Mehr als ein paar Masten

In der Nacht vom 11. auf den 12. Juni 1961 wird Südtirol von Bombenexplosionen erschüttert. Der „Befreiungsausschuss Südtirol“ will auf die Probleme der Südtiroler Minderheit in Italien aufmerksam machen. Vor 50 Jahren: die Feuernacht. Zeitzeugen erinnern sich.

Zwölfter Juni 1961, Herz-Jesu-Nacht. Rosa Innerhofer wird durch Detonationen aus dem Schlaf gerissen. Ein Blick aus dem Fenster: Der Talkessel ist für kurze Zeit hell erleuchtet. Am nächsten Tag wird die Bäuerin erfahren, dass in dieser Nacht in ganz Südtirol 37 Strommasten gesprengt wurden. Die junge Frau ahnt nicht, dass ihr Mann, Sepp Innerhofer, einer der Urheber der Attentatswelle ist, die als „Feuernacht“ in die Geschichte eingehen wird.

„Der große Schlag war für die Italiener der große Schock“, sagt der ehemalige ORF- Generalintendant Gerd Bacher heute. „Von dem Augenblick an wussten sie, jetzt wird's ernst!“ In der Nacht vom 11. auf den 12. Juni 1961 erschüttert eine Welle von Explosionen das kleine Land südlich des Brenners. Der „Befreiungsausschuss Südtirol“, kurz BAS genannt, will mit einem gewaltigen Schlag die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Probleme der Südtiroler Minderheit in Italien lenken.

Seit dem Ende des Ersten Weltkrieges gehört der südliche Teil Tirols zu Italien: der Lohn für den Kriegseintritt Italiens auf Seiten der Entente. In den Jahren der faschistischen Unterdrückung soll die zu 98 Prozent deutschsprachige Bevölkerung rigoros italianisiert werden. Das Leid der Südtiroler gipfelt in der sogenannten Option: Ein Abkommen zwischen den Hitler und Mussolini zwingt sie, sich zwischen dem Verbleib in der italianisierten Heimat und einer ungewissen Zukunft im Deutschen Reich zu entscheiden. Zwischen 1939 und 1943 verlassen 75.000 Menschen das Land; nach 1945 kehrt etwa ein Drittel der „Optanten“ zurück.

Über die Gräben der Option hinweg gründen ehemalige „Dableiber“ und „Optanten“ 1945 die Südtiroler Volkspartei. Als auch 155.000 im Geheimen gesammelte Unterschriften nicht die Vereinigung Tirols bewirken können, entlädt sich die Enttäuschungeiniger Südtiroler in vereinzelten Anschlägen. Auf Druck der Alliierten unterzeichnen der österreichische Außenminister Gruber und der italienische Außenminister De Gasperi ein Übereinkommen: Im Pariser Vertrag werden Bestimmungen zum Schutz der Südtiroler festgelegt – sie sollen Sprache und kulturelle Eigenständigkeit bewahren können. In diesem Abkommen wird Österreich als Schutzmacht Südtirols anerkannt.

Durch die Schaffung der Region Trentino/Alto Adige wird Südtirol jedoch eine echte Autonomie vorenthalten, da die Italiener in der neu geschaffenen Region nun die Mehrheit stellen. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, sich gegen die italienische Politik wehren zu müssen. Der „Befreiungsausschuss Südtirol“ wird gegründet. Der Name ist Programm: Ziel ist die Rückgliederung Südtirols an Österreich. Anfangs sind die Mittel moderat: Flugblätter werden verfasst, Briefe geschrieben, Reden gehalten. Sepp Mitterhofer weiß genau, warum er sich dem BAS angeschlossen hat: „Ich war der festen Überzeugung, dass etwas geschehen muss. Wir können uns nicht ewig tyrannisieren lassen.“

