Wir Lächler

(c) Clemens Fabry
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Wir sind freundlich. Wir sind sozialverträglich. Wir sind gesundund ohne Laster. Unseren aske- tischen Hedonismus leben wir nach einem genau kalkulierten Ernährungsplan. Und alle, alle sind wir „liberal“. – Der Triumph des Liberalismus: ein Nachruf.

In unserem Jahrhundert mangelt es an drei Dingen, Don Marcellino: an Geist, an Courage und an gutem Geschmack. Das ist das Drama der heutigen Zeit, und schuld daran ist das Emporkommen der Krämer aus sämtlichen Ecken Europas.
Arturo Pérez-Reverte, „Der Fechtmeister“


1. „Eine Gesellschaft ist dann liberal,wenn ihre Ideale durch Überzeugung statt durch Gewalt, durch Reform stattdurch Revolution, durch freie, offene Begegnungen gegenwärtiger sprachlicher und anderer Praktiken mit Vorschlägen für neue Praktiken durchgesetzt werden. Das heißt aber, eine liberale Gesellschaft hat kein Ideal außer Freiheit, kein Ziel außer der Bereitwilligkeit, abzuwarten, wie solche Begegnungen ausgehen, und sich dem Ausgang zu fügen“ – schreibt der amerikanische Libera- le, Pragmatist und philosophische Philosophiekritiker Richard Rorty in „Kontingenz, Ironie und Solidarität“, einer überschwänglichen Apologie westlicher Demokratie und Zivilisation.

In ihrer von Rorty vertretenen und beschriebenen Idealform wäre die Kultur des Liberalismus eine durch und durch aufgeklärte und säkulare Kultur. In ihr bliebe, wie er sagt, keine Spur von Göttlichem, wederin traditionell religiöser noch in substanzmetaphysischer Form. Siehätte keinen Raum fürdie Vorstellung, es ge-
be nichtmenschliche Instanzen, denen die Menschen verantwortlichsein sollten. Eine solche Kultur würde nicht nurdie Idee der Heiligkeit,sondern auch die der „Hingabe an die Wahrheit“ und der „Erfüllung der tiefsten Bedürfnisse des Geistes“ aufgeben oder zumindest drastisch uminterpretieren. Der Prozess der Entidolisierung würde im Idealfall darin kulminieren, dass man nichts mehr mit der Vorstellung anfangen könnte, der sogenannte „Sinn des Lebens“ endlicher, sterblicher, zufällig existierender menschlicher Wesen leite sich von irgendetwas anderem ab als von endlichen, sterblichen, zufällig existierenden menschlichen Wesen. Warnungen vor „Relativismus“, Fragen, ob gesellschaftliche Institutionen in der Moderne zunehmend „rational“ geworden seien, und Zweifel daran, dassdie Ziele einer liberalen Gesellschaft „objektive moralische Werte“ darstellen, würden in dieser Kultur nur noch als Kuriositäten erscheinen.

„Die Vorstellung“, schreibt Rorty, „liberale Gesellschaften würden durch philosophische Überzeugungen zusammengehalten,scheint mir lächerlich. Zusammengehalten werden Gesellschaften durch gemeinsame Vokabulare und gemeinsame Hoffnungen. Die Vokabulare sind typischerweise Parasitender Hoffnungen – in dem Sinn, dass dieHauptfunktion der Vokabulare darin besteht,Geschichten über zukünftige Ergebnisse zu erzählen, die gegenwärtige Opfer kompensieren werden. Moderne, gebildete, säkulare Gesellschaften sind von der Existenz einigermaßen konkreter, optimistischer und plausibler politischer Szenarien abhängig statt von Szenarien zur Erlösung jenseits des Grabes. Um an sozialer Hoffnung festzuhalten, müssen die Mitglieder einer solchen Gesellschaft sich selbst eine Geschichte erzählen können, die davon handelt, wie alles besser werden kann, und sie dürfen keine unüberwindlichen Hindernisse für das Wahrwerden dieser Geschichte sehen.“ – Obwohl man heute wohl gut begründeteZweifel an der Erfüllbarkeit dieser letzten Bedingung wird vorbringenmüssen (und ich werde es in der Folge auchtun), folgt aus dieser Beschreibung des Ideals einer liberalen Gesellschaft, wenn wir sie dennals solches akzeptierenund nicht a limine als realitätsfremde Traum-
idylle abtun wollen, zumindest dreierlei.

