Das B-Wort

(c) Clemens Fabry
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Bildung ist ein schönes Ideal – aber kein Ideal unserer Gesellschaft. Bildung ist eine notwendige Voraussetzung – aber keiner weiß, wofür. Bildung ist eine stete Notwendigkeit – aber man kommt ohne sie aus. Über Bildung, Bildungspolitik und Bildungsmisere.

Diskussionen über Bildungspolitiksind heute Diskussionen über die Misere der Bildungseinrichtungen. Davon ausgehend, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man macht Schluss mit der Misere, oder man macht gleich Schluss mit Bildungspolitik. Dafür, alle Anstrengungen zu unternehmen, um die Misere zu beenden, scheint es sehr gute Gründe zu geben, das Problem ist nur, dass sie offenbar nicht gut genug sind, um ausreichend große Teile der Öffentlichkeit, geschweige denn die politisch Verantwortlichen zu überzeugen. Umgekehrt mehren sich die Anzeichen, dass alle Bildungspolitik nur noch der Versuch ist, sich im Anschein von Geschäftigkeit selbst abzuschaffen. Und auch dafür muss es Gründe geben. Selbst wenn sie noch niemand ausgesprochen hat, vielleicht weil sie niemandem in aller Konsequenz bewusst sind – diese Gründe sind tatsächlich objektiv vorhanden, sie sind konstitutiv für unsere Vorstellung von Gesellschaft und für unsere Organisationsform der Gesellschaft, und sie produzieren eine gesellschaftliche Dynamik, die mit einiger Konsequenz zur Verwahrlosung der öffentlichenBildungsinstitutionen führen musste und zur Abschaffung der Demokratie führen wird. Die drei wichtigsten Gründe sind:

>Bildung ist ein schönes Ideal, aber kein Ideal unserer Gesellschaft.

>Bildung ist eine notwendige Voraussetzung, aber keiner weiß, wofür.

>Bildung ist eine stete Notwendigkeit, aber man kommt ohne sie aus.

Bildung als Ideal ist ein historisches Phänomen. Es entstand zwar am Beginn der Moderne, also zur Zeit der Grundlegung unseres Verständnisses von Welt und gesellschaftlicher Organisation. Aber es hat im Lauf der Entwicklung Brüche gegeben, die dazu geführt haben, dass das Bildungsideal im öffentlichen und allgemeinen Verständnis heute so fremd und unpraktisch erscheintwie der mechanische Webstuhl. (Und es ist, nebenbei bemerkt, ein eigentümliches Symptom unserer brüchigen Welt, dass die Arbeitsbedingungen von Menschen, die zum Beispiel in einem Call-Center an Computern sitzen, mehr strukturelle Ähnlichkeiten zu den Arbeitsbedingungen von Webern aufweisen als die heutigen Ideale mit den damaligen.) Bildung war zunächst der Anspruch, dem Menschen, der nach Gottes Ebenbild geschaffen ist, dazu zu verhelfen, dieser Ähnlichkeit durch die Höherentwicklung sei-
ner Gaben näherzukommen. Das Ideal warGott. Das Bildungsideal war der konkrete Anspruch, sich diesem Ideal zu nähern und die eigene menschliche Gottähnlichkeit zu beweisen.

Dann kam es zumersten Bruch, es war imGrunde eine Revolution des menschlichen Geistes: Das Bildungsidealwurde säkularisiert. Mit der Religionskritik, dem Anspruch, sich seines Verstandes ohne Anleitung anderer zu bedienen und sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, und schließlich mit der Diagnose vom Tod Gottes wurde Bildung zum Anspruch, sich nicht mehr als Abbild Gottes, sondern als Mensch zu vervollkommnen. Nun wurde das Bildungsideal zum konkreten Anspruch, ein Idealbild des Menschen zu entwerfen undalle Möglichkeiten des Menschen als Mensch zu entwickeln.

So vernünftig die Säkularisierung der Bildung auch war, nun fehlte nur noch ein kleiner Schritt, um sich nach der Befreiung von einem absoluten Geist vom Geist überhaupt zu befreien. Der zweite große Bruch, nach der Säkularisierung, war die Materialisierung des Bildungsideals. Der Mensch ist, das bewiesen die modernen Naturwissenschaften, im Grunde eine chemische Maschine, sowohl seine Muskeln als auch sein Geist funktionieren in Hinblick auf bestimmte Aufgaben besser durch ganz bestimmte Inputs und nicht durch Fütterung mit allgemeinem Geist, also etwas Abstraktem, das weder materiell unmittelbar verwertet werden kann noch auf allgemein durchsetzbare Weise der Muße dient, in der die Arbeitskraft wieder hergestellt wird und also dann wieder der unmittelbaren Verwertbarkeit dient.