Umberto Gandini, damals junger Journalist, bestätigt diese Einschätzung: „Es war die typische Politik einer kolonialen Macht, würde man heute sagen. Wir waren eine Besatzungsmacht in einem Land, das aus nationalistischen und auch defensiven Zwecken annektiert worden war.“ Die italienische Regierung bemüht sich gezielt, den Anteil der italienischsprachigen Bevölkerung in Südtirol zu steigern. Mit der Errichtung von Industrieanlagen und sogenannten Volkswohnbauten sollen Italiener ins Land geholt werden. Viele Südtiroler bedrückt die Situation in ihrer Heimat. Vor allem die Abwanderung der Jugend, die weder beim italienischen Staat noch in den italienischen Industriebetrieben Arbeit findet, wird als katastrophal empfunden: „Wir sind immer weniger geworden und die anderen immer mehr“, fasst Sepp Mitterhofer zusammen. Nachsatz: „Es musste etwas geschehen.“

Zum inneren Kreis des BAS gehören auf Südtiroler Seite Sepp Innerhofer, Luis Amplatz und Jörg Klotz. Sepp Kerschbaumer, Kaufmann aus Frangart, ist ihr Anführer. Auf Nordtiroler Seite sind Wolfgang Pfaundler, Heinrich Klier, Kurt Welser und das Ehepaar Molling wichtige Protagonisten. Die Medienmacher Fritz Molden und Gerd Bacher bilden (anfangs) das „politische Komitee“ des BAS. Kurt Welser und Herlinde Molling entfalten eine rege Reisetätigkeit nach Südtirol. Insgesamt werden (gemeinsam mit anderen BAS-Aktivisten) mehrere Tonnen Sprengstoff, hauptsächlich Donarit, und Hunderte Sprengkapseln und Zeitzünder illegal nach Südtirol gebracht. Die Beschaffung solcher Mengen an Material erfordert nicht nur risikofreudige Schmuggler, sondern zunächst auch spendierfreudige Finanziers. Fritz Molden lässt sich seine Leidenschaft für Südtirol – wie er im Gespräch selbst unumwunden zugibt – einiges kosten. Bei aller Großzügigkeit ist es nicht denkbar, dass der ganze Aufwand aus einer einzigen Kasse bestritten wurde. Gesichert ist jedenfalls, dass die notwendigen finanziellen Mittel zum größten Teil aus Österreich kamen.

Da die langjährigen österreichischen Bemühungen um eine Lösung des Problems ins Leere gehen, sieht sich Außenminister Bruno Kreisky 1960 gezwungen, die Südtirolfrage durch die Anrufung der Vereinten Nationen zu internationalisieren. Der ehemalige Kabinettschef des Außenministers, Peter Jankowitsch, erinnert sich: „Dann wurde die erste UNO-Resolution beschlossen. Deren wichtigste Botschaft war: Es ist ein internationales Problem, Italien muss verhandeln. Es muss etwas geschehen.“ Der Erfolg der österreichischen UNO-Bemühungen stellt die Widerstandsgruppe vor eine schwierige Frage: Losschlagen oder abwarten. Schließlich setzt sich die Gruppe um Sepp Kerschbaumer gegen das „politische Komitee“ durch. In Südtirol ist man am Ende der Geduld.

1961 explodieren in Südtirol die ersten faschistischen Denkmäler. Den „Aluminium-Duce“ in Waidbruck „hat's in tausend Fetzen zerrissen“. Das freut das Nordtiroler BAS-Mitglied Heinrich Klier noch heute. Die Scherben des Mussolini-Abbildes werden als Andenken gesammelt. „Dem Kreisky haben wir auch ein Stück geschickt“, erzählt Sepp Innerhofer. Kreisky istdurchaus über die Aktivitäten in Südtirol informiert. Wenige Wochen zuvor hat er eine Delegation des BAS in seiner Wiener Wohnung empfangen. Da plant derBAS bereits den großen Schlag: In einer einzigen Nacht soll die Stromversorgung der oberitalienischen Industrie gekappt werden.

Die Unterstützung aus Nordtirol ist dafür entscheidend. Eine Reisegesellschaft, bestehend aus 25 bis 30 Personen, unternimmt eine „Kunstreise“ nach Verona. Die Tarnung ist perfekt. Man fährt mit einem gemieteten Bus, hat sogar eigens Programme drucken lassen: „Pro arte et musica“ steht darauf zu lesen.