Erstens, dass in unserer Weltgegend heute fast alle Menschen „guten Willens“ und gesetzteren Alters, also die Angehörigen der breiten, verständigen und einsichtigen Mittelschicht, „Liberale“ sind (oder sich zumindest selbst als solche verstehen), gleichgültig,welche politische Richtung oder Partei sie präferieren; sie sind „liberal“ im Rortyschen Sinn, weil sie einen „Platz im Leben“ haben und aufgrund ihrer guten Erziehung, dasheißt ihrer Geduld und ihrer soliden, wenn auch bescheidenen ökonomischen Aspirationen; nicht zu vergessen ihre soziale Distanz zur Macht einerseits, zur materiellen Not undzur Härte körperlicher Arbeit andererseits. Esfolgt daraus aber zweitens, dass, unbeschadetder überwältigenden Zahl von „Liberalen“ inmodernen industriellen Massendemokratien,ein liberales Gemeinwesen im Rortyschen Sinn nirgendwo existiert und auch nicht existieren kann (auch dann nicht, wenn diese „Liberalen“, wie es unter geordneten Verhältnissen ja auch der Fall ist, über meritokratische Karrierewege sogenannte „Führungspositionen“ in Politik, Verwaltung, Management, Erziehung, Kultur erreichen, also öffentliche Ämter ausüben, in denen in Wahrheit niemand führt, sondern tatsächlich alle nur, wie es richtig heißt, „Verantwortung tragen“), denn gerade die liberale Gesellschaft ist auf das Gewaltmonopol des Staates angewiesen, der ihren konstitutiven Prinzipien, vor allem der Institution des Privateigentums, nicht durch Überredung, sondern durch die ihm zuGebote stehenden Zwangsmittel Geltung verschafft; allerdings bleibt die Gewalt in ruhigenZeiten in Latenz und wird – so zumindest dasIdeal – ausgeübt nur im Rahmen demokratisch legitimierter Rechtsstaatlichkeit. Die „ci-vil society“ hat den – wie immer gebändigten –„Leviathan“ zu ihrer Voraussetzung.

Aus den Folgerungen eins und zwei folgt aber drittens, dass „Liberalismus“ im Rortyschen Sinn gar kein Begriff im strikten Sinn ist(als solcher würde er sich selbst zerstören; Hobbes hat dies im Bild des „Behemoth“ gefasst), sondern, kantisch gesprochen, eher so etwas wie eine „regulative Idee“; eine Idee freilich, die nicht ahistorisch, frei schwebendund daher abstrakt-utopisch ist, sondern die ihre empirische Stütze hat in den Institutionen des säkularen Verfassungsstaates westlichen Typs; des säkularen (oder besser: laizistischen) Rechts- und Verfassungsstaats wohlgemerkt, denn die metaphysische Voraussetzung des Liberalismus ist gerade das Ende derMetaphysik im Sinne einer politisch verbindlichen Letztbegründung von Wahrheit in Bezug auf das, was richtiges und gutes Leben heißen soll; seine geistesgeschichtliche Voraussetzung ist vor allem die Privatisierung des Religiösen, wie schon Hegel wusste, der, gegen das Poppersche Vorurteil, wohl größte Theoretiker des liberalen Staates.

Hegel hat aber auch gewusst, dass – dies nur en passant gesagt – die liberale, bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft freigesetzter Individualinteressen als „geistiges Tierreich“,wie er sie nannte, des starken Rechts- und Verfassungsstaates als „Ort der sittlichen Idee“ zu ihrer Bändigung bedarf.