Nun wurde das Ideal der Körper – ein bloßes Gefäß, in das Fachwissen genauso eingefüllt werden kann wie eine stärkereBauchmuskulatur. Auf diesem Stand der Entwicklung materialisierte sich das Bildungsideal in zwei Institutionen, die als Erste den alten bildungspolitischen Anspruch erfüllten, für möglichst alle möglichst barrierefrei zugänglich zu sein: die Fachhochschule und das Fitness-Center. Das sind nachdem Bruch die beiden Bruchstücke, die vomuniversalen Bildungsideal übrig blieben: Ausbildung und Bodybuilding.

Es ist klar, dass mit zunehmender Arbeitsteilung und sozialer Ausdifferenzierung irgendwannein ganzheitlicher Bildungsanspruch auf der Strecke bleiben musste. Die Bildung des Körpers aber, im Sinne von Herstellung der körperlichen Fitness und Bewahrung oder Wiederherstellung von Gesundheit, ist zum letzten universalen Anspruch des Menschen geworden, der als Mensch an sich arbeitet. Humboldts Satz „Arbeite an dir selbst!“ hängt gerahmt in der Toilette des Fitness-Centers, aus dem ich ausgetreten bin.

Unbesehen seiner Herkunft, seiner Talente, seiner Absichten, Möglichkeiten, Tätigkeiten – das Ideal, das Voraussetzung ebenso ist wie Ziel, ist der gesunde Mensch, ist Fitness, um seinen Platz in der Gesellschaft erkämpfen und verteidigen zu können. Es ist die Fitness, die ausreichendes Fachwissen schlagend macht.

„Der grüne Heinrich“, dieser schöne klassische Bildungsroman, wäre nach 30 Seiten zu Ende gewesen, wenn eine Lehre oder Fachausbildung und ein bisschen Körpertraining ausgereicht hätten, dass der Junge seine Talente erkennt, sich als Mensch entfaltet, seine Möglichkeiten ausprobiert und neue erobert, soziale Einsichten gewinnt, Fertigkeiten entwickelt und schließlich seinen vernünftigen Platz in der Gesellschaft findet.

Der säkularisierte Bildungsbegriff hatte auf Freiheit abgezielt. Der Anspruch, sein Leben durch die Herausbildung und Erweiterung all seiner menschlichen Möglichkeiten selbst in die Hand nehmen zu können, kann gar nicht anders interpretiert werden. Eben deshalb musste dieses Ideal schließlich in mehr oder weniger großen, aber doch deutlichen Widerspruch zu Politik und Staatsräson kommen. Der Erste, der das in seiner doppelten Identität als Künstler und Minister deutlich gesehen hat, war Goethe: „Es hat etwas Vertracktes mit dem Wissen. Gibt man es wenigen, befördert man den Staat, gibt man es vielen, befördert man die Freiheit.“

Damit sind wir beim zweiten Punkt: Bildung ist eine notwendige Voraussetzung,aber keiner weiß, wofür. Oder meinen Sie es doch zu wissen? Es ist gerade angesprochen worden: Bildung ist eine notwendige Voraussetzung für Freiheit. Das ist eben die schöne Dynamik, die im klassischen Bildungsbegriff steckt. Aber wie weit wir diesen Bildungsbegriff zurückgelassen und durch funktionale Derivate von Wissen ersetzt haben, kann jeder für sich selbst durch die Beantwortung einiger kleiner Fragen erkennen: Wollen Sie das wirklich, eine Freiheit, die nach Goethe notwendig in steten Konflikt mit der Staatsräson, dem politischen System und seinen Repräsentanten kommen muss?

