichtschulen gegen die Religionsfreiheit verstoße, da ging in der allgemeinen Erregung ein interessantes Detail unter. Die drei Schüler sowie deren Eltern, die als Beschwerdeführer aufgetreten waren, weil in einem bayrischen Klassenzimmer der Anblick eines christlichen Kreuzes samt Korpus „erduldet“ werden musste, waren weder Muslime noch Atheisten, ja nicht einmal militante Agnostiker. Es handelte sich vielmehr um Anthroposophen, denen die obersten Richter recht gaben, dass der Staat keine Lage derart schaffen dürfe, dass der Einzelne „ohne Ausweichmöglichkeit dem Einfluss einer bestimmten Religion ausgesetzt“ sei. Man nennt das „negative Religionsfreiheit“.

Schildere ich diesen Fall meinen Studenten und frage sie, was ihnen zum Begriff „Anthroposophie“ einfalle, antworten die meisten: „Hm...“ Ungefähr dieselbe aufschlussreiche Antwort erhalte ich, sobald ich mich erkundige, ob sie denn wüssten, wer Rudolf Steiner gewesen sei. Hingegen fällt ihre Reaktion merklich informierter in puncto Waldorfschulen aus. Es sind immer nur wenige, die davon gar nichts gehört haben.

Für mich zeigen solche Ergebnisse zweierlei. Erstens: Unser Religionsunterricht muss im Großen und Ganzen ziemlich schlecht sein – es gibt keine andere Erklärungfür das andauernde Wissensdefizit meiner Studenten. Zweitens: Erfolgreiche Religionen entfalten ihre Wirkung dadurch, dass sie sich langfristig in Institutionen ausdifferenzieren, deren relative Eigenentwicklung zur „Einklammerung“, ja zum Vergessen desreligiösen Kerngehalts führt.

So kommt es, dass Eltern ihre Kinder eineWaldorfschule besuchen lassen, ohne den Eindruck zu haben, damit einen „Glauben“ zu unterstützen. Und so kommt es außerdem, dass man als Anthroposoph gegen das Kruzifix im Klassenzimmer Sturm laufen mag, obwohl der Gründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, sich ausdrücklich zum Christentum bekannt hat, und zwar in einer Form, die das blutige Ereignis am Kreuz ins Zentrum der Offenbarung gerückt hat.

Heuer jährt sich Steiners Geburtstag zum 150.Mal. Grund genug für zwei neue Biografien, beide informativ, beide um Objektivität bemüht. Die eine, umfänglichere, in Ton und Zitatenauswahl pointiertere, stammt von Helmut Zander, Privatdozent für Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin; die andere, mehr moderate, betuliche, verdankt sich der Forschungsarbeit von Heiner Ullrich, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Mainz. Hinzu gesellen sich kleinere Publikationen von eingefleischten „Steinerianern“. Dort findet mandas Übliche. Walter Kugler, Leiter des Steiner-Archivs in Dornach bei Basel, rühmt den „exakt wissenschaftlichen Boden“, auf dem Steiners „übersinnliche Welten“ gedeihen. Und Wolfgang Zumdick, Mitherausgeber der Steiner-Gesamtausgabe, nennt den Namen seines Meisters gar in einem Atemzug mit Ludwig Wittgenstein. Bei beiden handle es sich um die „extremen Pole der Donaumonarchie“, an deren Gleichwertigkeit kein Zweifel gelassen wird.

Rudolf Steiner kommt am 27.Februar 1861 – laut Steiner ist es der 25.Februar – zur Welt, um hier 64 Jahre lang zu verweilen. Das Ereignis findet in dem kleinen ungarischen, heute kroatischen Ort Kraljevec statt. Steiner ist das Kind einer niederösterreichischen Familie, deren ökonomische Verhältnisse ihm nur den Besuch einer Realschule gestatten. Damit wird das später heiß ersehnte Studium der Geisteswissenschaften an der Wiener Universität unmöglich. Trotzdem schafft es Steiner, 1891 an der Universität Rostock zum Doktor der Philosophie zu promovieren. Seinen Habilitationsehrgeiz kann er allerdings nicht befriedigen; eine akademische Karriere bleibt ihm verwehrt.