Der Hegelsche Historismus und sein Nihilismus in Bezug auf abstrakte, dekontextualisierte logische oder moralische Letztbegründungen wird von Rorty offen geteilt und affirmiert: „I shall call the Hegelian attempt to defend the institutions and practices of the rich North Atlantic democracies without using such buttresses (like decontextualised Kantian rationality and morality, R.B.) ,postmodernist bourgeois liberalism‘. I call it ,bourgeois‘ to emphasize that most of the people I am talking about would have no quarrel with the Marxist claim that a lot of those institutions and practices are possible and justifiable only in certain historical, and especially economic, conditions. I want to contrastbourgeois liberalism, the attempt of fulfill thehopes of the North Atlantic bourgeoisie, with philosophical liberalism, a collection of Kantian principles thought to justify us having those hopes“ – Prinzipien, deren pragmatisch-politischen Wert Rorty zwar anerkennt, deren tatsächlichen universalistischen Letzt- begründungsanspruch er aber verwirft: daher seine philosophische Kontroverse mit Habermas, von dem er zugleich sagt, dass er sich politisch mit ihm einig weiß.

Dieses liberalistische Ideal erschien Rortyweitgehend realisiert in den laizistischen Institutionen des massendemokratischen, bürgerlich-liberalen Verfassungs- und Rechtsstaates mit garantierten egalitären Individualrechten und politischer Gewaltenteilung auf Basis einer kapitalistischen Ökonomie. Diese Institutionen bilden den politischen, ökonomischen und rechtlichen (den „leviathanischen“) Rahmen dessen, was man mit einemnach allen Seiten hin semantisch ausgefransten und daher nur schwer definierbaren Begriff „Zivilgesellschaft“ nennt, die aber bei aller terminologischer Unschärfe vor allem durch eines ausgezeichnet ist: dass einem in einer solchen Gesellschaft niemand verbindlich sagt, was richtig und gut ist, und dass einem niemand vorschreibt, wie man sein Leben zu führen hat, so lange man seinen Nächsten nicht manifest schädigt.

Diese Gesellschaft ist eine von Interessen,nicht eine von Tugend und Glauben bestimmte, sie ist, wie Ernest Gellner sie genannt hat, eine a-moralische Gesellschaft, deren Ziel nicht „vollkommene Tugend“, sondern die „Verminderung von Unannehmlichkeit“ ist. Sie ist individualistisch, konsumistisch und nihilistisch, weil sie kein metaphysisches Dach über dem Kopf hat. Aber obwohl oder vielmehr gerade weil sie eine unheroische und im Grunde keine kriegerische Gesellschaft ist, die sich aus sich selbst herausdemokratisch legitimiert und daher auch keine externen Feinde braucht, um sich intern zu stabilisieren (Feinde sind lästig und störennur das Geschäft), gehört es spätestens seit Nietzsche zum guten Ton des Intellektuellen,sie als Gehäuse für jene Figur zu ridikülisieren, die Nietzsche den „letzten Menschen“ nannte. „Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit“, heißt es im „Zarathustra“, und: „,Wir haben das Glück erfunden‘ – sagen die letzten Menschen und blinzeln.“

Nicht, dass diese Diagnose Nietzsches falsch wäre, ganz im Gegenteil, die Erde ist heute tatsächlich „klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht“, doch dass dieses kleine Glück des „letzten Menschen“ konsumistisch-nihilistischer Zivilgesellschaften durchaus verteidigungswürdig ist, ja dass der „Radical Chic“ (Tom Wolfe) des Intellektuellen, der es im Namen heroischer Ideale verachtet, selber nur möglich ist in einer zivilen Gesellschaft (in einer heroischen Gesellschaft, einer wirklichen „Wertegemeinschaft“, führte „Radical Chic“ vor ein Erschießungskommando), wirdin ruhigen Zeiten nur allzu leicht vergessen; und zwar gerade vom „radikalen“ Intellektuellen, der ihr entsprießt und nur in ihr gedeihen kann.


2. Rortys Apologie eines libertären Liberalismus erschien im Jahre 1989, in jenem Annus mirabilis, als mit dem Fallder Berliner Mauer der Kalte Krieg symbolisch zu Ende ging und damit der Wettstreit zwischen dem liberalkapitalistischen System des Westens und dem planwirtschaftlich-sozialistischen System des Ostens zugunsten des Ersteren überzeugend und – bedenkt man, was auf dem Spiel stand – trotz der lokalen Folgekriege überraschend unblutig entschieden wurde. Damit endete eine weltgeschichtliche Epoche.Tatsächlich wurde damals mehr entschiedenals ein beliebiger politischer Konflikt – denn es ging, im Selbstverständnis beider Antagonisten, um die Grundprinzipien von Vergesellschaftungin der Moderne überhaupt, und zwar in einem globalen Maßstab. Der „Great Contest“ (Isaac Deutscher) war, hegelianisch gesprochen, ein Ringen mit dem„Weltgeist“ im Kampf um seine vollendete Gestalt, bei dem zeitweise buchstäblich die Existenz der Gattung auf dem Spiel stand.