Die Bilanz der „Feuernacht“: 37 Hochspannungsmasten werden zerstört, etliche beschädigt. In einigen Gebieten Südtirols bricht die Stromversorgung zusammen; auch die Versorgung der oberitalienischen Industriegebiete wird beeinträchtigt. Der Südtiroler Journalist Hans Karl Peterlini fasst zusammen: „Es war so geplant, dass es dauernd irgendwo kracht. Drei, vier Stunden Donnergrollen in Südtirol. Polizei und Militär waren regelrecht eingeschüchtert. Die haben sich in die Kasernen zurückgezogen, weil sie nicht wussten, was los ist, und geglaubt haben, der Krieg bricht aus.“ Trotz der Devise, keine Menschenleben zu gefährden, gibt es ein Todesopfer: Der Straßenwärter Giovanni Postal stirbt bei dem Versuch, eine Sprengladung zu entfernen. Es ist ein Unfall, doch das tröstet die Hinterbliebenen nicht. Postal bleibt nicht der letzte Tote in diesem Konflikt.

Eine noch immer nicht restlos geklärte Frage: die Rolle der österreichischen Bundesregierung und speziell des damaligen Außenministers im Zusammenhang mit den BAS-Anschlägen. Hat Bruno Kreisky von den Anschlagsplänen gewusst? Musste er davon wissen? Hat er die Sprengstoffattentate gar stillschweigend in Kauf genommen, um bei politischen Verhandlungen mit Italien Druck machen zu können? Dokumente, Briefe und Unterlagen belegen zumindest ein intensives Wissen über die Vorgänge in Südtirol. Die Staatsgewalt in Wien ahnte über zahlreiche Kanäle recht genau, was passieren würde.

Kreiskys Biograf, der Wiener Zeitgeschichteprofessor Oliver Rathkolb, stellt ein „In-Kauf-Nehmen“ durch den späteren Bundeskanzler in Abrede. Er betont, dass Kreisky „alles versucht hat, diese Gruppe – auch mit einigem politischem Risiko – von einer Eskalation zurückzuhalten“.

Fritz Molden ist anderer Ansicht: Er weiß von einer aussagekräftigen Anekdote zu berichten. Im Zuge des Forums Alpbach hätten seine Frau und er einen kleinen Empfang gegeben. Der spätere Tiroler Landeshauptmann Wallnöfer habe Kreisky angesprochen: „Wir hier in Tirol zersprageln uns für die Südtiroler, könnt ihr nicht auch ein bisschen mehr tun?“ Die unmissverständliche Antwort des Außenministers: „Ich hab schon vor Jahren gesagt, da waren alle bei mir: Auf ein paar Masten soll es nicht ankommen!“

Wie auch immer: Der Paukenschlag gelingt, die Öffentlichkeit ist aufgerüttelt. Doch der Preis ist hoch: Der italienische Staat schlägt zurück. 24.000 Soldaten und 10.000 Carabinieri verwandeln Südtirol in ein besetztes Land. „Ja“, sagt der damalige Polizist Vinicio Marcomeni ganz offen, „ich hatte Angst. Angst, dass es zu einem Aufstand kommt, dass es Tote gibt.“

Mitte Juli 1961 rollt eine Verhaftungswelle durch das Land. In den Carabinieri-Kasernen werden die Attentäter grausam gefoltert. Sie sollen Namen nennen. Einige schaffen es, selbst den schlimmsten Misshandlungen zu widerstehen. Auch Sepp Innerhofer. Als er nach sechstägiger Folter immer noch schweigt, holen die Carabinieri seine Frau und seinen jüngsten Sohn. Sie sollen sehen, was aus ihm geworden ist. Ihre Tränen sollen ihn zum Sprechen bringen.