Selbst wenn Sie das wollten, wie weit würden Sie in Ihrer Opposition gehen? So weit, wie es Ihre Menschenbildung, Ihr sich entfaltendes Wissen und Gewissen fordern, oder so weit, wie es Ihr sozialer Zusammenhalt, Ihr Job und auf jeden Fall das Strafgesetzbuch erlauben? Bis zu welchem Punkt sprechen Sie in Hinblick auf das Erlaubte von Freiheit? Erleben Sie nicht gegenwärtig, dass es just Menschen aus bildungsfernen Schichten, virtuelle Analphabeten, Rassisten und kulturfeindliche autoritäre Charaktere sind, die heute diesen „Job“übernommen haben, auf vielfältige Weise steten Widerspruch zu formulieren, gegen „die da oben“, „die in Brüssel“, „die in ihrenElfenbeintürmen“ und so weiter? Natürlich ist Ihnen klar, dass dieser Widerspruch nicht auf Freiheit abzielt. Fürchten Sie, dass Ihr Widerspruch, wenn Sie ihn konsequent formulieren, mit dem Widerspruch der Ungebildeten verwechselt werden könnte? Wenn nicht: Glauben Sie im Ernst, dass Sie, wenn Sie den Unterschied herausarbeiten, noch die Zustimmung dieser Menschen, die immerhin ein Drittel unserer Gesellschaft ausmachen, bekommen würden? Mit anderen Worten: Ist Ihnen klar, dass Sie sofort in Widerspruch zum Widerspruch geraten würden? Glauben Sie, dass es möglich ist, diesem Drittel der Gesellschaft Bildung als Anspruch sozusagen „zu verkaufen“? Noch dazu mit dem Argument, Bildung sei die Voraussetzung für Freiheit? Haben Sie eine Vorstellung davon, was Sie dann zu hören bekommen?

Hier sind wir an einem interessanten Punkt angelangt, der zeigt, wie sehr Bildung als Begriff und Anspruch in Derivate zerfallen ist und warum sie als Voraussetzung nicht mehr verstanden wird: Alles, was Bildung einst versprach, scheint heute eingelöst – aber nicht durch Bildung. Freiheit? Noch der Dümmste wird die Frage, ob er in Freiheit lebt, mit Ja beantworten. Was ihm schon alleine durch die Meinungsfreiheit verbürgt erscheint, also durch die Freiheit, in seiner Freizeit seine Meinung sagen zu können, ohne Sanktionen fürchten zu müssen. Hegels Satz „Eine Meinung ist mein und kann ich genauso gut für mich behalten“ wird ihn darin nicht beirren. Und wo er Freiheit nicht hat oder sich nicht herausnehmen kann,wird er es als individuelles Versagen ineinem System empfinden, das grundsätzlich aber seine Freiheit garantiert und schützt. Bessere Lebenschancen? Die wird er eher von Ausbildung denn von Bildung erwarten. Menschlichkeit? Licht ins Dunkel! Spendenweltmeister! Tendenziell nicht entfremdete Tätigkeit? Freizeit! Sinn? Konsum! Anerkennung? Kann man sich durch Überanpassung genauso wie durch Herstellung von Abhängigkeitsverhältnissen verschaffen. Am besten durch beides.

So kann man das durchgehen. Ja, Bildung ist eine universale Voraussetzung, aber im Einzelnen weiß keiner, wofür. Weil immerschon etwas anderes genau das, was die Bildung versprach, eingelöst zu haben scheint.

Wenn Sie also Bildung nicht autoritär verordnen wollen – was ein Widerspruch in sich wäre –, sondern auf eine gesellschaftliche und politische Mehrheit hoffen, durch die der Anspruch durchgesetzt werden kann, die Bildungsmisere zu beenden und das Bildungssystem so auszubauen, dass es diesen Namen verdient und jedem Menschen ohne Barrieren Zugang zu der Möglichkeit gibt, nicht nur einen Beruf zu erlernen, sondern all seine Anlagen zu entwickeln, dann stehen die Chancen schlecht. Die Politik kann kein Interesse daran haben – wir haben gesehen, warum. Und die Menschen, die in einer Demokratie die Möglichkeit hätten, in ausreichender Anzahl Druck auf die politischen Repräsentanten auszuüben, sehen keine Notwendigkeit und sind nicht daran interessiert – wir haben gesehen, warum. Vorhergesehen hat dies übrigens ein Philosoph, der an der Wiege derAufklärung stand, nämlich Descartes: Die Menschen, schrieb er, wollen alles Mögliche vermehren, weil ihnen nicht genügt, was sie haben, der Verstand aber ist daseinzige knappe Gut, von dem jedermann meint, ausreichend davon zu besitzen. – Das ist, nach einem langen und verschlungenenWeg, den die Aufklärung genommen hat, die Situation. Ein Drittel der Gesellschaft versteht den Anspruch des Bildungsideals nicht. Und es ist eine der trostlosesten Erfahrungstatsachen, dass nichts so schwierig ist, wie einem Ungebildeten die Notwendigkeit von Bildung zu erklären. Die Hälfte der Gesellschaft trägt die Hauptlast für das gesamte gesellschaftliche und wirtschaftliche Funktionieren, alleine kraft der Ausbildung, die sie erhalten hat, alles darüber hinaus ist „Hobby“. Der Rest hatte Bildungschancen, diese Menschen haben sich durch Titel verbriefen lassen, dass sie ihre Möglichkei-
ten einigermaßen wahrgenommen haben, konnten dadurch Privilegien erwerben und haben nun mehrheitlich nicht das geringste Interesse daran, diese in eine allgemeine gesellschaftliche Möglichkeit zu verwandeln, sondern nur daran, sie ihren Kindern zu vererben.