Der große russisch-französische Hegelinterpret Alexandre Kojève, durch dessen Seminare über die „Phänomenologie des Geistes“ in den 1930er-Jahren fast alle späteren Größen der französischen Philosophie gegangen sind (nur Sartre war nicht dabei), hat die beiden Lager – das bürgerlich-liberale auf der einen Seite, das proletarisch-kommunistische auf der anderen – als politisch-praktische Derivationen der Hegelschen Philosophie verstanden, deren Kampf, bewusst oder nicht, über die richtige Interpretation dieses Textes entscheiden sollte. Denn es gab, wie Kojève den Zustand des in sich zerrissenen absoluten Geistes nach 1831, also nach Hegels Tod, charakterisiert, zwar „von Anfang an eine Hegelsche Linke und eine Hegelsche Rechte, das war aber auch alles, was es seit Hegel gegeben hat“ – wobei „Hegelsche Linke“ nur eine kapriziöse Terminologie für den revolutionären Marxismus ist. Dieser war dieeinzige ernst zu nehmende, weil historisch folgenreiche Philosophie, die in Konsequenz des Hegelianismus ein höheres Prinzip der Freiheit als Telos der Geschichte versprach als den liberalen, bürgerlich-kapitalistischen Verfassungsstaat: „Sieht man von den Relikten der Vergangenheit ab, die Hegel gekannt und beschrieben hat (einschließlich des ,Liberalismus‘) und die ihm folglich nicht als historische oder ,dialektische‘ Widerlegungen entgegengehalten werden können, dann stellt man fest, dass es streng genommen nichts außerhalb des Hegelianismus gegeben hat (bewusst oder nicht), und zwar weder auf der Ebene der geschichtlichen Wirklichkeit selbst noch auf der Ebene des Denkens und der Re- de, was eine historische Auswirkung gehabt hätte. Daher kann man nicht sagen, dass die Geschichte den Hegelianismus widerlegt ha- be. Man kann höchstens behaupten, dass sie sich noch nicht zwischen ihrer ,linken‘ und ihrer ,rechten‘ Interpretation der Hegelschen Philosophie entschieden habe. Nach Hegel kann nun eine Diskussion nur durch die Wirklichkeit entschieden werden, d.h. durchdie Verwirklichung einer der beiden einander bekämpfenden Thesen. Die verbalen Polemiken oder ,Dialektiken‘ reflektieren nur die wirkliche Dialektik, die eine Dialektik des Handelns ist, das sich als Kampf und Arbeit manifestiert. Und in der Arbeit (,Wirtschaftssystem‘), in Revolutionen und Kriegen spielt sich seit fast 150 Jahren die Polemik zwischen ,Hegelianern‘ ab. Die Geschichte wird den Hegelianismus niemals widerlegen, sondern sich damit begnügen, zwischen ihren beiden entgegengesetzten Interpretationen zu wählen.“

Das schrieb Kojéve 1946, als die beiden Wirklichkeit gewordenen Interpretationen einander als „Blöcke“ schroff gegenüberstanden. Manichäisch zugespitzt, war die Entscheidung noch offen, die Geschichte hatte noch nicht gewählt zwischen den konkurrierenden Lesarten ihres Textes. Jetzt, würde Kojève sagen, wenn er noch lebte, aber es sagte statt ihm Fukuyama,jetzt, seit 1989, mit dem Zusammenbruch des re- alen Sozialismus, hat sie sich entschieden, und zwar für die rechte Variante ihrer Interpretation. Das liberal-kapitalistische Prinzip hat gewonnen und ist im Prinzip als höchstes Prinzip der gesellschaftlich-ökonomischen Organisation universal geworden. Der Rest ist Ausformulierung, Differenzierung und Verbreitung, wenn es sein muss, mit Gewalt, schlimmstenfalls partiellerRückfall auf frühere, primitivere Stufen des Sozialen, auf faschistische etwa oder auf religiös-fundamentalistische, also auch nichts Neues. Ein höheres Prinzip aber als der laizistische, bürgerlich-liberale Verfassungsstaat mit Massendemokratie und Gewaltenteilung auf Basis einer kapitalistischen Ökonomie, sozialstaatlich vielleicht ein bisschen aufgeweicht, ökologisch supplementiert und durchKunst am Bau ein wenig verschönert, ist nicht in Sicht. Das ganze Arrangement nennt sich „Kulturgesellschaft“, und zwar mit Recht. Es ist, wie gesagt, das adäquate Gehäuse für jene Figur, die Nietzsche den „letzten Menschen“ nennt; der, wie er sagt, amlängsten lebt.