Nach einer Zeit in Weimar, wo er sich beruflich mit Goethe, besonders mit dessen naturtheoretischen Schriften beschäftigt, gerät er zunehmend in den modernistischen Taumel Berlins. Steiner hält Vorträge. Seinem Publikum offeriert er sich als Freidenker, Libertin und Proletarierfreund. Erst seine Kontakte zur theosophischen Gesellschaft wecken ab 1900 den in ihm schlummernden Hang zum Esoterischen. Karma, Reinkarnation, okkulte Fähigkeiten, Astralwesen werden nun zu festen Bestandteilen seiner Lehre. Bald schon überwirft er sich mit den Theosophen und gründet seine eigene Religion: die Anthroposophie.

In deren Zentrum steht ein geheimes Evangelium, ein „fünftes“, das Steiner geoffenbart wurde – eine Sache für Hardcore-Fantasten, mit schrägen Doppelgängern und irren, zeitversetzten Inkarnationen. Da ist von zwei Jesusknaben die Rede. Der „salomonische“ Jesus, der früh stirbt, bildet für den unsterblichen Christus die niedrigen Wesensglieder aus. In diesem Jesus wirkt das geistige Ich Zarathustras! Demgegenüber wirkt der Geist Buddhas im „nathanischen“ Jesus, der für Christus den Astralleib bereitzustellen hat. Christus, der Welterlöser, ist ein rein geistiges Wesen, das sich nach der Trennung von Sonne und Erde zunächst in den Sonnenstrahlen verbirgt. Bei der Kreuzigung stirbt der Mensch Jesus, während Christus in die unkörperlichen Sphären aufsteigt. Das Blut des Gekreuzigten jedoch sickert in die Erde und leitet eine spirituelle Menschheitsevolution ein, an deren Ende – das ist unschwer zu erraten – die Anthroposophie steht.

Hier wird alles mit allem zusammengesponnen, auch das sagenumwobene Atlantis darf nicht fehlen. Nach Steiners „Schauung“ aus dem Jahre 1904, die sich kräftig aus dem okkulten Atlantis-Buch des amerikanischen Theosophen W. Scott-Elliot bedient, benützten die „Atlantier“ Fluggeräte, mit denen sie über dem Boden schwebten und ganze Gebirge überwinden konnten. Es sind gerade derlei lachhafte Details, die dem Konkretheitshunger jener Zeit vor dem Ersten Weltkrieg entgegenkommen. Damals ist der Strom der Hochreligionen bereits tief ins abstrakt-begriffliche Fahrwasser der Neuhumanisten, Idealisten und Kantianer geraten. Deren anschauungslose „Transzendenz“ musste dringend wieder mit Leibern, Kräften und Wundern bevölkert werden.

Steiner arbeitet unermüdlich an seiner Menschheitserlösungslehre (ihre unabgeschlossene Dokumentation umfasst 300 Bände): Der fortschrittliche junge Mann, der einst an der Wiener Technischen Hochschule Mathematik und Naturwissenschaften mit dem Ziel eines Lehramts an Realschulen studiert hat, wird zum Erfinder einer Bewegungskunst, der „Eurythmie“, und einer „natürlichen“, homöopathisch ausgelegten Heilkunde unter Rückgriff auf das alchemistische Simile-Prinzip, wonach Ähnliches durch Ähnliches zu heilen sei.