Damit sind wir beim dritten Punkt angelangt: Bildung ist eine stete Notwendigkeit,aber kein gesamtgesellschaftlicher Anspruch mehr – man kommt ohne sie aus. Bildung wurde zu Beginn der Aufklärung als Voraussetzung definiert, um Freiheit erkämpfen zu können und zu politischer Partizipation imstande zu sein. Diese Voraussetzung, sollte man glauben, bleibt ewig gültig. Sie wäre also eine stete Notwendigkeit. Ohne sie kann man nicht verteidigen, geschweige denn ausbauen, was an Freiheit errungen wurde. Freiheit als politische Organisationsform, also die Garantie von Freiheit auf der Basis von Grundrechten, Verfahrensregeln und ihrer Kontrolle, heißt Demokratie. Aber die errungene Demokratie, in den Formen, in denen wir sie kennen, hat sich offensichtlich von dieserNotwendigkeit befreit.Die Geschichte als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit ist bei einer Freiheit angelangt, die gegeben erscheint, daher keine weitere geistige Anstrengung erfordert, und bei einem Fortschrittsbegriff, der durch den technologischen Fortschritt definiert wird. Nehmen Sie der Gesellschaft den Internetzugang, und Sie haben Massenproteste und eine Bürgerbewegung. Zerstören Sie die Universitäten, und Sie haben ein paar Wochen lang einen besetzten Hörsaal. Natürlich haben die Studenten, die den Hörsaal besetzen, begriffen, was stete Notwendigkeit von Demokratie ist. Aber alle anderen haben eben die Erfahrung, dass die Gesellschaft auch ohne diese Notwendigkeit im Bewusstsein von Freiheit leben kann und dabei einigermaßen funktioniert. Das heißt: Erwiesen ist, dass das Freiheitsgefühl der Menschen nicht mehr von Bildung abhängt, dass für die Verteidigung der Freiheit und den Ausbau der Freiheit Bildung nicht mehr als stete Voraussetzung angesehen wird.

Wenn man Demokratie ernst nimmt, dann muss man eben auch dies zur Kenntnis nehmen: Es kann keinen politischen Willen für eine Bildungsoffensive geben, wo gesellschaftlich keine Notwendigkeit dafür gesehen wird. Wozu also Bildungspolitik? Es gibt niemanden, der meint, sich seines Verstandes nicht bedienen zu können, ihn nicht in ausreichendem Maße zu besitzen, seine Meinung nicht sagen zu dürfen.

Freiheit ist eben zweifellos auch die Freiheit zur Dummheit. Übersetzt man Freiheit in die Kategorie politischer Organisation, dann erhält man allerdings die gegenteilige Gewissheit: Es kann keine Demokratie von Idioten geben. Denn politische Partizipation setzt notwendig den freien, gebildeten Menschen voraus. Da tut sich ein Spalt auf, in dem das, worüber wir reden, während wir darüber reden, verschwindet: Freiheit, Bildung und auf jeden Fall Bildungspolitik. Es wird ererbter Reichtum nicht vermehrt, es wird dessen ungerechte Verteilung verwaltet: Dieallgemeine Schulpflicht war einst eine Revolution. Heute ist die Schule eine Institution zur ungerechten Verteilung von Bildungschancen.Die Universitäten, einst Zentren freier Forschungund Lehre, mussten die Umwandlung ihrer Freiheit in eine Autonomie hinnehmen, die sie von Sponsoren abhängig macht, also von den Interessen und Gelüsten finanzstarker Unternehmen. Die Universität ist heute eine Institution zur Frustrierung von Bildungsanspruch geworden, die Kinder von Juristen sollen Juristen, die Kinder von Ärzten wieder Ärzte werden, und Bildungshungrige werden Arbeitslose.

Das ist am Stand der Dinge demokratischer Common Sense.