Rortys Epinikion ist aus der damaligen Jubelstimmung heraus also durchaus verständlich. Aber nicht nur hat das, was er als liberaleGesellschaft beschreibt, mit dem historischeneuropäischen Liberalismus herzlich wenig zutun (es charakterisiert eher die Hoffnungen der amerikanischen „Liberals“, die im europäischen Spektrum heute denen der linken Sozialdemokratie entsprechen), sondernman muss sich auch fragen, ob der Westen im„Great Contest“ tatsächlich als liberale Gesellschaft obsiegt hat oder nicht vielmehr, wie PanajotisKondylis meines Erachtens überzeugend dargetan hat, als massendemokratische Konsumgesellschaft, die zwar einige konstitutive Prinzipien des klassischen Liberalismusbeibehielt, andere aber unter dem Druck der Systemkonkurrenz aufgegeben oder drastisch modifiziert hat. Tatsächlich bezieht ja jeder politische Großbegriff – wie Liberalismus, Sozialismus, Konservativismus – seine scharfen Konturen erst aus der Negation seines jeweiligen historischen Gegners und wandelt sich daher mit ihm, wobei dieses Spiel wechselseitiger Negationen und partieller Affirmationen, Abstoßungen und Aneignungen Metamorphosen des Begriffs selbst in Gang setzenkönnen, die letztlich zu seiner semantischen Entleerung führen, sodass er nur noch als arbiträres Markenzeichen für Parteiorganisationen oder umgekehrt als polemische Waffe zur Diffamierung des Gegners dient.

Die heute in der politischen Praxis zu beobachtende rein polemisch-pejorative Verwendung der Begriffe „Liberalismus“ oder „Neoliberalismus“ sowie ihre assoziative Verbindung mit politischem Konservativismus einerseits und die gleichzeitige Möglichkeit der moralischen Belobigung einer kompromissbereit-nachgiebigen Haltung durch das Attribut „liberal“ andererseits zeugen von einer semantischen Verwandlung und Ausdünnung des Begriffs „Liberalismus“, die ihnals analytisches Instrument zur Kennzeichnung moderner Massendemokratien weitgehend unbrauchbar machen. Er ist tatsächlichnur mehr adjektivisch zur Charakterisierung personaler Eigenschaften zu gebrauchen; als politökonomischer Großkampfbegriff hat er ausgedient, seit er seine welthistorischen An-tipoden, zunächst die alteuropäische aristokratische Ständegesellschaft der Societas civilis im 19. Jahrhundert, dann den planwirtschaftlichen Sozialismus des 20. Jahrhunderts,verloren hat. Aber er hat auch seine Rolle als definitorischer Strukturbegriff ausgespielt, weil die massendemokratische, hedonistischeKonsumgesellschaft, die aus ihm hervorgegangen ist und deren kulturell prägende Gestalt der mittlere Angestellte ist, sich phänomenologisch ganz anders darstellt als diebürgerlich-liberale Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Wer damals „liberal“ oder „konservativ“ sagte, hatte damit klar umrissene soziopolitische Positionen vor Augen.