Folter wird gezielt als Ermittlungsinstrument eingesetzt, freigegeben von Innenminister Scelba persönlich. BAS-Aktivist Josef Fontana erinnert sich noch genau daran, wie ihm bei Verhören die Ausweglosigkeit seiner Lage klargemacht wurde. Bei einem Treffen mit Carabinieri-Offizieren habe der Innenminister gesagt: „Wenn ihr diese Leute erwischt, könnt ihr mit ihnen machen, was ihr wollt.“

50 Jahre nach den Folterungen sucht der italienische Journalist Umberto Gandini nach Erklärungen: „Italiener und Südtiroler lebten so getrennt, dass es für die Polizei unglaublich schwer war, einen Südtiroler zu finden, der ihnen als Spitzel dienen konnte. Die einzige Möglichkeit waren Misshandlungen. Es sind Sachen vorgekommen, die eines zivilen Staates nicht würdig sind.“

Auch der ehemalige Carabiniere Giancarlo Zanotti weiß, dass damals Grenzen überschritten wurden. Der pensionierte Beamte weicht nicht aus: „Ich bezweifle die Folterungen nicht. Wenn es in einer Gruppe den Beschluss gibt, unter keinen Umständen zu reden, und Personen, gegen die es konkrete Beweise gibt, sich weigern, mit der Justiz zusammenzuarbeiten, dann kann so etwas passieren.“ Manche Attentäter werden ihr Leben lang unter Folterschäden leiden; zwei Südtiroler sterben im Gefängnis an den Folgen der Misshandlungen.

Der Konflikt eskaliert: Die wenigen BAS- Mitglieder, die sich noch auf freiem Fuß befinden, versuchen mit immer radikaleren Mitteln, Rom unter Druck zu setzen. Das Wissen um das Schicksal ihrer Kameraden lässt sie einen verzweifelten Kampf führen; Tote werden einkalkuliert. Italienische Sicherheitskräfte sterben bei Anschlägen.

Das Unvermögen der Politik eine friedliche Lösung zu finden, hat eine Gewaltspirale in Gang gesetzt. Freisprüche und Belobigungen für die Folterer im Trientiner Prozess einerseits und meist unverhältnismäßig hohe Haftstrafen für die BAS-Mitglieder in Mailand andererseits schüren den Hass der Attentäter und die Empörung der Bevölkerung. Sepp Kerschbaumer, der Anführer des BAS, stirbt 1964 in Haft. Um das internationale Ansehen zu wahren, geht Österreich seit 1961 exemplarisch gegen Südtirol-Aktivisten vor. Geschworenenprozesse enden jedoch mit Freisprüchen.

Italien reagiert nicht nur mit Härte auf die Feuernacht: Auf politischer Ebene wird die sogenannte 19er-Kommission, die sich mit der Reform des Autonomiestatuts befasst, eingesetzt. Mehr als 30 Jahre danach nimmt der Südtiroler Altlandeshauptmann Silvius Magnago in einer ORF-Debatte dazu Stellung: „Ich gebe auch zu: Wenn diese Taten nicht passiert wären, hätte es keine 19er-Kommission gegeben.“

1972 tritt das zweite Autonomiestatut in Kraft. Doch noch sind die Probleme des kleinen Landes weit davon entfernt, gelöst zu sein: Die Umsetzung des „Paktes“ wird 20 Jahre dauern. Erst 1992 gibt Österreich die Streitbeilegungserklärung vor den Vereinten Nationen ab. Seit den Neunzigerjahren ist scheinbar Ruhe in das kleine Land an Etsch und Eisack eingekehrt. Doch diese Ruhe ist leicht zu erschüttern: Emotionsgeladene Diskussionen um Themen wie faschistische Denkmäler, Ortsnamen und staatliche Einheitsfeiern zeigen, dass die Vergangenheit immer noch und immer wieder Einfluss auf die Gegenwart nimmt. Die einstigen Konflikte können jederzeit aufflackern.

Die Feuer der Feuernacht sind zwar erloschen, in der Asche glimmt aber auch nach einem halben Jahrhundert noch ein kleiner Funke. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2011)

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