Ferner: Steiner gründet eine geistesaristokratische Kirche, die „Christengemeinschaft“, als deren erster Priester und „Erzoberlenker“ der evangelische Theologe Friedrich Rittelmeyer geweiht wird. Der Festakt findet 1922 im Goetheanum statt, jenem von Steiner selbst entworfenen Tempelbau nach den Grundsätzen der von Steiner selbst entwickelten „Organischen Architektur“. Dort gelangen auch die von Steiner selbst gedichteten Mysteriendramen zur Uraufführung. Steiners liebstes Kind unter den „Töchtern“ der anthroposophischen Praxis ist aber – so Helmut Zander – die Waldorfschule, namentlich jene auf der Stuttgarter Uhlandshöhe, die 1919 von Steiner selbst inauguriert und überwacht wird. Kurz, im Rudolf-Steiner-Komplex gilt: Alles Steiner!

Man fragt sich, wie ein Allround-Dilettant derart nachhaltig, nämlich bis auf den heutigen Tag, wirksam werden konnte. Sieht man vom Obskurantismus der religiösen Lehre ab, dann trifft man auf Kuriosa, die der krassesten Komik nicht entbehren. „Niemand hat Steiner jemals tanzen gesehen“, schreibt Zander, dennoch kreiert der Meister eine theosophische Tanzform, weil ihn eine Anhängerin darum bittet. Steiner gibt autoritativ Anweisungen zu Dingen, von denen er keine Ahnung hat: „Stellen Sie sich aufrecht hin und versuchen Sie, eine Säule zu empfinden; diese Säule, diese Aufrechte lernen Sie zu empfinden als ,I‘.“ Beim „U“ soll es dann schwierig geworden sein: Wofür mochte dieser Buchstabe wohl stehen?

Im Heilbetrieb des „Doktor Steiner“ geht es ebenfalls hoch her. Einer manisch-depressiven Patientin, die ihrer Krankheit trotz Wermutleibwickel, kohlensäurehaltigem Wasser aus Graubünden und Enziantropfen nicht entsagen will, verordnet Steiner kurzerhand Mandelmilch und Levico-Wasser mit der Begründung: „Man muss den Astralleib aus der Deformation bringen.“

Da Steiner an die Reinkarnation glaubt, weist er seine Waldorfpädagogen an, ein feines Gefühl dafür auszubilden, „was sich aus dem früheren Erdenleben herüberentwickelt in dem werdenden Kind“. Es solle beim Gehen der Schützlinge auf folgende Eigenheit geachtet werden: „Kinder, die trippeln, mit der Ferse kaum auftreten, die haben in flüchtiger Weise das vorige Erdenleben vollbracht.“ Schade, denn aus den Tripplern lässt sich auch im aktuell inkarnierten Leben nicht viel Großes, Tiefes herausholen!

Genug der „höheren Dummheit“, um Robert Musil zu zitieren. Will man den nachhaltigen Erfolg der Anthroposophie einigermaßen verstehen, muss man erkennen, dass deren Begründer ein fast untrügliches Gespür für populäre Konfrontationen hatte. Der kalten Schulmedizin, die schon zu Steiners Zeit viele abstieß, galt es, eine „sanfte“ Alternativmedizin entgegenzustellen, die den Selbstheilungskräften der Natur vertraute. Ebenso war die Staatspädagogik, die noch Züge der alten brutalen Drillschule zeigte, durch ein Erziehungsmodell zu ersetzen, dem es um die Seele des Kindes und nicht um das Eintrichtern toten Stoffes ging.

Die Gefahr eines Rückfalls ins irrational Ganzheitliche, dem die Anthroposophie von Anfang an geneigt war, ist freilich keineswegs gebannt. Gerade unsere Zeit hat für alles Esoterische und Okkulte, für Bauchgefühle und Naturmystisches eine fatale Neigung. Hierin wurzelt die am meisten fragwürdige Seite der Aktualität Steiners, jenes „Erzoberlenkers“, der freilich im katholischen Österreich kaum wirklich bekannt zu sein scheint. Wünschenswert wäre, dass das nun anlaufende Gedenkjahr daran etwas ändere, doch hoffentlich im Sinne einer Aufklärung, wie sie exemplarisch durch die Biografien von Zander und Ullrich verkörpert wird. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.02.2011)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.