„Konservativ“ meinte primär die, im Übrigen religiös abgestützten, standespolitischen Positionen des antiliberalen Adels unddes großen patriarchalischen Grundbesitzes,der sich durch die Fortschritte des industriellen Kapitalismus bedroht fühlte; „liberal“ hieß in erster Linie eine Politik, welche die wirtschaftlichen und verfassungsmäßigenVorstellungen des akkumulierenden Bürgertums gegen die Prärogative des Adels artikulierte, nicht etwa Political Correctness, Gender Mainstreaming oder Homoehe. Dem liberalen Bürgertum stand ein politisch nicht integriertes Proletariat entgegen, das nicht nur politische Partizipation einforderte. Die sozialistischen Klassiker traten vielmehr mit dem Anspruch auf den Plan, das „wahre Er- be“ des Liberalismus weiterzuentwickeln undauf Basis des modernen säkularen Naturrechts den liberalen Gedanken zu Ende zu denken, indem sie aus den formellen Rechtenmaterielle und aus der rechtlichen Gleichheit die soziale ableiteten.

„Die drei Grundbegriffe des politischen Vokabulars der letzten 150 Jahre“, schreibtPanajotisKondylis, „nämlich ,Konservativismus‘, ,Liberalismus‘ und ,Sozialismus‘, verkörperten eigentlich nur zur Zeit ihrer (fast parallelen) Herausbildung drei reale und eindeutige gesellschaftliche Optionen. Denn nurum 1848 standen sich Adel, Bürgertum und Proletariat auf einem einzigen Schlachtfeld gegenüber. Das Triptychon schrumpfte aber schon im 19. Jahrhundert zu einem Diptychon, denn der bereits geschwächte Adel ginggroßteils im (Groß-)Bürgertum auf, indem er seine patriarchalische Herrschaft auf demLande nolens volens aufgab und am kapitalistischen Wirtschaftsleben sowie am parlamentarischen Spiel teilnahm. Nachdem die Statik der Societas civilis der kapitalistischenDynamik nachgegeben hatte, konnte nicht mehr von Konservativismus im echten Sinne des Bewahrens einer gottgegebenen ewigen und hierarchischen Ordnung auf Erden die Rede sein.“ „Bewahren“ ist heute eine intentionale Organisationsleistung.

Was das verbliebene Diptychon Liberalismus/Sozialismus betrifft, so ist dieses mit dem Kollaps des sozialistischen Lagers ebenfalls implodiert. Das verbliebene Tafelbild, dessen Rahmen global geworden ist, zeigt aber weniger einen siegreichen als einen so grundsätzlich gewandelten Liberalismus, dass von Liberalismus im klassischen bürgerlichen Sinn nicht mehr die Rede sein kann. Denn es ist offensichtlich, dass die westlichen Länder dank Koppelung von Freiheit und Wohlstand ihren Sieg im Kalten Krieg,verstanden als Wettbewerb der Systeme,nicht als liberale, sondern als massendemokratische Gesellschaftsformationen erreichten, indem sie nämlich denoligarchischen Liberalismus durch den Demokratisierungvorgang hinter sich ließen unddie Kluft zwischen Bürger und Proletarier durch den Massenkonsum und die soziale Mobilität überbrückten, wasschließlich sowohl den Bürger als auch den Proletarier als klar umrissene soziologische Typen auflöste.

Leiharbeiter, prekär Beschäftigte und befristet Angestellte in einem riesigen, sozial fragmentierten Dienstleistungssektor sind etwas ganz anderes als Proletarier in der vorelektronischen Industriegesellschaft, ebenso wie Manager, Technokraten, Shareholder, Consultants und Broker als soziologische Typen etwas wesentlich anderes sind als Bürger; Bürgerlichkeit als Lebensstil ist heute eigentlich nur mehr als Zitat möglich und erfüllt als solches dieselben mondänen Distanzbedürfnisse, die einst manch Überlebender der Adelsgesellschaft erledigte. Daaber das Bürgertum nicht nur der ökonomische, sondern auch der moralische, kulturelle und politische Träger des Liberalismus war, löst dieser mit jener Sozialfigur selbst sich auf. Was dabei signifikant sich verändert, ist das Verhältnis von Gesellschaft und Staat sowie das Verständnis dessen, was einmal bürgerliche Freiheit hieß.