Könnte man erheben, welche klugen Definitionen oder Sätze über Demokratie am häufigsten von den dümmsten Menschen zitiert werden, dann würde – davon bin ich überzeugt – Winston Churchills Aperçu ganz vorne im Ranking aufscheinen. Wenn man es über Google überprüft, dann scheint es jedenfalls an erster Stelle auf. Auf Deutsch in abweichenden Formulierungen, am weitaus häufigsten ist folgende: „Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.“

Das ist erstens deshalb interessant, weil Demokratie keine „Staatsform“ ist. Staatsformen sind Monarchie, Republik, Militärdiktatur und so weiter. Demokratie ist eine Regierungsform. Eine Monarchie kann eine Demokratie sein, wie Großbritannien, eine Republikmuss keine Demokratie sein, wie Österreich nach der Ausschaltung des Parlaments 1933 durch Dollfuß. Sogar eine Militärdiktatur kann demokratisch sein, wie Brasilien am Ende der Abertura oder Portugal nach der Nelkenrevolution. Das ist zweitens deshalb interessant, weil Churchill nie „Staatsform“ gesagt hat, sondern „government“. Nun kann ei- ne falsche Übersetzung passieren, aber dass sie sich dermaßen umfassend durchsetzt, sagt etwas über das Bewusstsein der Rezipienten aus,dann ist der unwidersprochene Glaube, dass Demokratie eine „Staatsform“ sei, verräterisch: Wenn Demokratie nicht erkämpft wurde und nicht verteidigt wird, wenn Bildung und Wissen nicht als Ideal, als Voraussetzung und als Notwendigkeit angesehen werden, dann erwartet man eben mehr vom Staat als von eigener politischer Partizipation.

Dann ist dieser Satz auch deshalb interessant, weil er auf eine sehr bezeichnende Weise regelmäßig missbraucht wird, nämlich als Einladung, das Schlechteste des Wünschenswerten bereits als das Beste anzusehen. Wer dazu nickt, hat schon verloren. Es nicken, was demokratiepolitisch besorgniserregend ist, fast alle. Das ist aber nur möglich, wenn Demokratie all das nicht mehr ist, was sie sein sollte: Ideal, Voraussetzung, Notwendigkeit. Im gesellschaftlichen Spiel ist Bildung die Analyse der Spielregeln. An diesem Punkt der Demokratie, die sich durch Nicken zu einem grotesk falsch übersetzten Satz bestätigt fühlt, ist Bildung bereits vom Spiel ausgeschlossen.

Und dies ist schließlich auch deshalb interessant, weil es zeigt, dass nicht nur freie Gesellschaften in geistloser Praxis, sondern sogar kluge Gedanken durch geistlosen Gebrauch verdummen können. Heute ist Churchills Satz, der seinerzeit eine kluge Aufmunterung war, in die Demokratie zu vertrauen, ein Skandal der Dummheit. Heute ist er eine Beruhigungspille für ohnehin Apathische. Statt das Schlechteste des Wünschenswerten zu verbessern, soll noch zur Verschlechterung des Schlechten mit Kennermiene genickt werden.

Das nur als Beispiel.

Wenn ich über den Zustand dessen nachdenke, was wir Demokratie nennen, dann möchte ich lieber Demokratie erst erkämpfen müssen, als in dieser zu leben. Stimmt das wirklich? Ich weiß es nicht, mein Nichtwissen ist der Antrieb dessen, was ich schreibe, was ich schreibend an Gedanken verfertigen und diskutieren will – aber irgendetwas muss in der Dynamik zwischen der Erinnerung an Hoffnungen und dem Erleben von Frustrationen stark genug gewesen sein, dass dieser Satz geschrieben werden wollte. Vielleicht ist er auch nur der Hinweis auf deren Synthese: Wir leben in einer Demokratie, die wir erst erkämpfen müssen.

Das ist, nach all dem Gesagten, tröstlich, weil es noch einiges offen lässt. Wir erleben derzeit, noch viel zu wenig diskutiert, die Aufhebung der Demokratien der Nationalstaaten in einem nachnationalen Prozess, im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft. Die supranationale Demokratie muss erst erfunden und – ja – erkämpft werden.

Und wenn ich Sie doch allzu sehr frustriert haben sollte, dann möchte ich Ihnen zum Schluss ein schlagendes Argument mitgeben, einen Satz, der, von einem großen Dichter formuliert, hinweghilft über viele Frustrationen und nicht widerlegt werden kann, auch wenn er nicht ganz wahr ist, weil man auch diesen Satz nie am Moment messen darf, sondern als Prozess begreifen muss, und auf jeden Fall wird er wahr, wenn Sie ihn wiederholen, immer wieder, bei jeder Gelegenheit wiederholen. Der Satz stammt von Fernando Pessoa und lautet:

„Es gibt kein Glück ohne Wissen.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.04.2011)

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