3. Es wird oft behauptet, der Liberalismus sei theoretisch und praktisch für einen „Nachtwächterstaat“, einen Minimalstaat eingetreten. Tatsächlich gab und gibt es bis in jüngste Zeit theoretische Positionen, die eine solche Lehre vertreten, wie etwa das „Libertäre Manifest“ vonMurray N. Rothbard, einem Schüler von Ludwig v. Mises, das 1973 unter dem Titel „Eine neue Freiheit“ erschien. Rothbard argumentiert, jeder Eingriff des Staates oder einer anderen Gruppe von Menschen in die Belange des Individuums verstoße gegen das natürliche Eigentumsrecht des Einzelnen über sich selbst. Damit gerät sein libertärer Liberalismus in die Nähe des (allerdings wesentlich radikaleren und philosophisch fundierteren, weil nicht naturrechtlich ideologisierten) Individualanarchismus Max Stirners, der ähnliche Positionen schon 1844 in seinem „Einzigen und sein Eigentum“ vertreten hatte und dem Karl Marx eine berühmte Streitschrift, „Sankt Max“, widmete, obwohl er die Vision vom „Absterben“ des Staates mit Stirner teilte. Das gemeinsame Bekenntnis von libertärem Liberalismus und Marxismus zum Primat von Wirtschaft und Gesellschaft gegenüber Politik und Staat schlug sich in den sozialen Utopien beider Richtungen nieder, die das Thema des Dahinwelkens von Staat und Politik variierten. Dem libertären Wunschbildvon der Ablösung der Politik durch den Handel innerhalb einer einheitlichen Welt, in der teilsdie unsichtbare Hand,teils universalethischePrinzipien walten würden, entsprach die marxistische Zukunftsvision einer klassenlosen Gesellschaft, in der diewirtschaftenden Subjekte sich selbst verwalten würden, ohne Politik im traditionellen Sinn betreiben zu müssen. Das hat sich in beiden Fällen als Illusion erwiesen. Der Liberalismus hat den modernen Rechts- und Verfassungsstaat überhaupt erst geschaffen, während die Marxisten dort, wo sie an die Macht gelangt sind, nicht den Staatvergesellschafteten, sondern die Gesellschaftverstaatlichten und eine beispiellose Politisierung des Ökonomischen praktizierten. DasÖkonomische hat nicht die erwartete Eigengesetzlichkeit entfalten können, und zwar aus dem einfachen Grund, weil dieses eine ideologische Abstraktion ist – Ökonomie ist ursprünglich und wesensmäßig mit Macht- und Herrschaftsfunktionen verbunden, und diese sind das Existenzfeld des Politischen. Die Konzentration des Politischen im Staat und die scharfe Trennung von Staat und Gesellschaft ist selbst ein konstitutives Merkmal des klassischen Liberalismus, welches dievorbürgerliche aristokratische Standesgesellschaft mit ihren dispersen politischen Machtzentren nicht gekannt hatte.

Die angeblich wesensgemäße Staatsfeindlichkeit des Liberalismus ist also eine Legende, die erst in Reaktion auf den sozialpolitischen Ausbau des Staates entstanden ist; bei jeder mittleren Krise wird diese Legende ja auch sehr rasch vergessen. Aufstieg des modernen Staates und Aufstieg des liberalen Bürgertums liefen jahrhundertelang parallel zueinander, und der Sieg des liberalen Bürgertums über das Ancien régime hat keine Abschwächung des Staates, sondern im Gegenteil dessen Ausbauund Vervollkommnungnach sich gezogen. Ebenso eine Legende ist es, dass der Liberalismus eine Freiheit der Sitten realisiert oder auch nur gefordert hätte, ganz im Gegenteil. Die Freiheit, die er meinte, war dieAbschaffung von Adelsprärogativen, war politische Selbstbestimmung des Bürgertums als sozioökonomische Klasse mittels eines an Besitz gebundenen Zensuswahlrechts in einem parlamentarischen System, war Handels- und Gewerbefreiheit des akkumulierenden Bürgertums, nicht die Lockerung der Sitten. Historisch ist das Bürgertum sogar im Zuge einer ungeheuren, in der Geschichte beispiellosen Moralisierungskampagne an die Macht gekommen, mit der sie den Adel wegen dessen angeblich verderbter Sitten alsherrschende Klasse politisch delegitimierte. Die Hochzeit des Liberalismus war in seinemMutterland England auch die Zeit des Viktorianismus und seiner ebenso strengen wie halbierten Moral, denn sie war auch die Blütezeit des europäischen Kolonialismus.

„Zwischen 1759 (als das Wort normal aufkommt) und 1834 (als normalisieren in Gebrauch kommt) hat eine normative Klasse dieMacht erobert. Man kann durchaus sagen, dass die Bourgeoisie die Sprache zur selben Zeit annektierte, als sie sich die Produktionsinstrumente aneignete“, schreibt George Canguilhem in seiner Studie „Das Normale und das Pathologische“, einer Untersuchung der parallel zur Moralisierung sich entwickelnden Normierung und Disziplinierung der bürgerlich-liberalen Gesellschaft.

In der postbürgerlichen Massendemokratie, die auf ihre moralische Permissivität sich so viel zugutehält, ist diese Tendenz zur Normierung und Disziplinierung nicht verschwunden, sondern sie ist im Gegenteil bis in die Kapillaren des sozialen Lebens eingedrungen und erfasst selbst die Sprache und die Gedanken der Individuen. Anders als im Hochliberalismus geht es aber nicht mehr umöffentliche Tugenden, denen ein privaterRaum staatlich respektierter Freiheit gegenübersteht, sondern es geht um private Vorlieben und Laster, Ideen, Meinungen und Idiosynkrasien der in der Masse vereinzelten Individuen selber, denen in der massenmedial durchdrungenen und elektronisch ausgeleuchteten Lebenswelt kein Arkanbereich mehr bleibt. Dabei ist es gerade die Erosion dessen, was Hegel einmal „substanzielle Sittlichkeit“ nannte, d.h. die Erosion tradierter Formen des Benehmens im öffentlichen Raum und des respektvollen Umgangs mit sich selber, welche die explizite, sanktionsbewährte Mikronormierung des Alltagslebens hervortreibt, die dann nach ihrer eigenen Logik in immer feinere Kanäle sich verzweigt: Die libertären Swingerhelden desKonsums, die heute daskulturelle Leitbild unddas medial vermittelte moralische Rolemodelabgeben, tanzen nacheiner sorgfältig insze-
nierten Choreografie undwerden dabei von einem immer ausgefeilterenBeobachtungs- und Datenspeicherungsapparatkontrolliert; schließlichmuss gerade der moralisch permissive und als egalitär propagierte Hedonismus einer auf Political Correctness getrimmten Spaßgesellschaft penibelst reglementiert sein, soll der ganze Laden nicht anomisch werden. Dersozialpsycholologisch aufgeklärte Überwachungsstaat kollaboriert dabei engstens mit den pädagogischen und therapeutischen Betreuungsbedürfnissen der ihm unterworfenen Individuen, was zu einer verdichteten wechselseitigen Sozialkontrolle und moralischen Aufwertung des Sykophanten, andererseits zum Ausfransen der erst vom klassischen Liberalismus scharf gezogenen Grenze zwischen Staat und Gesellschaft führt: Die dumme Phrase der 68er-Bewegung „Das Private ist politisch“ benennt heute eine ebenso banale wie bedrückende Realität.

Das alles geschieht im Namen der Sicherheit, der Gesundheit und der Egalität in ei- ner sogenannten „Risikogesellschaft“ (UlrichBeck), die in Wahrheit so sicher und gesund ist wie noch keine zuvor und in der nichts und niemand mehr „diskriminiert“, d. h. von anderen unterschieden werden darf. Das solcherart politisch korrekt aller kultureller, ideeller und Gender-Attribute entkleidete, d. h. auf sein rein biologisches Substrat reduzierte und deshalb sozial nicht mehr „diskriminierbare“ Individuum ohne gefährliche Laster ist dann das ideale Substrat fürsorglicher Biopolitik. Es lebt sozialverträglich, ganz wie Rorty es wollte, distanzlos und freundlich, mit anglischem Lächeln stets um den Nächsten bekümmert, ohne vertikale (d. h. religiös-metaphysische) und ohne horizontale (d. h. politisch-historische) Transzendenz seinen asketischen Hedonismus nach einem genau kalkulierten Ernährungsplan, und NietzschesVision vom „letzten Menschen“ wird wahr. Der aber lebt, wie gesagt, am längsten. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.03.2011)

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